Skip to content
 

Das totale Archiv (4) – Exkurs: Der technische Fortschritt

In der nächsten Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der dritte Teil befasste sich mit dem geänderten Mediennutzungsverhalten, das die digitale Technik hervorruft. Im folgenden vierten Teil soll ein Exkurs dem Wesen des technischen Fortschritts überhaupt nachgehen.

 

4. Exkurs: Der technische Fortschritt

Warum geht der technische Fortschritt unablässig weiter? Für Ernst Jünger, der mit Der Arbeiter 1932 eine zeittypische Technikphilosophie vorlegte,[1] ist es der Krieg, der Wettstreit der Nationen, der unweigerlich alle Mittel mobilmache. Nicht Englisch, sondern Technik werde die Weltsprache sein, der „planetarische Stil“. Die Technik sei so selbstverständlich, dass sie als „Revolution sans Phrase“ voranschreite.

Zwar bemüht sich das Militär auch jetzt noch um einen technologischen Vorsprung, aber zivile Entwicklungen stehen ihm kaum nach oder überholen es sogar, wenn sie ökonomischen Nutzen versprechen (was wiederum dem Terrorismus zugute kommt). Der technische Fortschritt ist vor allem einer des Kriegs des Wettbewerbs. Konkurrierende Unternehmen wollen verkaufen, ob an Heere, Firmen oder Privatpersonen. Bedürfnisse werden (immer besser, stärker) befriedigt, ob nach Nahrung, Transport, Information, Sex, Kommunikation oder Zerstörung, was auch immer. Selbst Karl Marx und Friedrich Engels bewunderten zu Beginn des Kommunistischen Manifests, zu welchen Leistungen der Kapitalismus die Menschen gebracht hatte. Aber auch aus Neugier und Ruhmsucht forscht, entwickelt und erfindet der Mensch. Es ist ein Trieb.

Zu den bekanntesten Technikkritiken des 20. Jahrhunderts gehört Günther Anders’ Die Antiquiertheit des Menschen:[2] Die Bedürfnisse würden nicht befriedigt oder seien keine wirklichen, die Menschen gewönnen nur immer weniger an Glück, die Technik wüchse ihnen über den Kopf und regrediere sie. Gewiss läuft nicht alles linear. Das gute alte Windrad ist besser als Atomreaktoren. Die kapitalistische Aggressivität muss mindestens reguliert werden, von demokratisch legitimierten Mächten. Außerdem widerspricht unserem freiheitlichen Selbstverständnis, dass wir zwar nicht einer Partei angehören müssen, aber einem Stromanbieter. Wir sind, wenn man es so nennen will, Sklaven des Fortschritts. Man muss ihn bejahen. Aktuell geht die Meldung um, dass auf Autobahnen die Notrufsäulen abmontiert werden. Es wird davon ausgegangen, dass jeder ein Handy besitzt. Ergo, jeder hat ein Handy zu besitzen.

Dennoch: Für sieben Milliarden Menschen brauchen wir technischen Fortschritt. Es gibt kein Zurück in einen vermeintlich glücklichen Naturzustand. Im Gegenteil, angesichts der Ernährungsengpässe, Pandemien und Analphabetenraten kann man nur wünschen: Schneller, Fortschritt! Es ist charakteristisch, dass eine der jüngeren relevanten Parteien Deutschlands, die Grünen, für eine technologische Programmatik steht.

Neuerungen haben fraglos Risiken. Die Erfindung des Flugzeugs ist auch die Erfindung des Flugzeugabsturzes. Da braucht es kritische Geister, die aufmerksam beobachten und intervenieren. Doch sollte bedacht sein, dass Vorbehalte und Ängste auch oft dem Irrationalen zufallen. Das wird daran erkennbar, dass Argumentationen auftreten, die schon seit Jahrhunderten demselben Muster folgen. Immer wieder riefen Erfindungen, etwa der Buchdruck oder die Straßenlaterne, den menschlichen Abwehrreflex hervor: Man bräuchte es nicht, bisher sei es doch auch gegangen, das alte habe sich lang genug bewährt und würde sich nicht verdrängen lassen, dadurch entstünden doch ökonomische Probleme, und so weiter.[3] Man schottet sich mit Skeptizismen ab, wiewohl die geschichtliche Erfahrung zur Genüge ist, dass sich derlei durchsetzt. Nichtsdestotrotz performen Konservative immer wieder aufs Neue ihre Unflexibilität – zumindest gute Zeiten für Aktionskunst. Dabei braucht es ja Kritiker, aber solche, die dies durchschauen und sich nicht nur in Stereotypen einnisten.

Der technische Fortschritt bringt dem Menschen Entlastung. Nun gibt es auch Stimmen, die absurderweise gerade das kritisieren. Beispielsweise kursiert die Meinung, dass Speichermedien eine Auslagerung nicht nur des menschlichen Gedächtnisses, sondern überhaupt seiner Memorierungsfunktion verursachten,[4] gleichwohl fünftausend Jahre Mediengeschichte den Menschen noch nicht um seine Erinnerungsfähigkeit gebracht haben. Auch wenn das Morden durch Maschinen ebenfalls erleichtert wird, ist die maschinelle Arbeit nicht per se falsch und in Anbetracht der irdischen Mühsal erst einmal zu begrüßen.

Johann Sebastian Bach unternahm noch zu Fuß die Reise nach Lübeck, um Dietrich Buxtehude Orgel spielen zu hören. Das ist schön, das ist romantisch, und Bach schrieb die beste Musik. Aber niemand würde heute ernsthaft per Pedes zu den Donaueschinger Musiktagen pilgern. Claus-Steffen Mahnkopf beschreibt, was für eine Kostbarkeit es ihm war, sich die Walter-Benjamin-Gesamtausgabe mit hart erarbeitetem Geld zu leisten und ohne Suchfunktion zu studieren.[5] Das ist sympathisch und ehrenwert, aber im Zeitalter des E-Books anachronistisch. Niemand wird Aspirin, die Heizung, den Computer oder motorisierte Fortbewegungsmittel wieder ersatzlos aus seinem Leben streichen, selbst wenn man mutmaßen könnte, die Menschen seien vor zweitausend Jahren glücklicher gewesen. Zwar haben wir durch die Delegierung an Automaten Fähigkeiten wie das Korbflechten, das Beackern mit Ochs und Egge oder das Brotbacken verlernt[6] – aber bislang sind die freigewordenen Kapazitäten immer wieder neu belegt worden. Schließlich gibt es hienieden beileibe noch genug Aufgaben, so dass wir über jede Entlastung froh sein können. Humanismus gegen die Maschinen ins Feld zu führen, ist irrige Opposition. Die Rede von der Überlegenheit des Menschen mutet manchmal an wie die Rede von der Überlegenheit der weißen Rasse. Wer sich von der Technik narzisstisch gekränkt fühlt, dürfte auch nicht einsehen, warum er Schuhe tragen muss.[7] Der Homo Sapiens, das Mängelwesen, hat keinen anderen Ausweg: Er verschmilzt immer mehr mit Technologie, wie es etwa mit der Kleidung schon seit Menschengedenken der Fall ist. Es kommt darauf an, die großen Vorteile davon herauszuarbeiten. Dabei wird das Leben unterm Strich wohl nur bedingt leichter, aber, wie Peter Glaser bemerkt, interessanter.[8]

Der Fortschritt ist eine menschliche Konstante. Giftgas kann und soll geächtet werden, aber nicht der Stand der chemischen Forschung. Die Menschheit muss Laborkenntnisse aushalten, ohne gleich Waffen daraus zu fertigen, ebenso wie in einer freien Gesellschaft Witze über jede Minderheit möglich sein müssen.

 


[1] Ernst Jünger, Der Arbeiter, in: Gesammelte Werke, Zweite Abteilung, Essays Band 8, Stuttgart 1981.

[2] Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956.

[3] Dazu: Kathrin Passig, Standardsituationen der Technologiekritik, in: Merkur 12, Stuttgart 2009, S. 1144-1150. http://bit.ly/8Fih8h, recherchiert am 30.8.2011.

[4] Frank Schirrmacher, Die Revolution der Zeit, in: FAZ vom 18.7.2011. http://bit.ly/pFQNQI, recherchiert am 30.8.2011.

[5] Johannes Kreidler, Claus-Steffen Mahnkopf, Harry Lehmann: Musik, Ästhetik, Digitalisierung – eine Kontroverse, Hofheim 2010, S. 110f.

[6] Zur Ideologie der falschen Erleichterung: Christian Stöcker, Es lebe die Verweichlichung, in: Spiegel Online vom 22.5.2011. http://bit.ly/jP2Z0c, recherchiert am 30.8.2011.

[7] Zum Rassismus gegen Maschinen: Michael Seemann, What about us? – Die Antiquiertheit des „Humanisten“, in: ctrl+verlust vom 15.6.2011, http://bit.ly/kC5dx3, recherchiert am 30.8.2011.

[8] Peter Glaser, Digital sind alle Dichter, in: futurezone vom 20.8.2011, http://bit.ly/pFmWbD, recherchiert am 30.8.2011.