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Das totale Archiv (12. und letzte): Gegentendenzen

In der letzten Zeit brachte ich den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version, der nun mit dem zwölften und letzten Teil abschließt.

Die Frage, was als neu und was als alt gilt (1), begleitete den Text immer wieder, aber neu sind definitiv die digitalen Archive (2), die das Mediennutzungsverhalten ändern (3). Ein Exkurs fragte nach dem Wesen des technischen Fortschritts (4). Charakteristisch für die digitalen Archive ist, dass sie ungekannte Datenmassen des Vergangenen beherbergen (5) und dass diese unauslöschbar sind (6). Ebenso ist die Menschheit unauslöschbar (7). Die Last der Vergangenheit ist ein bekanntes Thema (8), aber sie wird es immer noch mehr. Darum ist der postmoderne Collage-Stil womöglich der bestimmende Stil auch in Zukunft (9). Das erfordert bestimmte Design-Lösungen (10). Künstlerische Sujets des totalen Archivs sind beispielsweise die großen Quantitäten und die Nachinszenierung (11). Angesichts exklusivistischer Gegenbewegungen ist ein Plädoyer für die Offenheit (12) angebracht.

 

12. Gegentendenzen

Was ist am totalen Archiv total? Zunächst ist es schlichtweg die größte Sammlung von Informationen, die die Menschheit bislang kannte. Die Encyclopædia Britannica von 2004 birgt rund 75.000 Artikel in 32 Bänden, die englischsprachige Wikipedia zählt 2011 gut 3.750.000 Einträge. Das ist kein Produkt einer Ideologie, sondern der technologischen Entwicklung.

Zum einen ist daran ein Totalisierungszug, dass der Computer, also die Digitalisierung, alle Medien schluckt, Radio, Fernsehen, Bücher. Das Medium verschwindet wieder hinter der Botschaft; die Digitalisierung wird selbstverständlich, und damit herrschend. Hilflos schreibt noch die Tagesschau bei Videomaterial aus dem Netz: „Quelle: Internet“. Entsprechend haben die Firmen Google, Apple und Microsoft zu bedenklichem Grad das Monopol über kulturelle Güter. Grundsätzlich ist es wünschenswert, dass es ein zentrales Portal gibt, worüber eine Suchanfrage gestartet wird, die über das gesamte Archiv zugreifen kann – das bleibt der Vorzug von illegalen Tauschbörsen gegenüber den kommerziellen Pendants. Dennoch bedeutet ein System ohne wirklichen Wettbewerb eine problematische, vielleicht gefährliche Akkumulation. Wer bestimmt die Bedingungen der Suchabfrage? Die anarchische Verteilung der Informationen hingegen ist Segen und Fluch – niemand überschaut alles, aber entsprechend schwer wird die Verständigung darüber, bis hin dass jeder doch in seiner eigenen „Filterblase“ lebt.[1] Da sind Zufallselemente innerhalb der Algorithmen wünschenswert.

Zum anderen übersteigt die schiere Größe des Archivs das menschliche Erfassungsvermögen – in viel höherer Dimension als die analogen Archive. Natürlich bleibt jedem überlassen, sich ein- und auszuklinken aus dem Netz; doch wo es jedoch um Wissen und Erfahrung geht, gibt es keine Isolation mehr. Die Probleme der Menschheit sind globale, selbst das Private ist, frei nach dem Slogan, global. Über Krankheiten macht man sich im totalen Archiv kundig, aus dem Facebook-Pool knüpft man Kontakte. Überall in der Luft hängt ein unsichtbares Netz, das Internet. Dort kann sich alles verfangen, dort wird alles kontextualisiert und abgeglichen. Man lebt immer unsicherer, weil eine Behauptung sofort jemand anderes im totalen Archiv überprüfen, also möglicherweise falsifizieren kann. Politikerlügen können entlarvt, Plagiate identifiziert werden. Wirkliches Wissen ist dann nur noch in hochgradigem Spezialistentum möglich, alles andere verharrt auf zufällig Aufgelesenem. Früher konnte man sein Auto noch selber reparieren! Je leichter der Alltag durch Technologie wird, desto komplexer wird das Wissen dahinter. Nichts verkörpert das anschaulicher als die Produkte der Firma Apple: geleckte Oberfläche, selbsterklärende Bedienbarkeit noch für den Unbedarftesten, aber eine gigantische Intelligenz dahinter.

So zeichnen sich, obwohl, wie im siebten Abschnitt dargelegt wurde, „Information frei sein will“, Gegentendenzen ab: Die neue Abschottung. Öffentlich-rechtlich finanzierte Rundfunkanstalten müssen ihre Sendungen – die doch allen Gebührenzahlern gehören – auf Druck des Marktes nach sieben Tagen aus dem Netz nehmen, Apple verriegelt hermetisch seine Software, und Regimes klemmen in ihren Ländern das halbe oder sogar das gesamte Internet ab. Wurde der postmoderne Pluralismus mit dem Internet und der Globalisierung nach 1989 eingelöst, tritt nun die Reaktion auf den Plan: Nationalismen keimen wieder auf und Europa mauert sich vor den Afrikanern ein. All das kann eigentlich nicht sein und schon gar nicht darf es das; man fühlt sich in die Prohibition in den USA der 1920er Jahre zurückversetzt, die der heranrollenden Moderne entgegengestemmt wurde, völlig zu unnütz.

Hier ist Pluralismus unbedingt hochzuhalten. Es ist zu hoffen und wünschen, dass Umgangsverfahren mit der Informationsfülle entstehen, ohne dass der innwohnende Reichtum beschnitten wird. Das digitale Archiv ist eine geistige, keine physische Instanz, und darum interpretierbar; eine elastische, mitkommunizierte Handhabe von Abstraktion und Konkretion kann es produktiv statt lähmend machen.

 


[1] „Filter bubble“, ein von Eli Pariser geprägter Begriff, der die Isolation in personalisierten Algorithmen beschreibt.

6 Kommentare

  1. Lieber Johannes,

    leider konnte ich auch in diesem letzten Teil deines Essays die versprochenen zwingenden Argumente für eine „Alternativlosigkeit der Collage“ (meine Formulierung!) nicht finden.

    Die Stärke deines Textes liegt meines Erachtens eher im suggestiven Zusammentragen von (unbestreitbaren) Zeitphänomenen, die ich als „Retro-Kultur“ (vor allem in der populären und der bildenden Kunst) und „Derivat-Kreativität“ (im anspruchsvollen Sinn von Clarence Barlows „Musica derivata“) bezeichnen würde. Ein drittes, von mir noch nicht ganz begriffenes Phänomen stellt etwas dar, was ich hier mal versuchsweise als „stochastische Kreativität“ bezeichnen möchte, bei der, wie von dir im Vortrag „Kunst im Netz: große Quantitäten“ geschildert, aus einer sinnlich unfassbar großen Anzahl mehr oder minder virtuell vorhandener Artefakte mit technischen Mitteln ein neues Artefakt generiert wird.

    Dabei hat Technologie für dich offenbar einen Januskopf: Einerseits ist sie der „aussichtsreichste Ausweg aus dem Ende der Geschichte“, andererseits schreibst du: „Auch der letzte technologische Schrei ist ein Echo.“ Ja was denn nun?

    „Ein Werk ist heute vor allem die gigantische Lektüreleistung, die ihm vorausgeht.“ Das mag für die „gebildeten Schichten“ gelten, aber auch den schöpferischen Hervorbringungen von, sagen wir mal, „Bildungsfernen“ würde ich den Werk-Charakter keinesfalls aberkennen! Könnte nicht auch eine heute lebende Favela-Bewohnerin aus São Paulo eine brillante Musikerin und Komponistin (mit ihren Mitteln, aber durchaus für jedermann erkennbar) sein?

    „Man ist heute sensibilisiert genug, im Speichervorgang schon einen Remix zu erkennen.“ Wörtlich genommen ist dieser Satz natürlich falsch, da die digitale Speicherung, wie du selbst betonst, im Unterschied zur analogen eben *identische* Kopien produziert. Sinn macht er allerdings im Sinne einer zwangsläufigen Re-Kontextualisierung des Gespeicherten (z. B. auf meiner Festplatte) durch den Speichervorgang. Aber auch das ist, strenggenommen, noch kein „Remix“.

    „Das totale Archiv ist auch die totale Naivität, der Horizont ist weggewischt.“ Die Favela-Komponistin hat selbstverständlich *auch* einen Horizont, wenn auch einen ganz anderen als der von gigantischer Lektüreleistung schwer Gezeichnete. Dieser möchte, ganz faustisch, sein „totales Archiv“ nun mit „totaler Naivität“, also ganz frisch, unverbraucht, quasi jungfräulich, betrachten und verwerten. Diese Vorstellung scheint mir aber selbst naiv zu sein, da Wissen ohne kontextuellen Bildungshorizont keine Bedeutung gewinnen kann. Und man kann als geistig Gesunder ja bekanntlich nicht willentlich etwas nicht wissen.

    „Eklektizismus“ ist ein obsoleter Begriff geworden, da stimme ich dir voll und ganz zu. Ihn „kritisch“ im Sinne von „Der Komponist lässt jegliche Originalität vermissen und ergeht sich stattdessen in Eklektizismen.“ zu verwenden, geht nun gar nicht mehr, völlig richtig. Allerdings kommt es mir schon und im Grunde *hauptsächlich* darauf an, *wie* mit dem Material umgegangen wird. Mehr oder minder geistreiches „Zusammenstellen“ (Komponieren) von Versatzstücken zu monströsen „Hybriden“ kann es wohl nicht sein, oder?

    „Das digitale Archiv ist eine geistige, keine physische Instanz, und darum interpretierbar […].“ Sehr richtig, genau das wird von vielen, gerade auch „alteuropäisch“ gebildeten, Menschen auch heute, 2011, noch nicht erkannt bzw. unterschieden. Selbstverständlich hat das digitale Archiv auch eine physische Grundlage, sie besteht aus Server-Farmen, Tiefseekabeln etc. Spielt aber alles keine Rolle (denn das Interessante an Büchern war ja auch nicht, dass sie auf Papier gedruckt waren), einzig wichtig ist seine Eigenschaft als „interpretierbare geistige Instanz“ (mit der Betonung auf „interpretierbar“). Internet-Skepsis scheint mir also demzufolge ihren Grund vor allem in Technologie-(und eben nicht Bildungs-)Ferne (à la: „Mein Gott, Goethes Faust wird auf dem Kindle doch komplett kulturell entwertet!“) und der guten alten Zukunftsangst zu haben.

  2. Kreidler sagt:

    Hallo Stefan,
    danke für die Bemerkungen, ich bin die nächsten Tage sehr beschäftigt, darum werde ich erst (frühestens) am Wochenende antworten können.
    Viele Grüße,
    Johannes

  3. Kreidler sagt:

    Lieber Stefan,

    jetzt also – vielen Dank für den Hinweis auf Widersprüche in meinem Text. Eine „zwingende Alternativlosigkeit der Collage“ ist sehr stark ausgedrückt, so weit will ich nicht gehen. Aber als „typischste Form“ des Internetzeitalters, wie ich geschrieben habe, sehe ich sie und da hoffe ich reichen meine Argumente hin.

    Den Widerspruch zwischen Fortschritt durch Technik und ständiges Veralten krieg ich tatsächlich nicht aufgelöst; man könnte das natürlich als Dialektik bezeichnen, aber da bin ich mir (noch) nicht sicher. Vielleicht ist es aber doch kein allzu großer Widerspruch, Fortschritt passiert eben genauso wie Veralten, jedes Neugeborene altert ja auch sogleich, es ist wieder eher eine Frage der Perspektive.

    Ich würde meinen, dass auch die Favela-Bewohnerin, zumindest wenn sie einen Internetanschluss hat, die Suchmaschine anwerfen kann und somit dem totalen Archiv ausgesetzt ist.

    Das mit dem Speichervorgang als Remix ist eine Übertreibung, ja. Ich glaube, das nehme ich wieder raus.

    Auch eine Übertreibung ist die „totale Naivität“; aber angesichts der unermesslichen Informationsmassen erscheint das eigene Wissen doch so gering, dass es, ok, nicht „total“, aber im Verhältnis extrem naiv erscheint.

    Ich bin ja ziemlich empfindlich, was den „Material“-Begriff angeht. Meines Erachtens ist es in der Musik nicht so wie beim Bildhauer, der einen Felsblock (Material) vorfindet, und den dann bearbeitet (Form). Jedes Medium ist schon vorgeformt. So kann auch der einzelne Klavierton schon als Klangkomposition gelten, umgekehrt der gesamte Wagner-Ring wieder Medium des Remixes sein. Ich würde meinen, dass es nicht nur ums „zusammenstellen“ geht, sondern überhaupt erst mal ums ‚originelle‘ Finden. Wenn ich da ein eigenes Beispiel geben darf: Ich finde es unsäglich, dass zB immer wieder von Theoretikern der alte Adorno-Satz „wir müssen Dinge tun, von denen wir nicht wissen, was sie sind“ zitiert wird – das ist einfach abgedroschen, wurde schon tausendmal zitiert. Ich habe in einem Text mal den Satz zitiert, der ganz nebenbei in dem Godard-Film „Weekend“ gesprochen wird – „Die Inakzeptanz der modernen Musik ist eines der größten Desaster der Kunstgeschichte“; ein super Satz, den kein Mensch kennt (tatsächlich haben mich mehrere Leute abgeschrieben mit der Frage, wo ich den denn genau her habe), irgendwie empfinde ich da eine kleine eigene Leistung dabei, den ausfindig gemacht zu haben und re-publiziert zu haben. Es gibt auch deutsche Blogs, wie zum Beispiel den von Peter Glaser, der, so erscheint es mir zumindest, fast nie anderes deutsche Blogs zitiert sondern immer Zeug aus dem amerikanischen Raum hierherbringt; darin sehe ich durchaus eine Form von selbständiger Arbeit, Trüffelschweinearbeit!

    Das „Wie“ wiederum ist so mannigfaltig, dass ich es schlechthin noch nicht als Maxime preisen würde, es ist selbstverständlich, dass der Komponist irgendwas macht, oder? Konkreter habe ich es benannt in der „Ästhetik der großen Zahl“; interessant finde ich auch die Idee, dass die Art der Suchabfrage in den Fokus rückt, wie Michael Seemann beschreibt: http://www.ctrl-verlust.net/glossar/queryology/). Wie du auch sagst, ist mein Text vor allem eine (suggestive) Anhäufung von Zeitbeobachtungen. Vielleicht könnte man es auch noch katalogartiger oder fragmentarischer bzw. aphoristischer anlegen. Besser krieg ich’s augenblicklich aber nicht hin.

    Du sprichst zuletzt noch eine Unsicherheit bei mir an: Inwiefern nun die Materie wichtig ist oder nicht. Im Text habe ich doch sehr auf die Immaterialität des Digitalen gesetzt, aber vielleicht werden die Tiefseekabel und Serverfarmen irgendwann doch ein Problem. ( http://www.tagesanzeiger.ch/digital/internet/Das-Internet-platzt-aus-allen-Naehten/story/29807040 )
    Solange das aber noch Spekulationen sind, lasse ich den Aspekt doch mal aus.

  4. «Ich bin ja ziemlich empfindlich, was den “Material”-Begriff angeht. Meines Erachtens ist es in der Musik nicht so wie beim Bildhauer, der einen Felsblock (Material) vorfindet, und den dann bearbeitet (Form). Jedes Medium ist schon vorgeformt.»

    Aber das gilt doch auch für den Bildhauer! „Unbearbeitetheit des Materials“ als bildhauerische Ausdrucksfom gibt’s ja auch. Vgl. etwa auch die weiße Leinwand in „Kunst“ von Yasmina Reza.

    «Wenn ich da ein eigenes Beispiel geben darf:»

    Erlaube mir, jetzt auch einmal zwei eigene Beispiele für den Umgang mit dem totalen Archiv zu geben: Zwei Kompositionen für Player Piano, die einen algorithmischen Remix zweier Klavierstücke der klassischen Moderne darstellen.

    „Piano-Rag Morph“ (http://www.archive.org/download/ArsLongaVitaBrevis/p-rmorph.mp3
    ) is based on Igor Stravinskij’s „Piano-Rag Music“ of 1919. „Morphe héroïque“ (http://www.archive.org/download/ArsLongaVitaBrevis/p-rmorph.mp3
    ) is based on Erik Satie’s „Prélude de La Porte Héroïque du Ciel“ of 1894. Standard MIDI Files of these compositions I found in the WWW were processed with the Style Morpher software (http://www.ntonyx.com/sm24.htm). The result was finished manually in a MIDI Sequencer in 2007 (Stravinskij) and 2008 (Satie).

    Viel Spaß :-)

  5. Und weil’s so schön war, jetzt auch noch der korrekte Satie-Link (http://www.archive.org/download/ArsLongaVitaBrevis/morphero.mp3), sorry :-(

  6. Kreidler sagt:

    witzige stücke, die software sieht allerdings einladend aus!

    piano rag music ist übrigens ein leib-und-magen-stück von mir. für die damalige zeit war das eine art remix von popmusik.