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Das totale Archiv (6): Die Archive sind ewig

Zur Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der fünfte Teil handelte von der Informationsexplosion im Netz; als nächstes befassen wir uns mit dem Umstand, dass die digitalen Archive unzerstörbar sind.

 

6. Die Archive sind ewig

Ein technischer Aspekt des totalen Archivs ist eigens bemerkenswert: die digitale Sauberkeit. Ein Datensatz verwittert nicht. Entgegen der manchmal geäußerten Sorge, die digitalen Datenträger seien viel unbeständiger als die guten alten Analogmedien, wie zum Beispiel das „Holzmedium“ Buch, werden die Daten nicht kaputtgehen. Ist auch nur ein Film auf YouTube, ein Wikipedia-Eintrag bislang verschwunden, weil sein Trägermedium verblich? Die Technik ist den Daten gewachsen, parallele Server, auf verschiedenen Kontinenten stationiert und dezentral organisiert, garantieren Fortbestand, zumal alles allmählich im Nano-Bereich Platz hat. Tatsächlich sind digitale Daten unvergänglich, sie können verlustfrei auf den nächsten Datenträger umkopiert werden.[1] Und das geschieht ununterbrochen: Jeder Aufruf einer Website bedeutet ihre Multiplizierung auf das eigene Gerät, jede Aktion im Internet ist eine Kopieraktion. Unlängst wies ich einen Bekannten auf ein Interview mit Pierre Boulez von 1967 hin, das im Online-Archiv des Spiegels einzusehen ist. Der Bekannte übersah die Jahreszahl am Rand und glaubte, das Interview sei aktuell. Kein Wunder, er hielt ja keine vergilbte Spiegel-Ausgabe von 1967 in Händen! Moden bleiben kenntlich, aber der technische Stand der Reproduktion von Texten, wie auch von Fotos, Videos und Musik, ist kaum noch optimierbar, beziehungsweise verharrt auf einem pragmatischen Niveau. Es gibt Plattenspielersimulatoren, auf denen man die Jahreszahl einstellen kann; 1915 hat Toscanini anders geknackt als 1935. Der Schieberegler endet aber bei der CD oder beim Mp3, so wie man auch keine noch höherauflösenden Fotos und Filme mehr braucht. Fortan gibt das Medium keine neue Botschaft mehr ab. Alles Vergangene ist gleich weit entfernt, es wird  medial egalisiert.

„Erinnern heißt vergessen“, das ist eine menschliche Losung: Mit jedem Wiederaufrufen wird das Erinnerte neu geschrieben und verfälscht. Im Digitalen passiert das nicht. Bei der verlustfreien Kopie gibt es keine Mutation mehr. Das digitale Archiv steht still – wäre da nicht die Remix-Kultur, die bewusst Abweichungen produziert.

 


[1] Ein bisheriges Problem sind veraltende Formate, doch je mehr sich globale Standards, etwa der Pdf-Datei, durchsetzen, schwindet die Gefahr.

6 Kommentare

  1. kostia sagt:

    hi johannes,

    haben die leute früher nicht auch geglaubt, es ginge qualitativ nix über die schallplatte und konnten die aufnahme nicht vom original unterscheiden?

    webseiten von 2000 erkennt man auch als solche – design ist nie zeitlos.

    was ist mit der mp3-plage? dass die ganzen hochqualitativen aufnahmen im netz nur noch als mp3s und youtube-files kursieren und auch so verbreitet werden?

    neulich eine sendung über bücher gehört, schon witzig wie ähnlich die argumente damals gegen bücher waren im vergleich zu heutigen argumenten gegen internet/TV (-> verblöden etc.)

    und: verschwinden nicht ständig daten von youtube, festplatten und co? liegt es nicht nur an der masse, dass man das eher übersieht?

    nur so n paar lose gedanken zu dem doch sehr spannenden und komplexen thema…

    lg – kostia.

  2. Kreidler sagt:

    Hi Kostia,

    danke, Deine Bedenken sind berechtigt, wie die Geschichte lehrt verabsolutiert man allzu leicht die eigene Zeit. Design ist auf jeden Fall nicht zeitlos, das wollte ich mit „Moden verjähren“ sagen, ich hab jetzt „Moden bleiben kenntlich“ daraus gemacht.

    Vielleicht wird Mp3-Sound mal als „Sound der Nullerjahre“ deutlich identifizierbar sein, aber über CD-Quali hinaus kann ich mir tatsächlich kaum noch mehr vorstellen; außer Surround kam ja auch seit der CD, also seit 25 Jahren, nichts mehr hinzu, und obwohl auch mal Leute gesagt haben, dass eine Samplerate von 44100 bald überholt werden würde.

    Verschwinden Daten von YouTube (sofern nicht willentlich gelöscht)? Habe ich noch nie davon gehört. Ich habe tatsächlich seit 2004 nicht eine wichtige Datei verloren, obwohl natürlich diverse Computer futsch gegangen sind.

  3. kostia sagt:

    ja, man neigt zum absolutieren.. aber ich würde jedenfalls nicht ausschliessen, dass es irgendwann (hörbar) qualitativ besser geht als CD (oder 24/192). auch wenn da die gegenwart nicht nur seit 25 jahren stehengeblieben ist, sondern gar zurückgeht mit mp3 und youtube. wir werden sehen. mp3 ist definitiv der sound der nullerjahre!

    doch, ich meinte willentliches löschen auf youtube. aber es ist doch auch ein modernes phänomen mit der verwaltungsrechteabgabe – wenn irgendjemand meine der „cloud“ anvertrauten daten fröhlich herumadministrieren darf. gut, youtube ist keine „cloud“. aber irgendwie steht „cloud computing“ vs. „dateien auf meiner eigenen festplatte“ bei mir in gleichem verhältnis wie „mp3 oder ebook“ vs. „regal mit CDs und büchern“. vielleicht eine frage der zeit (der gewöhnung). aber vielleicht auch das nichtanfreundenwollen mit dem jemand, der theoretisch meine daten verwalten könnte. gut, das kann der jemand auch auf meinem eigenen rechner, wenn ich online bin. auch merkwürdiges (bemerkenswertes) thema.

    ungebackupte festplattencrashs hat doch schon (fast) jeder mal erlebt, oder? und davon abgesehen: sieben jahre 2004-2011 sind echt mal nix im vergleich zu vergilbten fotos oder büchern von urgroßeltern, die man mal in die finger kriegt :)

  4. Kreidler sagt:

    also es gibt ja schon 192-systeme – aber fast niemand verwendet sie. darum würde ich doch glatt denken, dass es beim cd-standard bleibt. 25 jahre sind mittlerweile technologisch doch ganz schön lang!

    was die datensicherung angeht glaube ich wirklich, dass sie immer weniger ein problem darstellt. weil gebrannte cds und dvds irgendwann kaputtgehen, ist etwas hysterie ausgebrochen, damit will ich in dem kapitel aufräumen. ich glaube nicht, dass wikipedia-artikel noch kaputt / verloren gehen können.

  5. kostia sagt:

    da, schon wieder! ich will ein kürzlich gesehenes yt-video anschauen und zack:

    http://www.youtube.com/watch?v=EpzghPhlfDs

    hätt ich’s doch bloß auf der platte gespeichert…

  6. Kreidler sagt:

    klar, hab ich auch schon etliche male erlebt und mir in den arsch gebissen. zb war mal kurzzeitig die gesamte schlingensief u3000-staffel auf youtube, und ein tag später kam selbige meldung.
    trotzdem, die dinger sind ja nicht zerstört wie in gemälde im krieg – früher oder später wird das alles online sein, bin ich mir sicher.