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Der Computer und die Avantgarde @Frieze

Björn Gottstein hat für die Zeitschrift Frieze einen Artikel über die Debatte um Computermusik, die seit Frühjahr 2010 läuft, geschrieben.

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Obschon Musik früh und in hohem Maße von der Digitalisierung betroffen war, hat man sich im Bereich der Kunstmusik lange davor gescheut, die Konsequenzen in Bezug auf eine Ästhetik avantgardistischen Anspruchs zu benennen. Dabei geht es nicht um rein technische Fragestellungen, die in Zeitschriften wie dem Computer Music Journal hinlänglich beantwortet werden. Es geht auch nicht um ein zu verhängendes Streichquartettverbot. Sondern darum, ob und wie die Neue Musik dem Erfahrungshorizont der Gegenwart Rechnung zu tragen in der Lage ist.


http://frieze-magazin.de/archiv/kolumnen/strgaltentf-der-computer-und-die-avantgarde/

(nur für registrierte Mitglieder)

Ein Erratum des Autors ist zu korrigieren: Anders als Gottstein schreibt habe ich nicht bei Mahnkopf studiert.

In der nächsten Ausgabe der „Darmstädter Beiträge für Neue Musik“ wird es dann einen ausführlichen Text von mir geben über meine Kompositionssoftware COIT; darin gehe ich auf einige zentrale Punkte der Auseinandersetzung ein bzw. kann sie dann hoffentlich am Beispiel klären.

Das totale Archiv (7): Die Menschheit ist ewig

Zur Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der sechste Teil stellte fest: Die digitalen Archive sind nicht mehr zerstörbar. Der siebte Teil nun ergänzt: Auch die Menschheit ist nicht mehr zerstörbar!

 

7. Die Menschheit ist ewig

Natürlich sind nicht alle Geschichten erzählt, nicht alle Bilder gemalt und nicht alle Musik komponiert, nicht alles ist schon dagewesen. Aber vieles! – im Verhältnis zu dem, was Menschen erfassen können. Neu ist das Ausmaß des Alten. YouTube gibt es seit sechs Jahren. Pro Minute werden dort derzeit 48 Stunden Videomaterial hochgeladen. Welche Massen wird man da in fünfzig Jahren haben? Die Archive wachsen und wachsen. Es ist kaum anzunehmen, dass sie sich wieder zurückentwickeln.

Nach gegenwärtiger Sachlage ist keine messianische und keine technisch ausgelöste Apokalypse zu erwarten. Natürlich gibt es gewaltige Katastrophen, aber sieben Milliarden Menschen, mit Technik und Know-How ausgestattet und über den Globus verteilt, sind zwar leider beträchtlich dezimierbar, doch schwerlich ausrottbar. Trotz aller existierenden Waffen wäre es logistisch unwahrscheinlich schwer, die gesamte Menschheit vom Erdball zu tilgen. So grauenhaft der Zweite Weltkrieg auch war, er hat unsere Population nur um zwei Prozent dezimieren können. Zudem darf man hoffen, dass diese Zeiten vorüber sind.

Das 20. Jahrhundert stand im Zeichen des Glaubens, dass die Menschheit sich früher oder später selbst zerbomben wird. Zukunftsvisionen waren praktisch immer düster; wer in der Literatur oder im Kino in die Zeitmaschine stieg (The Time Machine, Terminator, Blade Runner), zog in den Krieg. Aber allmählich dürfen wir annehmen, dass diese Ängste ausgestanden sind. Anzunehmen ist, dass noch Millionen Jahre lang Menschen leben,[1] sofern nicht höhere Gewalten erscheinen. Mit dem Abschütteln der Religionen hat die Menschheit Ewigkeit erlangt.

Die Erkenntnis, dass kein Gott dem irdischen Leben ein Ende setzen wird, hatte in der Neuzeit am prominentesten Nietzsche, und er gab dieser Ungeheuerlichkeit durch eine weitere unchristliche Ungeheuerlichkeit Ausdruck: die Lehre von der ewigen Wiederkehr. Nun sind Ungeheuerlichkeiten schwer auszuhalten. Im 20. Jahrhundert kamen die Dystopien auf, die negativen Utopien, die mehr oder minder den Untergang der Menschheit, wie wir sie kennen, skizzieren. Das hatte seine realen Anstöße, darin steckt aber insgeheim auch postreligiöse Eschatologie. Der Übermensch, der gottgleich wird, wird zuständig für den Weltuntergang. Wenn auch durch einen Atomkrieg: wenigstens überhaupt ein Schlusspunkt statt einer praktisch endlos dahinlebenden Menschheit.

Allein, es wird nicht eintreten. Wir müssen es mit der Ungeheuerlichkeit aufnehmen. Spürbar wird sie im totalen Archiv. Bislang war alles Materielle dem Verfall ausgeliefert; dass es einmal digitalisiert und dadurch ewig leben wird, konnte man sich nicht ausmalen. Jetzt muss ich davon ausgehn, dass was ich hier schreibe, noch in hundert Millionen Jahren existieren wird, ob es gelesen wird oder nicht. Die Vergangenheit, genauer gesagt alles, was von unseren Vorgängern hinterlassen wurde und digitalisierbar ist, wird digitalisiert werden, und dieser Vorgang wird irgendwann als abgeschlossen gelten. Dann sind sämtliche Bibliotheken und Museen, öffentlichen und privaten Archive Digitalisate; ab dann wird nur noch die ständige Gegenwart hinzugefügt. Alles wird allen verfügbar sein.[2] Und das Archiv ist unzerstörbar, weil es sich millionfach kopieren lässt und auf Nanometern Platz hat. Es wird kein geschichtliches Dunkel mehr geben, stattdessen die Möglichkeit der virtuellen Zeitreise an helle, vielleicht nur etwas pixelige Datenmeere. Dieses Kompendium gibt Informationen her, über die bislang nur gemutmaßt werden konnte; beispielsweise lassen sich, wo bislang bloß Hochrechnungen möglich waren, seit Googles Digitalisierungen kompletter Bibliotheksbestände tatsächliche Untersuchungen über die Häufigkeit bestimmter Wörter in der gedruckten Sprache anstellen.

Und selbst wenn die Menschheit doch verschwände – ihr Wissen würde wohl auf einem Datenträger in einer Kapsel weiter durch Äonen geistern.

 


[1] Fünfhundert Millionen Jahre lang bleibt die Erde voraussichtlich bewohnbar.

[2] Alles, was digital wird, wird kostenlos: Ewan Morrison, Are books dead, and can authors survive? In: Guardian vom 22.8.2011, http://bit.ly/r3VvN5, recherchiert am 30.8.2011.

Wenn doch jetzt nur Marshall McLuhan da wäre

..damit er dem Typen da hinter uns sagen könnte, dass er von McLuhan keine Ahnung hat.

Marshall McLuhan, der gerne mit seiner Berühmtheit und seinen Slogans („The Medium is the Message“) kokettierte („The Medium is the Massage“), in einem Auftritt in Woody Allens „Annie Hall“.

Kreidler @ RBB Kulturradio

Fälschlicherweise hatte ich es schon für Montag angekündigt, jetzt aber stimmt’s: Heute abend von 21.04h bis 22h strahlt das RBB Kulturradio eine neue Kreidler-Portraitsendung von und mit Ulrike Klobes (live am Mikrofon!) aus. Einschaltpflicht für alle Kulturtechno-LeserInnen!

Kommentator oder Provokateur?
Der Komponist Johannes Kreidler

Er vertont den Verlauf der Aktienkurse oder lässt Komponisten aus Billiglohnländern für sich arbeiten. Mit Hilfe von Sampletechnik, computergestützten Verfahren und elektroakustischen Mitteln wird Kreidlers Musik zum gesellschaftspolitischen Gradmesser.

http://www.kulturradio.de/programm/sendungen/111109/musik_der_gegenwart_2104.html

Livestrom:
http://www.kulturradio.de/live.m3u

Das totale Archiv (6): Die Archive sind ewig

Zur Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der fünfte Teil handelte von der Informationsexplosion im Netz; als nächstes befassen wir uns mit dem Umstand, dass die digitalen Archive unzerstörbar sind.

 

6. Die Archive sind ewig

Ein technischer Aspekt des totalen Archivs ist eigens bemerkenswert: die digitale Sauberkeit. Ein Datensatz verwittert nicht. Entgegen der manchmal geäußerten Sorge, die digitalen Datenträger seien viel unbeständiger als die guten alten Analogmedien, wie zum Beispiel das „Holzmedium“ Buch, werden die Daten nicht kaputtgehen. Ist auch nur ein Film auf YouTube, ein Wikipedia-Eintrag bislang verschwunden, weil sein Trägermedium verblich? Die Technik ist den Daten gewachsen, parallele Server, auf verschiedenen Kontinenten stationiert und dezentral organisiert, garantieren Fortbestand, zumal alles allmählich im Nano-Bereich Platz hat. Tatsächlich sind digitale Daten unvergänglich, sie können verlustfrei auf den nächsten Datenträger umkopiert werden.[1] Und das geschieht ununterbrochen: Jeder Aufruf einer Website bedeutet ihre Multiplizierung auf das eigene Gerät, jede Aktion im Internet ist eine Kopieraktion. Unlängst wies ich einen Bekannten auf ein Interview mit Pierre Boulez von 1967 hin, das im Online-Archiv des Spiegels einzusehen ist. Der Bekannte übersah die Jahreszahl am Rand und glaubte, das Interview sei aktuell. Kein Wunder, er hielt ja keine vergilbte Spiegel-Ausgabe von 1967 in Händen! Moden bleiben kenntlich, aber der technische Stand der Reproduktion von Texten, wie auch von Fotos, Videos und Musik, ist kaum noch optimierbar, beziehungsweise verharrt auf einem pragmatischen Niveau. Es gibt Plattenspielersimulatoren, auf denen man die Jahreszahl einstellen kann; 1915 hat Toscanini anders geknackt als 1935. Der Schieberegler endet aber bei der CD oder beim Mp3, so wie man auch keine noch höherauflösenden Fotos und Filme mehr braucht. Fortan gibt das Medium keine neue Botschaft mehr ab. Alles Vergangene ist gleich weit entfernt, es wird  medial egalisiert.

„Erinnern heißt vergessen“, das ist eine menschliche Losung: Mit jedem Wiederaufrufen wird das Erinnerte neu geschrieben und verfälscht. Im Digitalen passiert das nicht. Bei der verlustfreien Kopie gibt es keine Mutation mehr. Das digitale Archiv steht still – wäre da nicht die Remix-Kultur, die bewusst Abweichungen produziert.

 


[1] Ein bisheriges Problem sind veraltende Formate, doch je mehr sich globale Standards, etwa der Pdf-Datei, durchsetzen, schwindet die Gefahr.

Wissensexplosion – Video

Im zuletzt geposteten Kapitel meines Textes „Das totale Archiv“ ging es um die Wissensexplosion, die durch das Internet passiert. Dazu kam unlängst auch ein hübscher ZDF-Beitrag:

http://blog.zdf.de/dermarker/archives/8542

(via Mario Sixtus)

Kreidler @ rbb Kulturradio Update

Heute abend, 21:04h bis 22h Mittwoch, 9.11. um 21.04h strahlt das RBB Kulturradio in der Reihe „Musik der Gegenwart“ eine Kreidler-Portraitsendung von Ulrike Klobes aus. Ich weise dann nochmal darauf hin…

Magnetresonator-Klavier

Das Video erläutert ganz gut ein Instrumenten-Projekt von Andrew McPherson:

The magnetic resonator piano is a hybrid acoustic-electronic instrument which uses electromagnets to augment a grand piano. This instrument expands the piano’s vocabulary to include infinite sustain, crescendos from silence, harmonics, and new timbres.

Das totale Archiv (5): Die Internetarchive beherbergen ungekannte Medienmassen

Zur Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der vierte Teil war ein Exkurs über das Wesen des technischen Fortschritts. Der fünfte Teil nun ist der Informationsexplosion gewidmet.

 

5. Die Internetarchive beherbergen ungekannte Medienmassen

Die Dampfmaschine ist ein großer Muskel, elektrische Leitungen sind Nervenbahnen – die Gerätschaften nähern sich den geistigen Gefilden. Die Industrialisierung war die Industrialisierung von Arbeitskraft, die Digitalisierung ist die Digitalisierung von Wissen.

Alle bisherigen Dokumente werden digitalisiert und gespeichert, und die Gegenwart sowieso. Jede Festplatte ist ein Stausee des Livestreams. Und da der Livestream selbst so umfangreich Informationen der Welt ansaugt, ist jede Information maximal ein Tag hinter ihm bereits eine Antiquität. Festplatten sammeln Geschichte. Was bringt uns die neue Technologie? Die Vergangenheit! Ähnlich dem demografischen Wandel erfolgt eine digitale Überalterung.

Jeder Mensch trägt nun ein übergroßes Gedächtnis mit sich herum, das in jedem Gerät schlummert. „Aus Massenmedien werden Medienmassen“ (Peter Glaser). Man spricht vom „Information Overload“ – es ist bereits ein gefühltes, aber immer faktischer werdendes totales Archiv. Im Netz entsteht die Ökonomie des „Long Tail“, die Nischenprodukte begünstigt: In geographisch begrenzten Räumen sind Nischenprodukte schwer verkäuflich, im globalen Raum des Netzes aber findet sich über kurz oder lang auch für’s Abseitigste ein Käufer. Tatsächlich ist es aber ein „Infinite Tail“, denn im Digitalen geht eigentlich nichts verloren.[1]

Da alle Medien heute Speichermedien sind, wird das, was wir später die Vergangenheit nennen, in ungekannter Detailliertheit abzurufen sein. Jede Twittermeldung, jede Facebook-Statusaktualisierung, jeder Bucheinkauf bleibt im Digitalen hängen; das Leben wird immer umfassender aufgezeichnet. Die derart angehäuften Relikte können zum virtuellen Abbild der Vergangenheit synthetisiert werden – Zeitreisen zurück sehen immer realistischer aus. (Man muss an Jorge Luis Borges Erzählung von den Kartographen denken, die eine Landkarte im Maßstab 1:1, genauso groß wie das Land selbst, erstellen,[2] oder von dem Kongress, der die Menschheit vertreten soll, und bald mit ihr identisch wird.[3])

Das totale Archiv ist riesig, und es ist ziemlich ungeordnet und anarchisch, ein „Anarchiv“ (Simon Reynolds). Jürgen Habermas prägte in den 80ern das geflügelte Wort der „neuen Unübersichtlichkeit“, aber man wird die 1980er im Vergleich zu heute als noch ziemlich übersichtlich belächeln. (Ähnlich wurde das Adjektiv „modern“ im 19. Jahrhundert gerne gebraucht, aber die sogenannte Moderne überbot das dann extrem.) Pluralismus ist das Schlagwort der Postmoderne, aber erst das Internet ist das postmodernste Ding überhaupt,[4] und es wird immer ‚schlimmer’. Wenn unendlicher Speicherplatz vorhanden ist, ist die Entropie, die Steigerung des Chaos, unendlich. Licht wird der Wärme, dem Teilchengewusel weichen. Die Bibliothek von Babel,[5] in der sich sämtliche möglichen Bücher befinden, das heißt sämtliche möglichen Buchstabenkombinationen, würde in diesem Universum materialiter keinen Platz haben. Im Digitalen aber zeichnet sich die Vision ab. Analog zum Mooreschen Gesetz, wonach Prozessoren alle achtzehn Monate ihre Leistung verdoppeln, verdoppelt sich das geschätzte Wissen der Welt alle fünf bis zwölf Jahre, Tendenz beschleunigend.[6] In der Informationsgesellschaft nimmt die Menge an Daten im Verhältnis zu anderen Bereichen der Sozial- und Wirtschaftsordnung überproportional zu: Es passiert eine Informationsexplosion.

Für die Geisteswissenschaften stellt sich die Frage nach dem Neuen noch verschärft. Eine Dissertation soll per definitionem einen noch nicht bearbeiteten Gegenstand haben. Also muss am Beginn der Arbeit der aktuelle Forschungsstand aufgearbeitet werden. Doch die Masse an möglichen Quellen ist nicht zu bewältigen, jeder Gedanke könnte schon geschrieben worden sein. Das war natürlich auch früher schon der Fall, aber zu Printzeiten noch halbwegs hierarchisch und geographisch eingedämmt: die örtliche Universtitätsbibliothek, dazu das Fernleihsystem und vielleicht ein, zwei bewilligte Forschungsreisen zu entfernteren Archiven – mehr war schlechterdings nicht möglich. Wie behütet war man in den Limits der analogen Welt! Im Digitalen triumphieren die Millionen Resultate, die Google aus der ganzen Welt an den heimischen Bildschirm schwemmt, über jede Traditionslinie und jede Landesgrenze; alles passiert im Fernstudium. Wie der Archäologe, der sich durch nichts geringeres als Jahrmillionen einen Weg bahnt, schlägt der Medienmensch mit jeder Suchanfrage bei Google eine Schneise durch Millionen Dokumente – jede Recherche ist Archäologe.

Jean-Paul Sartres Held in Der Ekel begibt sich für den Rest seines Lebens in die Bibliothek und liest, angefangen beim Buchstaben A. Beim letzten Universalgelehrten, Gottfried Wilhelm Leibniz, mag das noch die ganze Bibliothek gewesen sein. Heute muss man, selbst der Forscher australischer Steppengräser, die Abertausende Ergebnisse nur eines einzigen Google-Suchbegriffs sichten. Spezialisten werden immer noch spezialisierter, es ist des Ausdifferenzierens kein Ende. Die Tendenz der zunehmenden Zahl von Fußnoten ist frappant, und 1500 Quellen ausfindig zu machen und in einen Zusammenhang zu bringen ist womöglich eine größere kulturelle Leistung, als etwas (vermeintlich) Eigenes in die Welt zu setzen. Es gibt die Faulheit des Copy&Paste, aber eine ebenso große des ignoranten Drauflosschreibens, der Autismus der Autonomie. Wenn es in der vernetzten Welt etwas nicht mehr gibt, dann tabula rasa. Techniken der Recherche, Stile der Kompilation und Zusammenfassung sind gefragt; die Welt braucht intelligente Filterung und Aggregation. Es gibt aber noch eine Alternative: Vielleicht ist die einzig adäquate Form der Wissensaneignung heute und in Zukunft die Funktion „Zufälliger Artikel“ auf Wikipedia.

Noch immer ist der Abschied von verbindlicher Geschichtsschreibung nicht vollzogen. Im Gegenteil, es ist Bedürfnis und Mode geworden, „Kanons“, der deutschen Literatur, der Musik, der Kunst aufzustellen, so wie allenthalben in der beliebigen, aber unbeliebten Postmoderne um Werte gerungen wird. Mitte der Nullerjahre sollte einmal am Freiburger Institut für Neue Musik eine Liste von Schlüsselwerken der Neuen Musik erstellt werden, die Studienanfängern, gerade aus anderen Erdteilen, Orientierung gebe. Am Ende einer endlos zu werden drohenden Sitzung musste ob der Fülle der eingehenden Vorschläge aufgegeben werden. Es sollen Werte geschaffen werden, doch scheitert das nicht daran, dass keine da sind, sondern weil zu viele da sind. Musikfestivals wollen heutzutage noch die Bandbreite der Gegenwartsmusik abbilden – diese Illusion hat die Bildende Kunst längst hinter sich gelassen und fokussiert vielmehr auf Stilistiken, engumrandete Themen und Einzelpersonen. Der Konzeptkünstler Timm Ulrichs beklagte im Alter, dass er so manche Idee schon früher gehabt hätte, die andere Künstler später, unwissend, aber mit viel größerem Erfolg umsetzten. Allen Ernstes forderte er, der wiedergeborene Morgenstern, ein Patentamt für künstlerische Konzepte.[7] Das ist ein Stück weit verständlich, aber es geht schlichtweg nicht, oder nicht mehr. Der Punkt ist erreicht, an dem es nicht mehr möglich ist, bei einer Idee erst zu prüfen, ob sie nicht jemand anderes schon hatte. Als Künstler sollte man bislang die gesamte Kunstgeschichte kennen, um wirkliche Innovation schaffen zu können. Es ist abzusehen, dass das undurchführbar wird oder schon ist.

Dennoch ist Kunst ohne irgendeinen Neuheitsanspruch keine Kunst. Niemand braucht Stilkopien. Abgesehen davon, dass man es ein Stück weit mit Nietzsche halten muss, der verkündete, ohne Naivität seien wir der Historie schutzlos ausgeliefert, und dass man darauf hoffen kann, dass Zeit stets ein Lineares (Thermodynamik!) enthält, existiert eine probate Lösung: Der technische Fortschritt kann noch ein Garant für Neuheit sein. Werke, die erst mit aktuellen technischen Mitteln realisierbar sind, können sich einer gewissen Novität sicher sein. Wenn noch Avantgarde möglich ist, dann dank neuer Technologie.

 


[1] Was leider nur theoretisch der Fall ist. De facto verschwinden viele Dokumente wieder aus dem Netz, etwa aus Urheberrechtsgründen oder wegen angeblicher Wettbewerbsverzerrung. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten mussten ihre Online-Archive auf Druck der Printindustrie geradezu leerfegen (vermutlich um circa 80 Prozent verkleinern), was zur Schöpfung des Unworts „depublizieren“ veranlasste.

[2] Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke – Gedichte I, herausgegeben von Gosbert Haefs und Fritz Arnold, Wien 1991, S. 151-160.

[3] Jorge Luis Borges, Der Kongress, in: Gesammelte Werke – Der Erzählungen zweiter Teil, herausgegeben von Gosbert Haefs und Fritz Arnold, Wien 1991, S. 105-124

[4] Niklas Hofmann: YouTube rettet die Postmoderne, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.9.2011, http://bit.ly/royUex, recherchiert am 24.9.2011.

[5] Eine durch Jorge Luis Borges bekannt gewordene literarische Fiktion. Vgl. Jorge Luis Borges, Von der Strenge der Wissenschaft, in: Gesammelte Werke – Der Erzählungen erster Teil, herausgegeben von Gosbert Haefs und Fritz Arnold, Wien 1991, S. 285.

[6] Peter Charles, Nathan Good, Laheem Lamar Jordan, Joyojeet Pal, How Much Information 2003? Studie der School of Information Management and Systems der University of California at Berkeley, http://bit.ly/pCIVPw, recherchiert am 30.8.2011.

[7] Kunstforum International Band 206 (Januar-Februar 2011), S. 262.

Jesus, der Filesharer

Matthäus 14, 13-21:

Als Jesus all das hörte, fuhr er mit dem Boot in eine einsame Gegend, um allein zu sein. Aber die Leute in den Städten hörten davon und gingen ihm zu Fuß nach.
Als er ausstieg und die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen und heilte die Kranken, die bei ihnen waren.
Als es Abend wurde, kamen die Jünger zu ihm und sagten: Der Ort ist abgelegen und es ist schon spät geworden. Schick doch die Menschen weg, damit sie in die Dörfer gehen und sich etwas zu essen kaufen können.
Jesus antwortete: Sie brauchen nicht wegzugehen. Gebt ihr ihnen zu essen!
Sie sagten zu ihm: Wir haben nur fünf Brote und zwei Fische bei uns.
Darauf antwortete er: Bringt sie her!
Dann ordnete er an, die Leute sollten sich ins Gras setzen. Und er nahm die fünf Brote und die zwei Fische, blickte zum Himmel auf, sprach den Lobpreis, brach die Brote und gab sie den Jüngern; die Jünger aber gaben sie den Leuten, und alle aßen und wurden satt. Als die Jünger die übrig gebliebenen Brotstücke einsammelten, wurden zwölf Körbe voll.
Es waren etwa fünftausend Männer, die an dem Mahl teilnahmen, dazu noch Frauen und Kinder.

Ja, statt sich das Essen zu kaufen kopiert’s der Meister einfach!