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Das totale Archiv (2): Die digitalen Archive

In der nächsten Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text „Das totale Archiv“ als Blog-Version. Im ersten Teil ging es erst einmal grundsätzlich um die relative Abstraktion und Konkretion der Begriffe „neu“ und „alt“, um verschiedene Auffassungen von Kontinuität und Bruch. Der zweite Teil nun befasst sich mit den digitalen Archiven als positive Innovation.

 

2. Die digitalen Archive

Man mag es Faulheit, Pragmatik oder hohe Anstrengung nennen: Als handfestes Kriterium für die qualitative Neuheit dient in diesem Text das Materielle (– und das vom Patentamt Bürokratisierte, wenn man so will –) des technologischen[1] Fortschritts. Allein schon die Tatsache, dass es in keinem Bereich so viele Neologismen wie in der Computerbranche gibt, spricht dafür.

Die heutigen Prozessoren, Festplatten und Übertragungswege sind Innovationen. Es gab sie vor zehn Jahren noch nicht. Ein Beispiel hierfür ist YouTube. Diese gigantische Videothek existiert seit sechs Jahren. Davor gab es nur physische Videotheken, in denen kommerzielle Videokassetten und DVDs erhältlich waren. Auf YouTube hingegen finden sich Schnipsel von allem, was auditiv und visuell aufzeichenbar ist. Praktisch jedes Nischenpublikum – bis auf Pornografie und Gewalt, wofür eigene Portale existieren – findet hier sein Glück, ob Stummfilme von 1902, Dokumentationen über kongolesische Riten oder radikale Kunstmusik. (Was allmählich wieder entfernt wird, sind kommerziell orientierte Inhalte, die hier illegal aufauchen.) Ginge die Betreiberfirma Bankrott, man müsste YouTube, mindestens im Sinne des Denkmalschutzes, verstaatlichen; dasselbe gilt für Wikipedia. Die große Mehrheit wird den technologischen Fortschritt, den diese Archive darstellen, als positiv ansehen. Aktuell steht zur Debatte, Wikipedia in die Liste der Weltkulturerbe aufzunehmen.

Zwar gab es Abseitiges wie Stumfilme von 1902 auch im Fernsehen, aber das zog als – wie wir heute sagen würden – „Livestream“ vorüber und verschwand, oft schmerzlich vermisst, wieder in den Rundfunkarchiven, so man es nicht rechtzeitig auf Videoband mitschnitt. Doch was vorbeifloss, staut sich jetzt auf Festplatten. Die Kultur, früher von Jägern gesammelt, ist sesshaft geworden in den Serverfarmen. Ein E-Book in einem Archiv in Kalifornien ist näher als das Bücherregal an der Wand; der Berg an Informationen ist zum Propheten gekommen. Alles findet sich nun ein im „globalen Dorf“ (Marshall McLuhan). Kennt nicht jeder den beglückenden Moment, wenn er eine vor fünfundzwanzig Jahren im dritten Programm halb gesehene und seither nie wieder ausgestrahlte, hochinteressante Sendung nun vollständig auf YouTube entdeckt? Schaffen es schon die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nicht selber, ihrem Bildungsauftrag nachzukommen, sollte es erste Bürgerpflicht sein, dass jeder seine alten VHS-Kassetten digitalisiert und der Menschheit auf YouTube übergibt. Gott sei Dank tun dies viele – YouTube ist ein demokratisches Weltwunder. Das „Hochladen“ darf man im Wortsinn als feierlich empfinden.[2]

 


[1] Die Ausdrücke „Technik“ und „Technologie“ werden in diesem Text synonym gebraucht, wie es sich vom englischen „technology“ aus hierzulande allmählich einbürgert.

[2] Vgl. „Als das British Film Institute in den 90er Jahren begann, die englische Bevölkerung in die systematische Suche nach historischen Fernsehsendungen einzubeziehen (die Originalbänder waren, um Geld zu sparen, einfach überspielt worden), mussten die Sender zunächst ausdrücklich erklären, nachträglich keine rechtlichen Schritte gegen das illegale Mitschneiden ihrer Programme einzuleiten.“ (Andreas Busche, Jäger der vorhandenen Schätze, in: taz vom 25.8.2011. http://bit.ly/pPiU1o, recherchiert am 30.8.2011.)

Ein Kommentar

  1. Colorflow sagt:

    Ganz wunderbar ge- und beschrieben. Mein Lieblingssatz (um direkt zu bewerten und zu ranken wie es die Rankingshows lehren) weil von zentraler Bedeutung:

    Doch was vorbeifloss, staut sich jetzt auf Festplatten.

    (Und zwar, wie im Text auch gezeigt, auf Festplatten von millionen, statt weniger Menschen oder Firmen)