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Das totale Archiv (3): Ein geändertes Mediennutzungsverhalten

In der nächsten Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Im zweiten Teil wurden die digitalen Archive als positive Innovation dargestellt. Weiter geht’s mit der Darstellung des geänderten Mediennutzungsverhaltens, das damit einhergeht.

 

3. Ein geändertes Mediennutzungsverhalten

Wer sich für eine Radiosendung interessiert, braucht heute nicht mehr die Uhr zu stellen. In der Online-Mediathek lassen sich die Sendungen nach Belieben (nur leider auf wenige Tage limitiert) anhören. Wissen heißt nicht einmal mehr „wissen, wo’s steht“ – die Antwort liegt auf der Hand, auf dem Handy, worauf Wikipedia und YouTube abrufbar sind. (Mehr denn je fordern Pädagogen statt Faktenwissen vernetztes Denken und Medienkompetenz.)

Es ist sehr ärgerlich, dass es von wunderbaren Theatervorstellungen keine Videodokus auf YouTube gibt. Das soll nicht heißen, dass Theater stattdessen Film werden soll. Aber Bühnenaufführungen sollen dokumentiert werden. Es braucht filmische Ansichtsformen fürs Theater auf YouTube, genauso für Konzerte. Das Wesen von „flüchtiger Kunst“ ist nicht mehr zu akzeptieren, sie muss einfach nicht flüchtig sein, schon gar nicht besteht darin eine eigene Qualität (schließlich wird ja auch die Theatervorstellung mehrmals gegeben). Das gilt erst recht für die klassische Musik, die sich, vergleichbar den Zoos, überlebt hat. Zoologische Gärten sind Produkte des 19. Jahrhunderts, in dem es zwar Kolonien und regen Seefahrtsverkehr, aber noch keine guten Aufzeichnungsmedien oder Fernreisemöglichkeiten gab, mit deren Hilfe Normalmenschen exotische Tiere sehen konnten. Heute aber kann eine Kamera viel näher und faszinierender an eine Giraffe in ihrer Lebenswelt heranzoomen, als wenn man sie zum Begaffen in fremdem Klima einsperrt. Flugzeug und Film machen den Zoo, der ohnehin Tierquälerei ist, obsolet. Ähnlich verhält es sich mit den Symphonien Beethovens, die man heute in tausend Interpretationen, auf Dolby Surround zu Hause anhören kann: Das genügt! Man muss sie nicht noch weiter aufführen, die Ressourcen dürfen nun gerne anderweitig eingesetzt werden, für aktuelle Musik. Ebenso kann man heute im Netz Bilder von Picasso und van Gogh hochaufgelöst betrachten, dichter (und ungestörter) als man je im Museum of Modern Art an sie herantreten dürfte. Das sollte ausreichen! Wer hat schon die Demoiselles d’Avignon in echt gesehen? Nie wird Olivier Messiaens Schlüsselwerk Mode de Valeurs et d’Intensités gespielt, trotzdem kennt es jeder Komponist, trotzdem war es musikgeschichtlich epochal.[1] (Theodor W. Adorno war der Ansicht, es reiche, Noten zu lesen; so radikal braucht man es nicht zu halten, zumal Noten heute nicht mehr die Musik adäquat abbilden. Aber klangliche Reproduktionen erfüllen den Zweck.)

Die meisten Übertragungsmedien sind heute, stattdessen oder zugleich, Speichermedien. Man kann „live“ fernsehen, kann aber auch die Sendungen in der Mediathek ansehen. In den 70er-Jahren synchronisierte das Fernsehen abends noch die halbe Nation zum gleichzeitigen Erlebnis, was heute allenfalls bei Fußballgroßereignissen passiert. Einen unabgesprochenen Telefonanruf empfinden mittlerweile viele als die Nötigung eines Egoisten, der sich den Zeitpunkt des Telefonats im Gegensatz zum Angerufenen selber aussucht.[2] Auf Emails hingegen kann man in eigener Zeiteinteilung antworten und hat alles schwarz auf weiß zum Nachlesen, für immer. Nicht nur Echtzeit ist das Wesen des Internets, sondern ebenso die Individualzeit: Online-Shops haben 24 Stunden lang geöffnet, Arbeitsplätze müssen sich nicht mehr in Fabrikgebäuden, sondern können sich in den eigenen vier Wänden befinden und bis zu einem gewissen Grad erlaubt das dem Arbeitenden, sich selber einzuteilen, wann er die Geschäfte erledigt.

So sind alle Web-Dokumentationen von Kunstwerken interaktive Installationen. Der Zuschauer kann Pausieren, Vorspulen, Wegklicken. Die Wahrnehmung fragmentiert. Ein Bekannter schrieb mir, nachdem ich ihn auf einen siebzehnminütigen YouTube-Film hingewiesen hatte, er könne zwar die ganze Nacht YouTube-Filme anschauen, aber nicht einen Web-Film, der länger als fünf Minuten dauert. Typisch für das Internet ist Twitter, das jede Nachricht in maximal 140 Zeichen zwingt. So rauscht einem von extrem kurzem extrem viel entgegen. Eine gebräuchliche Abkürzung im Netz lautet „tl;dr“. Too long; didn’t read.

Das ist gut und schlecht, man wird sich darauf einstellen und das beste daraus machen müssen.

 


[1] Stockhausen beschreibt ausdrücklich, wie er die Schallplatte mehrmals anhörte. Karlheinz Stockhausen, Texte zur Musik Band 2, herausgegeben von Dieter Schnebel, Köln 1962, S. 144.

[2] Dazu: Martin Weigert, Der Tod des Telefonats. In: Netzwertig vom 23.8.2010. http://bit.ly/agBGt1, recherchiert am 30.8.2011.