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Komponieren heute

 

Ich habe längst aufgehört, alleine zu komponieren.

Meine Ansprüche an das Kunstwerk sind derart gestiegen, und die Welt heute ist so komplex, dass  ich auf einige Hilfe angewiesen bin. Man sollte sich ja keiner technischen und menschlichen Hilfsmittel enthalten, denn sonste würde das ja nur bedeuten, sich künstliche Probleme zu schaffen. So wie ich ein Instrumentalensemble zur Aufführung brauche, nehme ich eben eine Legion an Arbeitskräften für die Komposition in Dienst.

 

1. Marktforschung. Mein Recherche-Team besucht Festivals, hört Radiosendungen, außerdem Kunstausstellungen und Theaterpremieren, aber vor allem durchforstet es das ganze Internet, also Podcasts und Musikblogs weltweit, nach neuesten Trends und Techniken, sprich: nach dem Zeitgeist. Des weiteren werden Facebook-Umfragen durchgeführt, Ideen an Probanden getestet, Hochleistungscomputer ermitteln mit Algorithmen statistische Trends und evaluieren Ästhetiken.

Es geht hierbei nicht darum, die Formel für das „perfekte“ Stück zu ermitteln, sondern schlichtweg um Weltaneignung.

2. Ein Kreativteam entwickelt Ideen – Originalität ist Pflicht!; alle möglichen Kreativitätstechniken (Brainwriting, Edison-Prinzip, Kopfstandtechnik, Mind Mapping, Galeriemethode, KJ-Methode, Bisoziation, Zufallstechniken, Tilmag-Methode usw.) kommen zum Einsatz. Ein eigenes Büro ist allein für Titelfindung und Programmtext zuständig.

3. Ein Team an Soft- und Hardwareentwicklern bleibt auf dem aktuellen Stand der Audio-Technik, besorgt Lizenzen von Fremdtechnologie (vielleicht betreiben sie auch Industriespionage, ich überlasse das ihnen) und entwickelt selber Software und Geräte.

4. Die Ausarbeitungsfirma schreibt die Partitur und erstellt die Elektronik. Den Großteil übernimmt hierbei maschinelle Intelligenz. Längst wäre all das nur von Menschenhand und -hirn nicht mehr umsetzbar.

5. Die „Special-Effects“-Abteilung optimiert die ganze Partitur und löst klanglich schwere Aufgaben.

6. Ich bin bei all dem der Chef, der das Ganze koordiniert, am Ende die Verantwortung übernimmt und die „Marke“ bildet. Machen wir uns nichts vor: Die Kunstproduktion ist diktatorisch. Es gibt „Schwarmintelligenz“, aber keinen Kunstkommunismus. In der Kunst braucht es viele Hände und Hirne, jedoch einen Mastermind, der alles zusammenhält, der den Produktionsgeist wach hält, der bezahlt und der überhaupt die richtigen Leute findet und versammelt.

 

Ich beschreibe dies, weil es darum geht, möglichst bewusst zu praktizieren, was subkutan als Prinzip ohnehin immer mehr waltet. Das alles soll ins Werk gesetzt werden. Sowieso ist solche Arbeitsteilung in der Bildenden Kunst Jahrhunderte alt (Rembrandts Atelier war bereits eine Fabrik).

Es geht überhaupt nicht darum, Geld zu erwirtschaften – das ist in der Neuen Musik ja fast nicht möglich. Tatsächlich sind die Produktionskosten ungleich höher als die Einnahmen aus dem Kunstwerk. Fundraising gehört darum gleich an den Beginn des Produktionsplans.

Es geht darum, ein hypermodernes Kunstwerk zu schaffen.

 

Gelegentlich arbeite ich übrigens auch bei anderen Komponisten im Team, ohne Namensnennung.

3 Kommentare

  1. snuff sagt:

    „joint venture“ in composing. warum nicht ? der freie komponist ist ja auch immer unternehmer im neben- wenn nicht gar im hauptberuf. ich gebe allerdings zu bedenken: auch wenn man 10 kassierer an eine kasse setzt, (oder meinetwegen auch in einen „think tank“), ist das ergebnis am ende des tages nicht notwendigerweise ein besseres. zwickmühle galore.

  2. Danke für diesen schillernden Text, der zwischen Avantgarde-Pathos und postmoderner Desillusion oszilliert. Gutes Buch zum Thema: „Avantgarde-Routine“ von Thomas Raab von 2008 (fiel mir gestern mal wieder in die Hände). Raab erklärt darin schlüssig, warum es nach 1970 keine künstlerischen Avantgarden mehr geben *konnte*, nur noch ein unübersichtliches Feld sich abgrenzender Subkulturen (zu denen er selbstverständlich auch und gerade die „Neue Musik“ zählt!): es ist schlicht der soziokulturelle Resonanzraum weggefallen! Das Bildungsbürgertum, das sich noch provozieren ließ, wurde weitgehend ersetzt durch die Prekarisierten (an Kunst aus guten Gründen nicht interessiert, weil mit Überleben beschäftigt), die Informierten (kennen schon alles, wissen schon alles, finden alles super und tolerieren alles) und die neoliberalen Leistungsträger (respektieren nur funktionale Pop-Kultur, weil Avantgarde ja anstrengend ist und Kräfte bindet – und die brauchen sie ja für ihre pausenlose Erwerbsarbeit!). Selten ein so deprimierendes, aber auch luzides Buch zum Thema „Kunst und Gesellschaft“ gelesen – deine Meinung dazu würde mich interessieren!

  3. Kreidler sagt:

    aha, danke für den Hinweis, werd ich mir besorgen!