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Das totale Archiv (9): Die Collage ist, jetzt erst recht, die Form der Zukunft

Zur Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der achte Teil befasste sich mit der zunehmenden Präsenz geschichtlicher Dokumente, ergo der Geschichte. Der neunte Teil beschreibt eine der Konsequenzen daraus.

 

9. Die Collage ist, jetzt erst recht, die Form der Zukunft

Die Erdoberfläche ist begrenzt, nicht hingegen die digitalen Archive. Was sind die sieben Kontinente gegen das digitale Universum? Was ist das eigene Leben gegen das Panoptikum der Geschichte? Im Verhältnis zur Gegenwart wird die archivierte Vergangenheit immer mächtiger und immer präsenter.

Das totale Archiv ist allerdings auch die totale Amnesie, denn alles ist immer nur winziges Fragment aus einem unfassbaren Großen, so wie selbst tausend Jahre kosmologisch noch ein Winziges sind. Jede Recherche ist Glückssache, jede Geschichtskonstruktion willkürlich. Soll man da überhaupt noch das Mögliche unternehmen und sich informieren? Das totale Archiv ist auch die totale Naivität, der Horizont ist weggewischt.[1] Theoretisch war das immer so, Unendlichkeit war immer  – „Ich weiß dass ich nichts weiß“ sprach schon Sokrates, und Napoleon sekundierte: „Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat.“ Dennoch hat man seitdem viel zu wissen gemeint und mit großen Worten Geschichte geschrieben. Die Praxis arrangierte sich, pragmatische Lösungen gab es, Verdrängung funktionierte und Autoritäten schufen Gesetze. Nun aber wird die Unendlichkeit materiell und demokratisch, auf Festplatten und Displays in jeder Hosentasche, unleugbar. Und was sind wir blutjung, wie übersichtlich ist alles noch!

In Jorge Luis Borges’ Erzählung Der Kongress droht die Repräsentation der Menschheit mit der Menschheit selbst identisch zu werden. In dem Moment, in dem das erkannt wird, beraumt man die Vernichtung der Repräsentation an, eine gewaltige Verbrennung – doch die Idee ist in der Welt und somit schon unzerstörbar. In der Bibel verhindert Gott den Bau des Turms zu Babel, indem er die Sprachenvielfalt schafft, die Verwirrung der Menschen durch Komplexität. Der neue Turm ist jedoch eben diese Komplexität. Die Dystopien waren wenigstens überhaupt eine Perspektive, beide, religiöse wie säkulare Apokalypse, übten nötige Reduktionen von Komplexität. Nun bleibt die Abschaltung, ja, Zerstörung der Archive literarische Fiktion. Symbolisch wird sie aber sicher immer wieder praktiziert werden. Jedes „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ ist eine solche.

Wir wissen: Es ist irreversibel. Die Archive wuchern ins Exorbitante, jede Aktion ist, nun nachweisbar, die differente Wiederholung eines bereits Gewesenen. Auch der letzte technologische Schrei ist ein Echo. Kaum hat man einen neu erworbenen Computer aus dem Laden getragen, ist er schon veraltet – man lebt immer in der Vergangenheit. Die postmoderne Diagnose, dass wir also jetzt Re-enactmens, Re-Mixes, Aktualisierungen statt des Neuen beziehungsweise als Neues produzieren, sie gilt weiterhin, sie gilt mehr denn je, sie gilt für immer. Wie sollte dies auch überwunden werden? Die Unschuld ist verloren. Was auch immer für neue Epochen kommen, ein wesentliches Moment der Postmoderne, ob ironisch oder nicht, wird in ihnen bestehen bleiben.

2010 erschien David Shields Buch Reality Hunger,[2] ein Manifest der Collage. Shields zerlegt den Realitätsbegriff, kritisiert die Romanform und plädiert für ein freizügigeres Urheberrecht. Über 600 kurze Abschnitte, oft Zitate, montiert der Autor. (Nur zähneknirschend führt er auf Druck des Verlags hinten Quellennachweise an.[3]) Ein Werk ist heute vor allem die gigantische Lektüreleistung, die ihm vorausgeht. Das Feuilleton war gespalten: Verwundert fragte ein Schweizer Rezensent, ob es denn in Amerika keine Postmoderne gegeben hätte. Natürlich hat sie das, aber sowenig man fragen kann, was denn nach Monarchie und Demokratie als nächstes kommt, kann man mit Blick auf den Kalender nun erwarten, dass die Postmoderne vorüber sein müsse. Auch wenn es die oben genannten Ermüdungserscheinungen und Gegenströmungen gibt, zeigt sich bei der Digitalisierung, dass sie zwar eine Medienrevolution darstellt, aber bislang nicht so sehr eine neue Epoche begründet, als dass sie postmoderne Phänomene, voran den Pluralismus, noch potenziert. So gesehen waren die 80er und 90er erst prä-postmodern. Bei allen Fachdiskussionen um Moderne, Postmoderne, reflexive Moderne oder zweite Moderne sollte man auch respektieren, dass im Alltag für die gegenwärtige Situation mittlerweile ein unprätentiöser Postmoderne-Begriff gebräuchlich ist.

Die heutigen Technologien sind immer auch Speichermedien, und sie speichern nie einfach nur den einen Vorgang, den man eingibt, sondern auch Kontext und Geschichte, so wie praktisch jedes Foto auch ein Zitat von Dingen beinhaltet. Die Datei hat nicht nur einen Inhalt, sondern auch eine Form, die der benutzten Software; und in Zeiten der digitalen Vernetzung ist jedes Zeichen ein potentieller Link ins totale Archiv, jede Datei ist ‚soft’. Man ist heute sensibilisiert genug, im Speichervorgang schon einen Remix zu erkennen. Und da heute also Paneklektizismus ist, ist es müßig, noch von Eklektizismus zu sprechen. Die postmodernen Techniken werden Standard, darum braucht es dafür eigentlich kein Manifest mehr. So ist die Collage nicht mehr nur Kunstform, sondern ein ubiquitäres Prinzip, seien es Wikipedia-Artikel, Schönheitsoperationen und Genderattribute, modulare Möbel, die Mischkalkulation prekärer Arbeitsverhältnisse, Patchwork-Familien, die Multikulti-Gesellschaft oder Lebensphilosophien.

Collage, Assemblage, Musique concrète, Bricolage, Pastiche, Cover-Version, Intertextualität, Remix, Sampling, Appropriation Art, Bastard Pop, Patch-Work, Mash-Up – man kann die Idee als alten Hut abtun (wie man ja auch immer mehr in alten Werken, zum Beispiel der Zauberflöte, eine Collage erkennt), und doch, ob man will oder nicht, ist sie das Signum des Internetzeitalters, seine typischste Form. Gottfried Benns Aussage, „Die Kunst der Zukunft wird die Collage sein“, war weitsichtiger, als man dachte.

 


[1] Chris Anderson vom Wired Magazine spricht vom „Petabyte Age“, dessen Datenmassen nur noch mit sehr selbständig arbeitenden (und nicht mehr durchschaubaren) Algorithmen bewältigt werden können. Er kündet daher das Ende der Wissenschaft in der uns bekannten Form an. Chris Anderson, The End of Theory – Will the Data Deluge Makes the Scientific Method Obsolete? In: Edge vom 30.6.2008, http://bit.ly/S0Xq, recherchiert am 30.8.2011.

[2] David Shields, Reality Hunger, München 2011.

[3] Was vielleicht aber auch nur von Shields so dargestellt wird.

Kreidler-Portraitsendung von rbb kulturradio online

Jemand hat die Portraitsendung auf RBB Kulturradio von Ulrike Klobes (Kulturtechno berichtete) online gestellt.

Große Trommel

(via viele)

Die Erde als Computer

Susan Stockwell führt uns vor Augen, dass die ganze Welt digitalisiert wird.

Man beachte die Detailliertheit – Anden, Sahara und der Amazonas etc. sind erkennbar.

(via this is colossal)

24 Hours of Flickr Photos

Erik Kessel hat sämtliche Bilder, die auf Flickr an einem Tag hochgeladen wurden, ausgedruckt und im Foam Fotografiemuseum Amsterdam ausgestellt. Ein kleiner Ausschnitt aus dem totalen Archiv.

(via Nerdcore)

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Das meint der Kulturtechno-Karikaturist dazu:

Das totale Archiv (8): Viel Vergangenheit umgibt uns

Zur Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der siebte Teil handelte von der Ewigkeit der Menschheit auf Erden. Als nächstes ist von dem zunehmenden Gefühl der „Posthistoire“ die Rede.

 

8. Viel Vergangenheit umgibt uns

Die Last des Vergangenen ist eine bekannte Erfahrung. „Ich bin so jung, und die Welt ist so alt“ klagte Georg Büchner im Jahr 23 nach Büchners Geburt, respektive 1836 nach Christi Geburt. Seit Büchner diesen Satz gesagt hat, ist die Welt allerdings schon wieder um 184 Jahre gealtert, sie wird immer noch älter und es gibt immer neue junge Menschen. Der alte Goethe äußerte Eckermann gegenüber, dass das Meiste schon gesagt sei, wie der späte Brahms sich am Ende der Musik glaubte. Nietzsche widmete diesem Umstand seinen Text Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben; „Fin du siècle“ hieß vor hundertzwanzig Jahren die Stimmung, heute leben wir in einer ganzen Epoche, die das Danach-Sein empfindet: die Post-Moderne. „Der gegenwärtige Irakkrieg war derart vorhergesehen, vorprogrammiert, vorweggenommen, vorgeschrieben und vormodelliert, dass er alle Möglichkeiten, bevor sie eintrafen, ausgeschöpft hat. Er wird derart möglich geworden sein, dass er nicht mehr stattzufinden braucht. Nichts von einem realen Ereignis ist mehr in ihm.“[1] trauerte Jean Baudrillard am Vorabend des Irakkriegs 2003. Wo keine Neologismen geprägt werden, gilt für jedes Wort Terenz’ († 159 oder 158 vor Christus) Maxime: „Es gibt nichts, was nicht früher schon gesagt worden wäre.“, oder: „Am Anfang war das Wort, seither gibt es Zitate.“ (Thomas McEvilley)

Die Geschichte wird schwerer und schwerer, was seit je so war, doch jetzt kriegen wir es fundamental zu spüren – im totalen Archiv. Die postmoderne Lösung dafür hieß: Ironie. Umberto Eco hat es in der Nachschrift zum Roman Der Name der Rose instruiert – man brauche nur die Anführungsstriche immer mitzukommunizieren, denn jede Kommunikation ist aller Wahrscheinlichkeit nach Zitat.[2] Die Unschuld ist verloren. Man nehme folglich die Ironie als Tugend und Pflicht, als technische und stilistische Herausforderung, um der Geschichte stolz zu trotzen.

Vielleicht hat jede Epoche ihre Postmoderne (und ihren Manierismus, und ihre Romantik). Das Wohltemperierte Klavier ist – technologiegetragener – postmoderner Barock, Beethovens Symphonien sind nicht einfache Symphonien, sondern retrospektive postmoderne Klassik, seine späten Fugen sind Hyperfugen, Miguel de Cervantes’ Don Quixotte ist ein Werk der Dekadenz schlechthin. Im Pop scheint es Gesetz zu sein, dass jede Dekade ihren Retro-Zwilling hat.[3] (Vielleicht hat sogar die Epoche der Postmoderne, die ideengeschichtlich in den 80ern ihren Anfang nahm, noch ihre Postmoderne.) Was kam jeweils danach?

Zumindest ist auch die Postmoderne gealtert und gewandelt: Statt der Mehrfachkodierung, dem raffinierten Hybrid aus Alltags- und Hochkultur, haben wir das Nebeneinander der Individualitäten; das postmoderne „anything goes“ stimmt materialistisch nicht, es ist in dieser Welt beileibe nicht alles möglich; das postmoderne Schlagwort „Dekonstruktion“ ist heute annähernd Stammtischjargon und ermüdet mitunter; die großen Erzählungen, die man zu Ende wähnte, können ja wieder anfangen – zumindest der Kapitalismus ist bislang nicht zu Ende erzählt: Schönheit mag keine Angelegenheit der Kunst mehr sein, aber sie bleibt eine des Heiratsmarktes. Authentizität, Ethik und Ernsthaftigkeit sind Gegenbewegungen zur Postmoderne.

Gewiss widerlegen jedenfalls die Digitale Revolution, der Clash der Kulturen und die weltweiten Finanzbeben Francis Fukujamas These aus den 1990ern, die Geschichte sei zu Ende. „Es wird immer solche geben, die meinen, wenn sie nicht weiter können, die Sprache sei erschöpft“ (Ernst Jünger).

Doch die Idee der Posthistoire steht im Raum. Sie ist zwar vorerst falsifiziert, kam aber nicht von Ungefähr. Es ist wiederum eine Frage der Perspektive, inwieweit wirklich Neues aufkommt oder doch nur Altes in Variation wiederkehrt. Zu Beginn des Personal Computers unkte man, das Herunterscrollen am Bildschirm regrediere vom Buch zurück zur Schriftrolle. Oder es gibt die These, wonach der Islam noch eine lange Geschichte vor sich habe, jene Geschichte, die der Westen hinter sich weiß: Reformation, Gegenreformation, Aufklärung, und so weiter. Man müsste bei solch einer Aussage wieder ihren Abstraktionsgrad diskutieren; was neu und was alt ist korreliert mit den Ansichten darüber, wie abstrakt oder konkret etwas ist. Dass aber verstärkt ein posthistorisches Gefühl aufkommt, lässt auf eine weitergehende Tendenz schließen.

Wir haben natürlich keine Gewissheit darüber, was die Zukunft bringt. Mit Überraschungen bleibt zu rechnen. Aber materiell zeichnen sich eindeutig Erschöpfungsprozesse ab: In der Musik etwa wurden im 20. Jahrhundert praktisch alle nur möglichen Klänge, die im Spektrum des menschlichen Ohres erzeugbar sind, entdeckt; diesbezüglich ist der Wahrnehmungsapparat endlich. Die Experten sind sich einig, dass es so gut wie keinen nie gehörten Klang mehr gibt, vergleichbar dem Periodensystem der Elemente, dem heutzutage nur noch sehr selten und unter großem Aufwand ein neuer Fund hinzugefügt wird.

 


[1] Jean Baudrillard, Das Ereignis, Weimar 2007, S. 8.

[2] Umberto Eco, Nachschrift zum ‚Namen der Rose’, München 1986, S. 76ff.

[3] Dazu: Simon Reynolds, The 1980s revival that lasted an entire decade, in: Guardian vom 22.1.2010, http://bit.ly/6veBSv, recherchiert am 30.8.2011.

Kreidler @Radiosendung über Schöpfungsprozesse

Heute abend, 23.03h sendet SWR 2 eine Sendung von Martina Seeber über Kreativität und Schöpfungsprozesse bei Komponisten, worin u.a. auch ich zu Wort komme.

SWR2 JetztMusik Träumen, rechnen, konstruieren, würfeln

Von Schöpfungsprozessen und kreativen Strategien

Sendung am Montag, 14.11.2011, 23.03 bis 0.00 Uhr

Von Martina Seeber

Ein Klang, schillernd in sämtlichen Farben und Tönen, so beschreibt Sofia Gubaidulina die kurz aufblitzenden akustisch-visuellen Initialzündungen ihrer Kompositionen. Der Rest sei harte Arbeit, kein Spaß. Giacinto Scelsi meditierte und improvisierte, während John Cage würfelte, um sich allzu persönlichen Entscheidungen zu entziehen. Kreative Prozesse lassen sich in der zeitgenössischen Musik auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Manche Methoden haben mehr mit experimenteller Physik, Malerei oder Kochkunst zu tun als mit der Ausarbeitung akustischer Einfälle. Komponieren ist eine Kulturtechnik und damit dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Darin liegt der Hauptgrund, weshalb die Hirnforschung der Entstehung von Musik bis heute nicht auf die Schliche gekommen ist. Die höchst individuellen Strategien und Schöpfungsprozesse verraten dafür umso mehr über die Künstler und ihre Zeit. Es gibt nicht eine, sondern tausende von Antworten auf die Frage: Wie kommt die Musik in die Welt?

Livestrom:
http://mp3-live.swr.de/swr2_m.m3u

Tschaikowsky, 6. Symphonie, Hörerpartitur

(via Heike Matthiesen)

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Das meint der Kulturtechno-Karikaturist dazu:*

*Ich werde in nächster Zeit öfter mal den guten alten Titanic Karikaturen-Generator einsetzen.

Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft: Tanzstile

Eine interessante Infografik über die Entwicklung der Tanzmusik in der westlichen Welt:

http://www.thomson.co.uk/blog/wp-content/uploads/infographic/interactive-music-map/index.html

(via 11k2)

Vgl:
Map of Metal
Ishkur’s Guide to Electronic Music

Siehe auch: Die „Einleitung in die Musiksoziologie“ aus Feeds. Hören TV.

Naturschönheit: Bewegungsmuster

Erstaunliche Muster, die sich bei der Bewegung unterschiedlich langer Pendel ergeben; ebenso erstaunliche Muster bei Vogelschwärmen.
Fragt sich, ob das eine mit dem andern etwas zu tun. Mit Kunst hat beides jedenfalls nichts zu tun – auch wenn die Pendel in einem Theater vorgeführt werden und zu den Vögeln Habanera-Musik erklingt.