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Kategorie Theorie

Texte über Patrick Frank

Über den schweizer Komponisten und Konzeptkünstler Patrick Frank habe ich hier schon geschrieben, aktuell sind in der Dissonance zwei sehr lesenswerte Texte über ihn von Michael Kunkel und Torsten Möller erschienen.

Snips:

Die Klage über «Kriterienlosigkeit», «Unübersichtlichkeit», «Orientierungslosigkeit» etc. hat sich in der Neuen Musik schon sehr lange als Topos etabliert, der verschiedene Probleme mit sich bringt: Zunächst jenes des «Früher-war-alles-besser», verbunden mit dem Glauben daran, dass aus einer geschichtlichen Situation heraus abstrahierte Werte zu früheren Zeiten Künstlern als Leitplanken ästhetischen Handelns dienten, als entstünden Werke im Abgelten jener Regelhaftigkeiten, die nachträglich aus ihnen abgeleitet werden können. Das Gefühl der geschichtlichen Benachteiligung mag frustrieren und zu künstlerischen Blockaden führen. Wenn man ernsthaft vorhat, sich in oben geschilderter Szene mittels Neuer Musik absolut unverwechselbar, verbindlich und charakteristisch zu positionieren, kann Komponieren zum Krampf werden. Es gibt aber immer mehr (relativ) junge Komponisten, die just aus diesem Dilemma ästhetisches Kapital schlagen, indem sie die Arbeit an der empfundenen aktuellen Notlage explizit zum Hauptgegenstand ihrer Kunst machen. Es handelt sich vielleicht um eine kleine Wiederauferstehung eines Musiktypus, der fast in Vergessenheit geraten war: Des engagierten Komponisten. Ein Merkmal von Engagement kann sein, wenn ein Komponist die Reflexion der gegenwärtigen Lage, möglicherweise auch ihre gesellschaftliche Bedingtheit aktiv in die künstlerische Arbeit mit einbezieht.

(Von Michael Kunkel. Dissonanz Nr. 116 Dezember 2011. PDF)

 

Kunst und Geld ist ein heikles Thema, dem sich Patrick N. Frank kritisch, zugleich transparent nähert. Was nun ist The Law of Quality? Zum einen ist es eine traditionell notierte Partitur für eine Sängerin und eine Pianistin. Der initialen Aufführungsvorschrift «mechanisch, gnadenlos» folgen dissonante Akkordrepetitionen in tiefer Lage.2 Nach 10 Takten wilden Hämmerns ertönt eine Sprechstimme:

«In 30 Sekunden erklangen 901 Töne; pro Sekunde also 30,03 Töne. – Meine Damen und Herren: Quantität ist Qualität! Doch Sie haben Recht, wenn Sie jetzt denken: Nur weil viele Töne erklingen, hat das Werk längst keine Qualität! Wir müssen dem Werk eine Wende geben, um seine Quantität und künstlerische Qualität zu steigern. Wolfgang Ullrich, ein Kulturwissenschaftler, stellte in seinem Text Marktkunst […] folgende These auf: Die Erhabenheit, einst in der Unermesslichkeit der Natur empfunden, taucht heute an einem wesentlich profa neren Ort wieder auf: In den unermesslich hohen Preisen, welche Kunstwerke erzielen. […] Früher kaufte man mit Geld Qualität, heute ist Geld Qualität.»

(Von Torsten Möller. Dissonanz Nr. 116 Dezember 2012. PDF)

Musik-Konzepte 155: Mathias Spahlinger

 

In der Edition Text+Kritik ist nun ein Band über das Schaffen Mathias Spahlingers herausgekommen, zu dem ich auch einen Text beigesteuert habe.
Snip:

Wenn zu erwarten ist, dass die Menschheit noch 500 Millionen Jahre die Erde bewohnen wird, sind wir beileibe früh dran. Immer wieder betont Spahlinger, wie unerforscht und undurchschaut das Klingende noch ist, wiewohl es nun seit 1910 vom tonalen System befreit ist. In der Überzeugung, dass die inhärenten Probleme der Musik mit den gesellschaftlichen korrelieren, stehen die Mammutaufgaben erst bevor, es ist noch früh; wenn auf Erden auch im Jahr 2011 Sklavenarbeit praktiziert wird, ist es höchste Zeit, das Altertum zu verlassen! Und so gibt es denn auch das Feste, das Pointierte, das Entschiedene bei Mathias Spahlinger. »pobre por culpa de los ricos« – arm durch die Schuld der Reichen, dieser Satz wird dutzende Male in musica impura musikalisiert. »verflucht sei krieg! verflucht das werk der waffen!« skandieren die Sänger in verfluchung die ganze halbe Stunde des Stücks über. Wo, wenn nicht hier, hat die Wiederholung, Urelement der Musik, ihren Sinn? Es kann gar nicht oft genug gerufen werden: Verflucht sei Krieg!


http://www.weltbild.de/3/17156656-1/buch/musik-konzepte-neue-folge-h-155-mathias-spahlinger.html#produktbeschreibung

2012, 100 Seiten, Maße: 23 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
Hrsg. v. Ulrich Tadday Edition Text und Kritik ISBN-10: 3869161744
ISBN-13: 9783869161747

Komponieren heute

 

Ich habe längst aufgehört, alleine zu komponieren.

Meine Ansprüche an das Kunstwerk sind derart gestiegen, und die Welt heute ist so komplex, dass  ich auf einige Hilfe angewiesen bin. Man sollte sich ja keiner technischen und menschlichen Hilfsmittel enthalten, denn sonste würde das ja nur bedeuten, sich künstliche Probleme zu schaffen. So wie ich ein Instrumentalensemble zur Aufführung brauche, nehme ich eben eine Legion an Arbeitskräften für die Komposition in Dienst.

 

1. Marktforschung. Mein Recherche-Team besucht Festivals, hört Radiosendungen, außerdem Kunstausstellungen und Theaterpremieren, aber vor allem durchforstet es das ganze Internet, also Podcasts und Musikblogs weltweit, nach neuesten Trends und Techniken, sprich: nach dem Zeitgeist. Des weiteren werden Facebook-Umfragen durchgeführt, Ideen an Probanden getestet, Hochleistungscomputer ermitteln mit Algorithmen statistische Trends und evaluieren Ästhetiken.

Es geht hierbei nicht darum, die Formel für das „perfekte“ Stück zu ermitteln, sondern schlichtweg um Weltaneignung.

2. Ein Kreativteam entwickelt Ideen – Originalität ist Pflicht!; alle möglichen Kreativitätstechniken (Brainwriting, Edison-Prinzip, Kopfstandtechnik, Mind Mapping, Galeriemethode, KJ-Methode, Bisoziation, Zufallstechniken, Tilmag-Methode usw.) kommen zum Einsatz. Ein eigenes Büro ist allein für Titelfindung und Programmtext zuständig.

3. Ein Team an Soft- und Hardwareentwicklern bleibt auf dem aktuellen Stand der Audio-Technik, besorgt Lizenzen von Fremdtechnologie (vielleicht betreiben sie auch Industriespionage, ich überlasse das ihnen) und entwickelt selber Software und Geräte.

4. Die Ausarbeitungsfirma schreibt die Partitur und erstellt die Elektronik. Den Großteil übernimmt hierbei maschinelle Intelligenz. Längst wäre all das nur von Menschenhand und -hirn nicht mehr umsetzbar.

5. Die „Special-Effects“-Abteilung optimiert die ganze Partitur und löst klanglich schwere Aufgaben.

6. Ich bin bei all dem der Chef, der das Ganze koordiniert, am Ende die Verantwortung übernimmt und die „Marke“ bildet. Machen wir uns nichts vor: Die Kunstproduktion ist diktatorisch. Es gibt „Schwarmintelligenz“, aber keinen Kunstkommunismus. In der Kunst braucht es viele Hände und Hirne, jedoch einen Mastermind, der alles zusammenhält, der den Produktionsgeist wach hält, der bezahlt und der überhaupt die richtigen Leute findet und versammelt.

 

Ich beschreibe dies, weil es darum geht, möglichst bewusst zu praktizieren, was subkutan als Prinzip ohnehin immer mehr waltet. Das alles soll ins Werk gesetzt werden. Sowieso ist solche Arbeitsteilung in der Bildenden Kunst Jahrhunderte alt (Rembrandts Atelier war bereits eine Fabrik).

Es geht überhaupt nicht darum, Geld zu erwirtschaften – das ist in der Neuen Musik ja fast nicht möglich. Tatsächlich sind die Produktionskosten ungleich höher als die Einnahmen aus dem Kunstwerk. Fundraising gehört darum gleich an den Beginn des Produktionsplans.

Es geht darum, ein hypermodernes Kunstwerk zu schaffen.

 

Gelegentlich arbeite ich übrigens auch bei anderen Komponisten im Team, ohne Namensnennung.

Radiosendung über Schöpfungsprozesse online

Jemand hat die Radiosendung „Träumen, rechnen, konstruieren, würfeln – Von Schöpfungsprozessen und kreativen Strategien“ von Martina Seeber, ausgestrahlt am 14.11.2011 auf SWR 2 (Kulturtechno berichtete), online gestellt. Es sprechen darin uA Sofia Gubaidulina, Enno Poppe, Robert Ashley, Mark Andre und Kreidler.

SWR2 JetztMusik Träumen, rechnen, konstruieren, würfeln

Von Schöpfungsprozessen und kreativen Strategien

Sendung am Montag, 14.11.2011, 23.03 bis 0.00 Uhr

Von Martina Seeber

Ein Klang, schillernd in sämtlichen Farben und Tönen, so beschreibt Sofia Gubaidulina die kurz aufblitzenden akustisch-visuellen Initialzündungen ihrer Kompositionen. Der Rest sei harte Arbeit, kein Spaß. Giacinto Scelsi meditierte und improvisierte, während John Cage würfelte, um sich allzu persönlichen Entscheidungen zu entziehen. Kreative Prozesse lassen sich in der zeitgenössischen Musik auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Manche Methoden haben mehr mit experimenteller Physik, Malerei oder Kochkunst zu tun als mit der Ausarbeitung akustischer Einfälle. Komponieren ist eine Kulturtechnik und damit dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Darin liegt der Hauptgrund, weshalb die Hirnforschung der Entstehung von Musik bis heute nicht auf die Schliche gekommen ist. Die höchst individuellen Strategien und Schöpfungsprozesse verraten dafür umso mehr über die Künstler und ihre Zeit. Es gibt nicht eine, sondern tausende von Antworten auf die Frage: Wie kommt die Musik in die Welt?

Präpariertes Hören: Richard Wagner

 

Das präparierte Hören interessiert mich schon länger – wenn der Hörer bewusst vor dem eigentlichen Hören informiert (oder auch desinformiert) wird. Auch in den Kommentaren ist es jüngst angesprochen worden – allgemeinhin gilt es ja als Defizit der Musik, wenn es erforderlich ist, dass noch etwas dazu gewusst werden soll. In dem Zusammenhang sind die Ausführungen zur Theaterbeleuchtung in Friedrich Kittlers Berliner Vorlesungen „Optische Medien“ interessant:

Die Einführung des Gaslichts in Theater hatte im 19. Jahrhundert nicht nur den Effekt, daß die Zahl der Theaterbrände und Theatertoten vor Einführung des Eisernen Vorhangs, der genau davor schützen sollte, in historisch unerhörte Höhen schob, sondern das Gaslicht warf auch ein theoretisches Problem auf: Man brauchte mit dem Licht nicht mehr zu geizen, konnte die Bühne also so hell machen, wie man wollte, und stand folglich vor der Frage, ob es im Zuschauerraum, wie seit Jahrhunderten üblich, weiterhin Lichtquellen vom Typ der berühmten Theaterkronleuchter geben solle – um das Drama oder die Oper sehen zu können, waren sie ja nicht mehr nötig. Die Antwort, die der bekannte Architekt Garnier beim Bau der neuen Pariser Großen Oper gab, ist bezeichnend: Laut Garnier wäre eine Verdunklung des Zuschauerraums, wie es sie schon in einigen italienischen Opernhäusern gab, zwar möglich, aber nicht tunlich. Erstens müßten die Opernbesucher ja weiterhin imstande sein, während des strahlend unverständlichen Gesangs im Libretto der jeweiligen Oper mitzulesen, um die Handlung einigermaßen zu verstehen.
[…]
In Bayreuth wurde der verdunkelte Raum erstrebt. Auch das war ein damals ganz überraschendes Stilmittel. […] Für die Zuschauer mußte Wagner vor der Uraufführung Zettel mit der Warnung ausgeben, sie sollten den Text schon vorher durchlesen, bei der Aufführung sei es zu spät und finster.

Aktuell schreibt auch die SZ über Audioguides in Museen.

Expertenkultur!!

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Im Frühjahr 2010 hatte ich die Ehre, mit dem deutschen Musikautorenpreis in der Kategorie „Nachwuchsförderung“ ausgezeichnet zu werden. Es gab insgesamt zehn Kategorien, von „Bester Text Schlager“ über „Lebenswerk“ bis „Experimentelle Kammermusik“. Bei der Gala waren also Musikschaffende aus allen Sparten anwesend, was den kuriosen Effekt zur Folge hatte, dass bei den Laudatios sich jeder, aber wirklich jeder entschuldigte: die U-Musiker immer wieder dafür, dass ihre Musik nicht so anspruchvoll sei, die E-Musiker immer wieder dafür, dass ihre Musik so anspruchsvoll sei. Irgendwas lief da falsch – hätte man statt dem Axica-Gebäude neben dem Brandenburger Tor nicht einen überdimensionalen Beichtstuhl für die ca. 200 Leute mieten müssen? Oder war dieses kollektive Bitten um Vergebung nicht einfach unangebracht und unfreiwillig komisch?

1.

Drüben im BadBlog schreibt Moritz mal wieder davon, dass die Neue Musik doch nicht so kompliziert sein müsse, nicht so gelehrt daherkommen bräuchte usw. Dem widerspricht fast niemand (außer zB Mahnkopf – „Entweder es nehmen viele wahr, dann ist es keine Kunst, oder es nehmen wenige wahr, dann ist es Kunst.“ – auf nicht gerade einem Gelehrten gebührende Weise), und auch ich fordere ja mitunter dazu auf, Elemente des Pop einzubeziehen, denn der hat beileibe nicht mit allem Unrecht.

Es mag vielleicht verwundern, wenn ich an dieser Stelle aber auch für das Gegenteil die Lanze breche: Wir brauchen eine musikalische Expertenkultur, genau, nicht nur oder nicht so sehr eine bürgerliche Hochkultur, sondern eine Expertenkultur in der Musik! – so wie es Mathematiker gibt, die Thesen aufstellen, die weltweit nur 12 Leute verstehen und davon noch 7 bestreiten, oder Chemiker, die im Kompliziertesten forschen, ohne vorab zu wissen, ob dabei überhaupt etwas herauskommt. Letztlich reicht es, wenn einer ein Mittel gegen Krebs findet, und auch die radikalste Kunst hat gewiss ihre Auswirkungen. Picasso: „Ich kann ein Bild malen und danach in die Schublade stecken, trotzdem ändert es die Welt.“; niemand kann widerlegen, dass auch Anton Weberns Quartett Opus 22 zum Fall der Mauer beigetragen hat! Tatsächlich bin ich der festen Überzeugung, dass es auch die radikalste, sperrigste Insiderkunst geben muss, im Interesse der allgemeinen Kultur.

Warum kommt überhaupt die Beschwerde, dass die Neue Musik so kompliziert ist, wenn es doch auf dieser Welt mehr als genug leicht gestrickte Musik gibt? Warum beschwert man sich über die Neue Musik, ist aber nicht darüber empört, dass es so etwas wie „hydrografische Geodäsie“ gibt? Wer ist schuld? Die Neue Musik! Aber nicht, weil sie so kompliziert ist, sondern weil sie nicht dazu steht. Das Problem ist, dass sich diese sperrige Musik dem Vorwurf überhaupt aussetzt; sie tut das freilich dadurch, dass sie den Steuer- und GEZ-Zahler viel Geld kostet, ohne eine greifbare Gegenleistung zu erbringen – angemessene Zuschauerzahlen, Resonanz in der Presse usw. (So entstehen auch die Minderwertigkeitskomplexe bei den Akteuren, die sich dann in verquasten Programmhefttexten ein Ventil verschaffen, statt souverän den Austausch mit Kollegen zu pflegen.) Es gibt aber einen weiteren, irrationaleren und wahrscheinlich schwerwiegenderen Grund: Immer noch steckt sehr tief in den Menschen die Meinung, dass es natürlich quantenchromodynamische Physik und all das geben möge, aber Musik müsse doch jeden Menschen berühren, ja, sie habe doch die Möglichkeit des direkten Einwirkens auf Körper und Seele jedes Menschen, wenn überhaupt dann sei sie die verbindende, universale Sprache. Und da muss einfach entschieden aufgeklärt werden: Nein, auch in der Musik – oder sollte man, um Mißverständnisse fortan zu vermeiden, besser „ästhetische Akustik“ sagen? – gibt es höchste Komplexitätsgrade und also höchstes Spezialistentum. So wie es Astrophysik und Mikrochemie, Tiefseebiologie und Hochgebirgsgeologie gibt, gibt es auch Musik, die eine Angelegenheit von Experten ist. Es wäre doch sehr merkwürdig, wenn die ein ganzes Hochschulstudium absolvierten, um danach Sachen zu machen, die jeder gleich versteht! Das große Versäumnis in der „Vermittlung“ der Neuen Musik, wie sie seit einiger Zeit emsig betrieben wird, ist, dass sie das nicht deutlich ausspricht. Es nutzt aber nichts, das ist Wohl oder Übel ein Faktum, da gibt es nichts zu entschuldigen und keine falsche Scham, es kann ja gar nicht anders sein in dieser Welt, in der in allen Bereichen die Spezialisierung zunimmt. Wer kann heute noch sein Auto selber reparieren? Kein normaler Mensch! Wieso investiert man trotzdem nicht in die „Vermittlung“ von Kfz-Wissen?!

Ich habe vieles an der hiesigen Expertenkultur zu kritisieren, ich finde vieles irrelevant und geldverschwenderisch, vieles hat sich überlebt und simuliert nur noch selbstgefällig Spezialistentum; oft ist mir die Musik, die hochtrabend daherkommt, noch viel zu wenig kompliziert! Im Übrigen ist Fachidiotie immer die problematische Begleiterscheinung. Grundsätzlich halte ich eine Expertenkultur aber für unverzichtbar, und sie sollte sich nicht um falsche Vereinfachung und Popularisierung bemühen, sondern um Verständnis für ihre Komplexion. Die Menschheit, zumindest ihr demokratisch verfasster Teil, braucht Experten in allen Bereichen, auch in der Kunst; darum gibt es Kunsthochschulen! In der Kunst muss alles möglich sein und alle Bereiche der Wahrnehmung und des Denkens müssen ausgelotet werden, nach oben und nach unten und nach links und rechts, Richtung Pop und Richtung stochastischem Spektralkomplexismus, und überall kann Kunst gelingen oder auch nicht. Niemandem soll der Zugang verwehrt werden, aber wenn es nur wenige Akteure gibt, ist das nicht verwerflich und braucht nicht zu verwundern, einzubilden braucht man sich darauf ebenfalls nichts. Und es wird ja Gott sei Dank, zumindest in diesem Land, dennoch eine Menge Geld für die Neue Musik ausgegeben, so wie für mathematische Forschung und Teilchenbeschleuniger. Statt sich zu beklagen, dass man nicht im Fernsehen ausgestrahlt wird, können die Experten sich doch mit Fug und Recht dazu bekennen, dass man nun mal zur akademischen Elite gehört, die es geradezu albern fände, würde sie im ZDF gesendet werden. Oder haben die Komponisten eigentlich die Angst, dass sie ihrem Expertenstatus nicht gerecht werden? Wo ist die Neue Musik, die mit Stolz sagt: Ich bin Expertenkultur, ihr habt Hegels Phänomenlogie des Geistes durchzuarbeiten, bevor ihr den Konzertsaal überhaupt betretet! Oder ist das irgendwo gesetzlich verboten? Wo ist die Neue Musik, die sich viel zu fein dafür ist, einen zusammengequetschten Programmtext zu schreiben, wenn nun mal erst ein eingehendes Partiturstudium zu tieferem Verständnis führt? Wo ist die Neue Musik, der selbst die NM-Szene noch viel zu sehr Pro7-Niveau hat? Wer komponiert auch mal nur für sich? Wo ist das Selbstbewusstsein der Profis? Es muss doch alles in der Kunst geben, also auch das radikalste Spezialistentum! Pluralismus heißt nicht, dass es immer für viele ist, so wünschenswert das auch wäre.

Gott sei Dank gibt es nun aber auch Computer und das Internet, womit unter sehr geringem Geldaufwand Musik produziert und distribuiert werden kann. Damit ist man zumindest dem Subventionsdruck enthoben. Im Netz findet dann selbst die schwierigste Musik ein Millionenpublikum – wenn auch erst im Laufe von Millionen Jahren.

Nun will wohl kaum ein Künstler ausschließlich für die Nachwelt oder nur für sich komponieren, viele Ideen brauchen eine Menge Geld, deren Aufwendung in einer Demokratie nicht mehr mit Expertenkultur rechtfertigbar ist, und man mag auch schlichtweg nicht als durch und durch elitärer Sack gelten. Ich habe ein Ideal: dass ein Komponist in den verschiedenen Bereichen tätig ist, dass er Musik erfindet vom Pop bis zum Unbekömmlichsten; dass seine Ästhetik nicht darauf spezialisiert ist, dass sie links oder rechts oder oben oder unten verortet ist, sondern dadurch, dass sie sowohl links wie auch rechts wie auch oben und unten umgesetzt werden kann (es gibt einige und immer mehr Komponisten, die sich in diesem breiteren Spektrum bewegen: Alexander Schubert, Daniel Smutny, Genoël von Lilienstern oder Thomas Meadowcroft zum Beispiel). Die Postmoderne hat einmal das doppel- oder mehrfachcodierte Werk erkoren, das auf verschiedenen Ebenen sowohl Laien wie Experten anspricht – das ist toll, aber schwer zu schaffen und darum selten; eher möglich erscheint es mir, werksmäßig zu separieren, aber in der Person zu vereinen: Möge ein Komponist Technotracks ebenso komponieren wie ultraselbstreferentiellen, monadologischen Geräuschnegationskonzeptualismus für Violoncello, den keiner versteht. Wohlgemerkt, all das ganz gewissenhaft komponiert und mit Herzblut, und wiederum gibt es zur Handhabe des Stilpluralismus’ hilfreiche Softwares.

Also: Mehr Vielseitigkeit, mehr leichte und mehr extrem schwere Musik von ein und demselben Komponisten, und mehr Stolz für alle Arbeiten würde dem Umkreis der Neuen Musik sehr helfen. Und kümmert euch mal darum, dass sich auch diese Einsicht endlich verbreitet: Musik ist mehr als Emotion, Groove und Völkerverbindung, Musik kann auch asozial schwer verständlich sein und auch dazu hat sie ihr gutes Recht. Andernfalls nennen wir es künftig eben „ästhetische Akustik“. Übrigens heißt Intellektualisierung überhaupt nicht Verlust von Unmittelbarkeit – es gibt Mathematiker, denen beim Anblick einer Formel Tränen in die Augen treten.

Harry Lehmann: Die neuroästhetische Naturalisierung der ästhetischen Kategorien

Vortrag auf dem VIII. Kongress „Experimentelle Ästhetik“ der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik vom 04.-07. Oktober 2011 an der Kunstakademie Düsseldorf

Update: Video funzt jetzt.

Das hässlichste Musikstück der Welt

„Ich bin auf der Suche nach dem Dümmsten“ sagte Beuys, und wenn es in der Kunst darum geht, alle Bereiche des Ästhetischen auszuloten, dann dürfen auch die untersten Schubladen und das Unkünstlerischste nicht fehlen. Lachenmann betont immer, dass man eine „Nicht-Musik“ schaffen müsse, und Duchamp fragte sich: „Wie machen wir ein Kunstwerk, das kein Kunstwerk ist?“ Mein alter Lehrer Spahlinger pflegte zu sagen: „nur das ist eine neue musik, bei der man sich fragt, ob es sich überhaupt um musik handelt.“
Etwas populärer formuliert es Scott Rickard, wenn er in diesem Talk das „hässlichste Musikstück der Welt“ mathematisch konstruieren will. Seine – sorry, dämliche – Prämisse ist, dass Schönheit durch Wiederholung entstünde, und entsprechend will er nun – jetzt wird es wieder interessant – eine gänzlich wiederholungslose Musik herstellen. Das ist erst mal als mathematische Frage faszinierend, ich gehöre ja zu den Nerds, denen beim Anblick einer Formel Tränen kommen können.
Also Nerds, zieht’s euch rein; wer dagegen nur das „Musikstück“ hören will, springe zu 7’47“.

Von der dümmlichen ästhetischen Wertung ganz abgesehen muss man zu dem Resultat allerdings sagen: FAIL. Die Oktaven stechen so als Gestalten heraus, dass der gewünschte Effekt einigermaßen ausbleibt. Zum anderen, wenn es nur um Tonhöhen geht, sollte das ein mechanisches Klavier spielen, denn beim menschlichen Pianisten entstehen natürlich noch artikulatorische und dynamische Feinheiten, die die Wahrnehmung ablenken.

Das Mathematik ein probates Mittel ist, ästhetische Konventionen zu durchbrechen, hat zB Tom Johnson öfter gezeigt, und ein paar Sachen, die er ausgelassen hat, habe ich umgesetzt, etwa die sämtlichen möglichen 680 Dreiklänge im Ambitus einer Duodezim.

(via Bad Blog of Musick)

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Unser Kulturtechno-Karikaturist veranschaulicht das Dilemma des TED-Talks mit zwei Zeichnungen:

Das totale Archiv (12. und letzte): Gegentendenzen

In der letzten Zeit brachte ich den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version, der nun mit dem zwölften und letzten Teil abschließt.

Die Frage, was als neu und was als alt gilt (1), begleitete den Text immer wieder, aber neu sind definitiv die digitalen Archive (2), die das Mediennutzungsverhalten ändern (3). Ein Exkurs fragte nach dem Wesen des technischen Fortschritts (4). Charakteristisch für die digitalen Archive ist, dass sie ungekannte Datenmassen des Vergangenen beherbergen (5) und dass diese unauslöschbar sind (6). Ebenso ist die Menschheit unauslöschbar (7). Die Last der Vergangenheit ist ein bekanntes Thema (8), aber sie wird es immer noch mehr. Darum ist der postmoderne Collage-Stil womöglich der bestimmende Stil auch in Zukunft (9). Das erfordert bestimmte Design-Lösungen (10). Künstlerische Sujets des totalen Archivs sind beispielsweise die großen Quantitäten und die Nachinszenierung (11). Angesichts exklusivistischer Gegenbewegungen ist ein Plädoyer für die Offenheit (12) angebracht.

 

12. Gegentendenzen

Was ist am totalen Archiv total? Zunächst ist es schlichtweg die größte Sammlung von Informationen, die die Menschheit bislang kannte. Die Encyclopædia Britannica von 2004 birgt rund 75.000 Artikel in 32 Bänden, die englischsprachige Wikipedia zählt 2011 gut 3.750.000 Einträge. Das ist kein Produkt einer Ideologie, sondern der technologischen Entwicklung.

Zum einen ist daran ein Totalisierungszug, dass der Computer, also die Digitalisierung, alle Medien schluckt, Radio, Fernsehen, Bücher. Das Medium verschwindet wieder hinter der Botschaft; die Digitalisierung wird selbstverständlich, und damit herrschend. Hilflos schreibt noch die Tagesschau bei Videomaterial aus dem Netz: „Quelle: Internet“. Entsprechend haben die Firmen Google, Apple und Microsoft zu bedenklichem Grad das Monopol über kulturelle Güter. Grundsätzlich ist es wünschenswert, dass es ein zentrales Portal gibt, worüber eine Suchanfrage gestartet wird, die über das gesamte Archiv zugreifen kann – das bleibt der Vorzug von illegalen Tauschbörsen gegenüber den kommerziellen Pendants. Dennoch bedeutet ein System ohne wirklichen Wettbewerb eine problematische, vielleicht gefährliche Akkumulation. Wer bestimmt die Bedingungen der Suchabfrage? Die anarchische Verteilung der Informationen hingegen ist Segen und Fluch – niemand überschaut alles, aber entsprechend schwer wird die Verständigung darüber, bis hin dass jeder doch in seiner eigenen „Filterblase“ lebt.[1] Da sind Zufallselemente innerhalb der Algorithmen wünschenswert.

Zum anderen übersteigt die schiere Größe des Archivs das menschliche Erfassungsvermögen – in viel höherer Dimension als die analogen Archive. Natürlich bleibt jedem überlassen, sich ein- und auszuklinken aus dem Netz; doch wo es jedoch um Wissen und Erfahrung geht, gibt es keine Isolation mehr. Die Probleme der Menschheit sind globale, selbst das Private ist, frei nach dem Slogan, global. Über Krankheiten macht man sich im totalen Archiv kundig, aus dem Facebook-Pool knüpft man Kontakte. Überall in der Luft hängt ein unsichtbares Netz, das Internet. Dort kann sich alles verfangen, dort wird alles kontextualisiert und abgeglichen. Man lebt immer unsicherer, weil eine Behauptung sofort jemand anderes im totalen Archiv überprüfen, also möglicherweise falsifizieren kann. Politikerlügen können entlarvt, Plagiate identifiziert werden. Wirkliches Wissen ist dann nur noch in hochgradigem Spezialistentum möglich, alles andere verharrt auf zufällig Aufgelesenem. Früher konnte man sein Auto noch selber reparieren! Je leichter der Alltag durch Technologie wird, desto komplexer wird das Wissen dahinter. Nichts verkörpert das anschaulicher als die Produkte der Firma Apple: geleckte Oberfläche, selbsterklärende Bedienbarkeit noch für den Unbedarftesten, aber eine gigantische Intelligenz dahinter.

So zeichnen sich, obwohl, wie im siebten Abschnitt dargelegt wurde, „Information frei sein will“, Gegentendenzen ab: Die neue Abschottung. Öffentlich-rechtlich finanzierte Rundfunkanstalten müssen ihre Sendungen – die doch allen Gebührenzahlern gehören – auf Druck des Marktes nach sieben Tagen aus dem Netz nehmen, Apple verriegelt hermetisch seine Software, und Regimes klemmen in ihren Ländern das halbe oder sogar das gesamte Internet ab. Wurde der postmoderne Pluralismus mit dem Internet und der Globalisierung nach 1989 eingelöst, tritt nun die Reaktion auf den Plan: Nationalismen keimen wieder auf und Europa mauert sich vor den Afrikanern ein. All das kann eigentlich nicht sein und schon gar nicht darf es das; man fühlt sich in die Prohibition in den USA der 1920er Jahre zurückversetzt, die der heranrollenden Moderne entgegengestemmt wurde, völlig zu unnütz.

Hier ist Pluralismus unbedingt hochzuhalten. Es ist zu hoffen und wünschen, dass Umgangsverfahren mit der Informationsfülle entstehen, ohne dass der innwohnende Reichtum beschnitten wird. Das digitale Archiv ist eine geistige, keine physische Instanz, und darum interpretierbar; eine elastische, mitkommunizierte Handhabe von Abstraktion und Konkretion kann es produktiv statt lähmend machen.

 


[1] „Filter bubble“, ein von Eli Pariser geprägter Begriff, der die Isolation in personalisierten Algorithmen beschreibt.

Das totale Archiv (11): Kunst des totalen Archivs

Zur Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der zehnte Teil beleuchtete Designformen des totalen Archivs, der elfte nun Kunst.

 

11. Kunst des totalen Archivs

In der Kunst war der Fortschritt des 20. Jahrhunderts zuerst weniger ein technologischer als ein ideeller. Von den technischen Mitteln her hätte man schon in Höhlen kubistisch malen und auf der Viola da Gamba atonal spielen können – sie bedurften aber noch so mancher „Immaterialien“ (Friedrich Kittler), die erst in der Moderne errungen wurden. Die großen ideellen Schranken sind seitdem in der westlichen Welt gänzlich gefallen. Man kann zwar immer noch Leute mit atonaler Musik ärgern, dass das aber ein historisches Stelldichein darstellt, dessen Fronten stehengeblieben sind, hat sich herumgesprochen.

Im 20. Jahrhundert wurden, nach dem Wegfall der alten Eingrenzungen wie der Tonalität, der Zentralperspektive oder des Reimschemas, praktisch alle existenten ästhetischen Bereiche der menschlichen Wahrnehmung ausgelotet. Ein weiterer Fortschritt hängt darum sicher zu einem Gutteil am materiellen, technischen Fortschritt, der weiteres Terrain eröffnet. Es gibt eine neue Musik nur in einer neuen Gesellschaft, so das Diktum Hanns Eislers; heute können wir feststellen, dass die bewegendste Innovationskraft der Gesellschaft Technik ist. Man überlege einmal, wieviel Lebenszeit man an einem neuen technischen Gerät wie dem Computer verbringt. Marx korrigierend ist nicht nur die ökonomische, sondern auch die technologische Situation zuhöchst normativ, denn heutige Technologie kann auch von ökonomisch Schwachen besessen werden. Technologie wird für die Kunst des 21. Jahrhunderts – auch wenn in der Kunst schwer etwas verallgemeinerbar ist – von eminenter Bedeutung sein. Man kann beispielsweise beobachten, wie allmählich Computerspiele im Feuilleton Einzug halten, wie überhaupt das allgemeine Interesse an künstlerischer Verarbeitung der medialen Umbrüche groß ist. Aber auch ganz allgemein ist die Technologie der aussichtsreichste Ausweg aus dem Ende der Geschichte. Vielleicht wird man einmal, dank Gentechnik oder cognitive computing, einen IQ von 150 als ‚geistig behindert’ einstufen und unsere Zeit noch der Steinzeit zurechnen.

Die neuen Technologien bringen ein Gefühl der unendlichen Fülle. Diplomatische Enthüllungen gibt es, seit es Diplomatie gibt; die bei Wikileaks erschienenen 251.287 diplomatischen Depeschen, die 76.911 Dokumente über den Afghanistankrieg oder die 391.832 Dokumente aus dem Irak markieren jedoch eine andere Größenordnung. Eine sehr große Zahl an Sinneswahrnehmungen, 3.300 Klänge in zwölf Minuten abgespielt, ist eine Erfahrung unzählbarer, sinnlich so gut wie unendlicher Quantität. Auf das mutmaßliche Ende der großen Erzählungen folgen große Zählungen.

Die großen Quantitäten, die riesige materiale Steigerung, können in der Kunstgeschichte verfolgt werden.[1] Die Goldbergvariationen von Bach umfassen 32 Variationen, Beethoven setzte mit den Diabellivariationen eine drauf (33), Enno Poppe schrieb 1997 Thema mit 840 Variationen. Die historische Avantgarde spürte das Potenzial der Zahl, Messiaen schrieb ein Orgelstück mit dem Titel 64 Durées, Andy Warhol titelte: Thirty are better than one, gemeint war die Vervielfältigung der Mona Lisa. Karlheinz Stockhausen vollbrachte den technisch-avantgardistischen Superlativ, indem er ein Streichquartett in Helikoptern spielen ließ; Christoph Schlingensief titelte in großen Quantitäten: Talk 2000, U 3000. Mit der offenen Form eröffneten sich gigantische Kombinationsmöglichkeiten, etwa bei Raymond Queneaus Hunderttausend Milliarden Gedichten (1961). Die Gegenwart nun erstrahlt in kolossalen Ansammlungen, Gerhard Richter bestückt den Kölner Dom mit 11.500 Farbquadraten, Thomas Hirschhorn gestaltet Räume mit hypertrophen Installationen aus, Kim Asendorf generiert Bilder aus 100.000.000 stolen pixels, Ai Weiwei stellt Millionen Sonnenblumenkerne aus oder veröffentlicht auf seinem Blog Hunderttausende Fotos, Spencer Turick fotografiert riesige nackte Menschenmassen, ich habe 2008 ein Stück mit 70.200 Fremdzitaten komponiert und mit ebensovielen Formularen bei der GEMA angemeldet; Arno Lücker hat sämtliche Trompetenstellen aus Brucknersymphonien kompiliert; Wolfgang Rihms Riesenoeuvre, Brian Ferneyhoughs Komplexismus, Damien Hirsts Superpreise – es ist das „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm), der überbordenden Möglichkeiten durch heutige Produktionsmittel (und freilich ist es auch das Zeitalter des Turbokapitalismus). Die sinnliche Qualität einer großen Zahl wie 11.500 Farbquadraten ist qualitativ kaum überbietbar; ein Musikstück mit 80.200 Zitaten wäre keine ästhetische Steigerung mehr.

Man könnte diese Tendenz „Hypermoderne“ nennen, einen letzten Akt des Materialfortschritts. Der Begriff kursiert sporadisch. Braucht es überhaupt ein neues Wort? Es soll hier keine neue Epoche ausgerufen werden. „Hypermoderne“ ist eher ein Gattungsbegriff; die Postmoderne gilt, wie gesagt, in Aspekten schonungslos weiter. „Hyper-„ ist eine der Ableitungsvokabeln, wie „post-“, „trans-“, „cyber-„ oder „meta-“, die die Zeit nach der Moderne kennzeichnen. Die Dinge wachsen technikbedingt über sich hinaus, man gewärtigt ihre Größe in Bezug aufs vorherige.

Eine zweite, typische Tendenz in der Kunst ist die der technischen Aktualisierungen alter Werke, namentlich der historischen Avantgarde. Es wird dezidiert auf ein bestehendes Werk Bezug genommen, pointilistisch eine Tradition selektiert und in das neue Sehen und Hören der neuen Zeit übersetzt; die „Postmodernisierung moderner Kunst“ (Lyotard). Auch ist es das ehrliche Eingeständnis, dass mehr an Innovation als diese Updates nicht möglich ist. Wenn es neue Technik gibt, muss es logischerweise auch eine neue Avantgarde geben – aber davon spricht niemand, denn in gleichem oder größerem Maße ist auch die Präsenz der Vergangenheit gewachsen. Immerhin wird aber gerade an dem Rückgriff ein Grad von Neuheit ablesbar.

Shawn Feeny hat Cornelius Cardews Klassiker der grafischen Notation, Treatise von 1967, mit Sinustönen in einem rasanten Video ausgelesen; Giorgio Sancristoforo programmierte Franco Evangelistis Incontri di fasce sonore von 1957 neu, ebenso Thomas Hummel John Cages Variations I von 1958 oder Karlheinz Essel Cages Fontana Mix von ’58. Eva und Franco Mattes stellten in „Second Life“ Performance-Klassiker wie Marina Abramovićs Imponderabilia (1977), Valie Exports Tast- und Tappkino (1968) oder gar Joseph Beuys’ 7000 Eichen (1982) nach, Sascha Lobo hat auf Facebook Molly Blooms Stream of Consciousness aus James Joyce’ Ulysses von 1922 in einen Online-Nachrichtenstream gesetzt; Cory Arcangel schnitt eine große Menge an YouTube-Videos, in den Katzen über Klaviertasten stolzieren, zu Schönbergs Klavierstücken Op.11 von 1908 zusammen; George Manak hat aus dem Schnipsel eines Hollywood-Films Steve Reichs Clapping Music von 1972 re-arrangiert; Patrick Liddell realisierte Alvin Luciers I am sitting in a Room von 1969 mithilfe der Kompressionsalgorithmen von YouTube, wo er die Aufnahme tausend mal hochlud und wieder rippte. Nick Collins hat Iannis Xenakis’ Gendyn-Synthesizer aus den 80ern auf das iPhone übertragen, Piet Mondrians oder Jackson Pollocks Stil werden mittlerweile von Dutzenden Programmen algorithmisch beherrscht. Changha Whang malt supermondrianeske Bilder, das Berliner Laptoporchester spielt regelmäßig Terry Rileys Minimalklassiker von 1964 In C, Trond Reynholdtsen inszenierte 2010 in Darmstadt John Cages Darmstadt-Lecture von 1954 nach, ich habe Brian Ferneyhoughs Zweites Streichquartett von 1982 in die Popkompositionssoftware „Band in a Box“ eingespeist und Schönbergs Pierrot Lunaire (1913) von einem Autonavigationsgerät sprechen lassen oder Ravels Bolero (1928) als Prinzip auf eine Szene aus dem Film Der Untergang angewandt; Manuel Schmalstieg und Kim Xupei sind die Autofahrt aus Andrej Tarkowskijs Solaris (1972) auf Google Street View nachgefahren. John Cages Klassiker von 1952 4’33’’ erfuhr bereits etliche Re-enactments: Dick Whyte mixte etliche vorhande Aufführungen des Stückes, die als Video auf YouTube verfügbar sind, zu einem Stille-Mashup zusammen, Matthew Reid hat eine Stille-Aufnahme durch die Intonationskorrektur von „AutoTune“ gejagt; ich habe via Splitscreen das Stück in sechzehn simultane Teile dividiert. Diese Liste, mit Werken allesamt aus den letzten Jahren, wird in Zukunft wachsen.

Die Beispiele zeigen: Innovation bringt Retrospektion. Das Rad wird ja nicht neu erfunden, wir leben im Zeitalter der regenerativen Energien. Immer wird man sich auf Pioniere wie Galilei berufen, wenn man etwa ein neues Navigationssystem „Galileo“ tauft. Elementare atonal-ästhetische Strategien wie Stille, Rekursion oder Phasenverschiebung sind da, aber erfahren im Digitalen neue Anwendungsmöglichkeiten, anhand neu verfügbarer Materialien in großer Menge. Das Suffix „2.0“ ist der Zeitgeist.

In vielen der genannten Beispiele stecken die zwei Aspekte, der Hybrid aus altem Werk und neuer Darstellung, und die großen Quantitäten, collagiert. Die Stücke sind „Hyper-Hybride“.[2]

 


[1] Vgl. Johannes Kreidler, Kunst im Netz: große Quantitäten, Vortrag im Rahmen von Der Kongress bloggt am 12.2.2011. http://youtu.be/ySu-Au0SF_M, recherchiert am 30.8.2011.

[2] Auch in der Popmusik zeichnet sich das Phänomen ab: „Vor allem aber ist das zurückliegende Jahrzehnt durch eine ungeheure Ausbreitung der musikalischen Archive gekennzeichnet gewesen. Spätestens seit dem Siegeszug von YouTube in den letzten fünf Jahren mit den Myriaden der dort hochgeladenen Videos und Songs ist jedwede Musik aus jedweder Epoche jederzeit für jeden verfügbar geworden. So hat sich der gesamte Pop aus dem Kontinuum der historischen Entwicklung gelöst und ist in eine universelle Gegenwart getreten: eine Gegenwart freilich, die nicht mehr in freudiger Erwartung zukünftiger Innovationen erzittert, sondern die sich ganz an der Vergegenwärtigung von Vergangenem erfreut.“ Jens Balzer, Zurück in die Zukunft, in: Frankfurter Rundschau vom 4.7.2011, http://bit.ly/rpjfck, recherchiert am 30.8.2011. Vgl. Dazu auch: Simon Reynolds, Retromania. Pop Culture’s Addiction to Its Own Past, London/New York 2011.