Johannes Kreidler
Sound and Gravity
Lecture at „Materials of Sound“ Symposium
Sydney 24.8.2016
Artspace Sydney
http://see.unsw.edu.au/news/materials-of-sound
Sound and Gravity
Aus Tralien #18
Sydney 23.8.
Nachts, bevor es morgens zum Flughafen geht, klassischer Versagenstraum. Im Gymnasium am Ende einer Unterrichtsstunde, im Biologieraum, muss ich mein Zeug packen um in einen anderen Raum zur nächsten Stunde zu gehen, aber das Packen dauert und dauert und der Schnürsenkel ist auch offen, alle anderen sind längst weiter und meine Zusammenpackerei nimmt kein Ende.
Ich komme aus der Biologie nicht raus.
Flug nach Sydney. Schon aus dem Flugzeug sieht man das Opernhaus. Überraschend klein zwischen den Wolkenkratzern.
Auf dem Weg zum Veranstaltungsort kommen wir an einem Schwulenclub vorbei, dessen Schild mit >Tool Shed. Adult Concepts< wirbt. Obwohl wir in Eile sind, hält uns Joel an, wenn schon mal die Protagonisten des Neuen Konzeptualismus zusammen sind, dann müssen die *hier* fotografiert werden. Seth trägt sonst sogar eine Tool Box (Werkzeugkasten) mit sich rum, schade dass er ihn gerade jetzt nicht bei sich hat. Dann läuft just auch noch Douglas Kahn vorbei, Gruppenfoto.
Abends Konzert. Eine Künstlerin zeigt hunderte Selfies von öffentlichen Instagram-Accounts, ziemlich deprimierend, diese reine Selbstdarstellung. Die schiere Existenz ist halt noch kein Verdienst.
Die >Text Clapping<:-Performance mit der Introduktion von Seths >Blink of an Ear<; was mir nicht klar war: Der eigentliche Urheber der Einleitung ist Douglas Kahn (an dem Abend anwesend). Also ein Fall für die Fußnoten. Also mit den Füßen?! Das ist mir dann doch zu banal.
Am Ende der Performance ein altes Stück, aus Feeds. Hören TV, erstmals in der Solo-Version. Geht so ganz gut. Man muss ein Requiem nur überleben.
Sydney 24.8.
Symposium >Materials of Sound<. Bei der Einführung spricht der Initiator von einer >Ermüdung< des Digitalen, aber das Symposiumsprogramm hat er nur online verfügbar gestellt.
Vortrag über Sound and Gravity. Ich wähle als Motto >Gravity Pleasure<, hab das zufällig gefunden beim Nachschlagen, was Achterbahn auf Englisch heißt, und dann beim Wikipedia-Artikel über >Rollercoaster< weitergelesen. Der Ausdruck ist auch im Deutschen geil: „Schwerkraftspaß“.
Im Vortrag bringe ich später eine Liste mit diversen Werken anderer Komponist*innen, die sich mit Schwerkraft befassen. Leider vergesse ich Seths Arbeiten, ich Seppel, der selber in seinem Großessay am Ende des Tages mich ausführlich bespricht. Hätte gar nicht erst anfangen sollen mit Kanonisierung.
Joel und Danni sprechen über Implosion. Implosion ist die neue Explosion, Vakuum der neue Inhalt.
Gestern im Konzert wie heute beim Symposium: Geballte Powerpoint-Unfähigkeit. Bei der Selfie-Performance geht dauernd der Screensaver an, andere sind nicht in der Lage, ein Video in Powerpoint abzuspielen, müssen dafür immer raus aus Powerpoint, geben ihren halben Festplatteninhalt auf der Projektion preis usw. Das ist in den letzten zehn Jahren auch keinen Deut besser geworden.
Mit Danni im Gespräch: Dass sich einige Syposiumsteilnehmer auch wieder so selbst->verhässlichen<, die programmatische Unsexyness von Academia. Es bleibt eben beim Anti-.
Douglas Kahn hat die Theorie, dass ein Historiker für einen Absatz womöglich monatelang arbeitet, aber damit ist es getan und gesagt, während ein Theoretiker einen Absatz schreibt und fortan etliche Varianten davon formulieren kann. Sein Vergleich: Männlicher vs. weiblicher Orgasmus.
Stockhausens Leiche ausgraben und aus dem Oberschenkelhalsknochen eine Flöte schnitzen.
In der Kneipe spät läuft „Sexy Boy“ von Air, zuletzt gehört habe ich das schätze ich im Jahr 2001. Entsprechend ist das Lied, das eigentlich ziemlich geil ist, superfinster kontaminiert, die Zeit war scheiße. Sadomasochistisch höre ich es dann in der Schleife die halbe Nacht und alle weiteren Tage. Das Lied ist auch gar nicht umdefinierbar. Toller Song.
Links:
For Arthur „Two Sheds“ Jackson
Adult Concepts Group
Same/Everything Sydney
Air, Sexy Boy
Aus Tralien #17
Melbourne 21.8.
Fantasies of Downfall = Einbildungen des Untergangs
Die kuratorische Politik von Liquid Architecture ist: superdivers. In einem Konzert spielt erst ein Mikrointervall-Nerd auf seinen selbstgebauten Instrumenten, dann gibt es ein Dada-Theaterstück, gefolgt von einer Merzbow-Brachialnoisenummer. Finde ich sehr gut. Jetzt müssten noch die Vorträge integriert werden; immer das Problem, erst die Vorträge, dann das Konzert – schon teilt man das Publikum.
Die schöne altmodische Art von Danni, Leute mit ihrem Beruf anzusprechen, im Taxi spricht sie den Fahrer mit „Driver!“ an, im Boot den „Skipper“, den „Bus Driver“, und die Katze mit „Cat“. Spreche sie jetzt immer mit „Curatress“ an.
Übersetzung von Kinski ins Englische für den nächsten Auftritt. Manche schwierige Fälle. „Von der Schädeldecke bis in den Samenstrang.“ Oder: „ärschlings“. Da hilft kein Wörterbuch. Nennen wir’s >assy<.
Außerdem Übersetzung des Vortrags über Schwerkraft für Sydney. Gott sei Dank macht mich Danni noch darauf aufmerksam, dass die Aussage von Oswald Wiener, wir würden ja gar nichts anderes als die Schwerkraft kennen, physisch nicht stimmt: Beim Schwimmen haben wir ein anderes Erlebnis.
Seth sagt, ich arbeite zu viel. Ein weit verbreitetes Problem. Selber habe ich vor Jahren die Parole ausgegeben, die Lösung für mich war, weniger arbeiten. Bei den wenigsten Künstler hapert es am Fleiß, vielmehr kranken sie daran, dass sie zu viel arbeiten.
Konzert in einer Subkulturkneipe. Ein Typ aus der Schweiz, tätowiert wie ein Sträfling, beginnt seine Performance, indem er seine Haare abrasiert, sie auf seine Laptoptastatur schmeißt und anzündet. Lässt sie eine Weile brennen, es stinkt, und wischt die brennenden Haarbüschel dann lässig zur Seite und spielt auf dem Laptop, der offenbar keinen Schaden genommen hat. Das war alles nicht mit der Leitung abgesprochen, und kurz fragt man sich, wozu der Typ als nächstes in der Lage ist, aber er begnügt sich dann mit abartig lauter Musik, wirklich die schlimmsten Frequenzen die ich je gehört habe, bei denen nicht mal Eardrops oder gewaltsames Ohrenzuhalten helfen, schaue und höre das ganze von der Terrasse aus durch die großen Fenster an. Dabei ist es gute Musik, aber anhören kann man sie sich nicht. Er hält die Music evil.
Der Laden ist zu 95% voll von, darf ich so sagen?, >hässlichen< Menschen, Menschen, die aktuellen Schönheitsidealen gänzlich unbeeindruckt gegenüber stehen, also ein Laden voller Freaks. Topfhaarschnitt, Herrenschnäuzer, Frauenglatzen mit einzeln übrig gelassenen Haaren, radikal-Vokuhilas, Rasta-Mikrobentierparks. Es ist aber auch völlig asexuell, solche Indivualisten sind zueinander inkompatibel – Danni stimmt diesem Eindruck zu.
Mit Schönheitsidealen ist es wie mit der Sprache, man kann sie sich allein nicht völlig umgestalten, will man kommunizieren.
Melbourne 22.8.
Mit dem Fahrrad durch Melbourne. Architektonisch wirklich eine Augenweide, ob Wolkenkratzer oder Häuschen mit Veranda.
Bei der Melbourne Art Fair, die in einem großen Luxushotel stattfindet. Jede Galerie stellt in einer eigenen Suite aus. Die Idee ist sympathisch, aber es gestaltet sich doch etwas schwierig, alles ist sehr eng.
Später erst erfahre ich von Joel, er wollte organisieren, dass ich dort in der Lobby konzeptuelle Klavierstücke aufführe. Die Leitung der Kunstmesse verweigerte mit der Antwort, bei solcher >Musik< verkaufe sich die Kunst schlechter. Stattdessen spielt nun eine Harfenistin Harfengeklimper. In einem der Räume eine Performance, bei der ein Paar einen auf dem Fernseher laufenden Film komplett im Zimmer simultan nachspielt. Bei der Liebesszene haben sie wirklichen, expliziten Sex, der männliche Höhepunkt hinterlässt sichtbare Spuren. (Jemand applaudiert.) Eine Warnung für Kinder oder kauffreudige Rentner sieht man nirgends. Joel hätte alles vorschlagen dürfen, außer Kunstmusik.
Immer wieder staune ich über die Geschichten der freiwilligen Assimiliation hier. Eltern, die ihren Kindern verbieten, die Muttersprache der Eltern weiter zu spechen. Warum ist das hier so, warum ist das in Deutschland nicht so. Das Wort >Assimiliation< scheint ja hierzulande verboten zu sein.
Überpräparierung. Die ganze Welt, befestigt am Cello.
So wie wir Dönerbuden haben, haben sie hier Sushibuden. Man sucht sich ein paar Rollen aus wie wir in Deutschland Eiskugeln.
Aus Tralien #16
Melbourne 20.8.
Eines meiner zehn Biere gestern muss leider schlecht gewesen sein. Kopfschmerz.
Weitere Ideen für die Brisbane->Soundcard<: - Ich gehe / Taxi / Bahn und mache dabei viele Fotos, man hört nur den Rhythmus des Fotografierens - im Sinne von Linksverkehr gehen zwei Personen mit Aufnahmegeräten bei A / B los, treffen sich in der Mitte und gehen dann jeweils zu dem anderen Punkt weiter Stimmungssysteme auf weißes Rauschen anwenden. (Obwohl weißes Rauschen alle Frequenzen enthält, kann man ein Sample weißen Rauschens transponieren. Schöne Paradoxie.) Ein Punksänger gröhlt Stimmungssysteme, etwa die Bohlen-Pierce-Skala. Bei Stimmungssystemen ist ja auch die Fetischisierung interessant, das Nerdig-Verschrobene dieser Cent-Philosophien. Verschrobung. Die Verschrobenheit. Schrobismus. Ein Sample weißen Rauschens. Ein Sample weißen Rausches. Bei meiner Präsentation am RMIT fragte mich ein Typ nach meiner Meinung zu >Augmentation<. Auf meine Bitte, das zu präzisieren, erwiderte er, es gehe nicht darum, was er darunter verstehe. Joel verbessert gelegentlich mein Englisch, will aber auch nicht zu viel verbessern – damit die Sprache in Bewegung bleibt. [Genderhinweis: Habe in dem folgenden Abschnitt das Geschlecht konsequent abgewechselt.] Was man wieder unfreiwillig aus Deutschland mitkriegt. Ein Musikwissenschaftsstudent meint sich erdreisten zu können, in einer öffentlichen Mini-Wortmeldung ein Stück von mir eben mal runterbuttern zu können. Steigt aufs ganz hohe Ross, übersetzt aber 2 von 3 Wörtern des englischen Titels falsch, behauptet ohne jegliche journalistische Recherche, ich habe Claqueurinnen bezahlt, pickt sich willkürlich Teile des Stücks heraus, um sie dann falsch zu beschreiben, vergleicht ohne historische Kenntnis mit der Historie, das Programmheft wird natürlich auch ignoriert usw. Und wenn man dann den Zögling mal auf seine sachlichen Fehler hinweist, man kann in dem Alter ja vielleicht noch das schlimmste abwenden, kommt zurück, man habe als Komponist ihm nicht das Stück zu erklären. Und damit ist er nicht allein (es sind halt die lauten, die auffallen);- sie scheinen sich darin zu gefallen, als die nächste Generation von Pippikackascheißern aus der Darmstädter Schreibschule (genauer: der deutschen Sektion davon) herauszugehen, die ihre Inkompetenz und Gehässigkeit für das Siegel journalistischer Unabhängigkeit hält. Warum diese Unkultur des öffentlichen Beleidigens und der Besserwisserposerei in der Kunstkritik. Wollt ihr Fürsprecherinnen oder Pippikakkascheißer sein? Eine Künstlerin ebenso wie ein Stück sollte nach dem Besten, was geschaffen wurde, beurteilt werden, nicht nach dem Schlechtesten. Wenn man ein Stück bespricht, dann: -interpretieren, nicht nur beschreiben -die eigenen Kriterien transparent machen - aber mehr noch den Kriterien des Werks gerecht werden (es hat keinen Sinn und wäre infam, ein serielles Stück danach zu bewerten, wie gut man dazu tanzen kann) -die differentiellen Momente zur Geschichte herausarbeiten Und sich als Partner verstehen, es geht darum, den Leserinnen ein Stück näher zu bringen; auch denen, die das Stück schon gehört haben, eine originelle Interpretation offerieren. Das wäre doch mal ein Gewinn. Stattdessen immer wieder diese Schnellsudeleien über Nacht und das Verlautbaren ungefragter >Meinungen<; was qualifiziert sie eigentlich dazu? Kritiker wissen also, wie Musik zu sein hat, nur sollten sie dann zu >Neuer< Musik den Mund halten, die ist eben (erst mal) keine Musik, alle bisherigen Kriterien für wie >Komponieren< geht, wie viele Noten die Musikerinnen spielen usw. stehen per Definition zur Disposition. Wer dafür keinen Sinn hat, soll sich ein anderes Betätigungsfeld suchen. Kritiker, die Hüter der Konventionen, bravo, wer kann das wollen, nicht mal sie selber. Aber leider verpesten diese talentlosen Scheißeschreiberinnen die Gazetten auf ewig, niemand braucht sie, es hilft keinem, schlau wird von diesen Ergüssen niemand, allerhöchstenfalls machen sie sich zum Gespött künftiger Historiker. Es ist eine Bankrotterklärung der Musikwissenschaft. In der NZZ schrieb ein Schreiberling vor einigen Jahren: "Johannes Kreidler hat mal wieder bewiesen, dass er weder komponieren kann noch will." Wie dem auch sei, wenn dieser Kritiker weiß, wie Komponieren geht, dann will ich das auf keinen Fall können. Ginge es nach den Kritikerinnen, wäre ich schon längst nicht mehr auf den Podien; Komponisten, die heute angebetet werden, hätten vor 30 Jahren quittieren können, der damaligen Journaille nach - es ist derselbe Schlag von Spießerinnen, der dann, wenn der Wind sich dreht, einen Lachenmann hofiert. Es hilft nur eins, >nicht einmal ignorieren<. Seit Jahren lese ich keine Kritiken mehr (überhaupt keine mehr), nur muss ich noch die Freunde darauf hinweisen, mich nicht auf welche hinzuweisen. "Wesentlich sind die Fürsprecher. Die Schöpfung, das sind die Fürsprecher. Ohne sie gibt es kein Werk. Ich brauche meine Fürsprecher." (Deleuze) Links: Punk-Skala
Aus Tralien #15
19.8.
Wir müssen alle superviel arbeiten, trotzdem diese nächtlichen Gelage. Immer an der Grenze, es ist virtuos-professionell.
Am nächsten Morgen gleich wieder los, Eröffnung der Melbourne Tamarraw Biennale im Museum eines Superreichen >in the middle of nowhere<, wo natürlich gleich weitergesoffen wird. Das ständige Fragen wie es einem geht, es ist die Pest. Man kann sich hier nicht einfach mit "Hi" -"Hi" begrüßen, es muss immer "Hi" -"Hi" -"How are you doin‘?'" -"Yeah, how are you doin'?" -"Yeah." sein. Ich schaffe es partout nicht, mich daran zu gewöhnen, zucke jedesmal bei dieser Ausfragerei zusammen. Anders als in den USA, wo die Frage nur eine Floskel ist, ist sie hier wirklich als Frage gemeint, man muss sie beantworten, und natürlich immer positiv, man muss gut drauf sein. How are you? I don’t know. So wie es eine Miniatur gibt, eine Maxiatur. Infinitesimal statt Null Aufführung von >product placements< und >Fremdarbeit<. Das Publikum lacht viel. Es ist die Absurdität dieser Realität, aber auch weil wir alle selber in dieser Struktur sind, man erkennt sich darin. Später Cary wiedergetroffen, den ich vor 2 Jahren hier kennenlernte; der alles auf ein exorbitantes abstraktes Niveau hebt, ein Vergnügen. Sagt, statt product placements „product removement“, so wie man Papier scannt, scannt man irgendwann auch 3D Objekte und begnügt sich mit dem Digitalisat und „removet“, schmeißt das Original weg. Cary gibt er mir eine Pille zum ins Ohr stecken, darin ein raschelndes Objekt. Vor mir die Performance einer Popsängerin, die nebenbei noch Konzeptkunst macht – sympathischer geht‘s kaum noch. Spricht live chinesische Sätze in Google Translate, wir verstehen nur die englische Übersetzung, und man weiß dann nie so recht, was denn nun stimmt und was quatschübersetzt ist. Geht nur mit chinesisch, ich probiere es mit deutsch (Le Witt / meine >Konzeptmusik-Sätze<), funktioniert nicht, bzw. funktioniert viel zu gut. Wieder fließt der Alkohol in Strömen. Spät noch in der Dusche.
Aus Tralien #14
Melbourne 17.8.
Die Leute hier sprechen nur von >Sound<, fast gar nicht von >Music<.
Im Flugzeug wollte ich den Unterricht für den kommenden Tag vorbereiten, bin aber gleich eingeschlafen --- beim Aufwachen sind alle nötigen Ideen da. Man muss sich die Dinge erschlafen, sich in den Ideenhimmel hochschlafen.
Überlegungen für die Brisbane->Soundcard<-Radiosendung:
a) Feldaufnahmen von Frankfurt und Brisbane als Shutter überlagern (unerträglich!)
b) Mitten in Brisbane Richtung Frankfurt gehen, diesen Gang aufnehmen.
Ich kann den Klang der Städte nicht ändern. Aber ich kann das Hören ändern. Mit einer bestimmten Vorinformation das ganze einfärben.
Melbourne 18.8.
Nach dem Surrealismus der Unrealismus.
Morgens Filmaufnahmen für das >Education Project< von Speak Percussion. Schlage vor: Schnelle Schnitte machen – das macht es cool and flott und wegen der vielen kleinen Takes für mich einfacher. Zu einer Frage zu einem meiner Stücke fällt mir gar nichts ein. Es ist, was es ist. „Manche Sätze sind nicht interpretierbar.“ (Handke)
In dem Vorort sind schöne Häuschen mit Ornamenten im spätviktorianischen Stil; jedes Haus anders. Im Netz heißt es aktuell, Melbourne sei die Stadt mit der höchsten Lebensqualität weltweit.
Die Australier stehen sehr früh auf, manche Bäckereien machen für die Fischer und Surfer schon um 3.30h auf. Entsprechend gehen die Einheimischen auch früh zu Bett, wird ja auch relativ früh dunkel hier. Selbstverständlich trifft man sich hier beispielsweise mit Musikern schon um 9h morgens. In Deutschland würde man sich kaum vor 10h mit Musikern treffen.
Unterricht an der RMIT University. Hatte die Aufgabe gegeben, sich mit Online-Musiksequencern und anderen Kompositionsprogrammen / -Apps zu beschäftigen. Eine Studentin hat mit einer Foto2Sound-App Bilder von Musikinstrumenten sonifiziert. Ein anderer hat die aktuellen >Bandcamp<-Top-ten-Stücke gleichzeitig auf YouTube gestartet und sich dabei mit dem Laptop als Performance näher und weiter weg von der WLAN-Quelle bewegt. Ich zeige in der zweiten Hälfte des Unterrichts wenig bekannte Stücke, die bekannter sein sollten: Bob Ostertags sooner or later, Christopher Arizas onomatopoeticized und Kirill Shirokovs practice the silence.
-leiser sein als andere. Leiser sein als man selbst.
-beim Nachmachen einschlafen. Musik.
Seltenes Bild hier: Raucher. Nur die Reichsten können es sich noch leisten. Auch Trinken ist reglementiert, Bottleshops wie in Norwegen. Entsprechend: Man sieht zwar erschreckend viele Obdachlose in den Straßen von Melbourne, aber sie scheinen keine Trinker zu sein.
Die exorbitante Steuer: „Übersteuerung“ hat da für Musiker eine neue Bedeutung.
Die Hälfte des Aufenthalts vorüber, und die Hälfte meiner Gage ist versenkt. »Scheiss drauf, in vier Wochen beginnt die Bundesliga.«
Warum wird eigentlich in Berlin in Kneipen wieder geraucht, obwohl anderenteils die Bioläden und veganen glutenfreien zuckerfreien laktosefreien Latte-Läden aus dem Boden schießen?
Eröffnung des Festivals Autotune everything, wieder fantastisch viel Publikum. Eine Deutsche (Schwäbin) hält einen Vortrag über Ozeanpolitik. Unterseekabel, Umweltverschmutzung, Rohstoffe, Überschwemmung von Inseln; Ozeane sind ein heißes Eisen.
Im ersten Konzert liest ein Performer eine negative Kritik über seine frühere Aktivität als Rockmusiker, drei mal. Reminder an mich: Mehr sonderbares Zeug machen, auf Akklamation verzichten. Applausdiät.
Der erste Festivaltag endet in einem sagenhaften Gelage. Danni hat eine Flasche Whiskey reingeschmuggelt wie ein Teenager; sie wird hernach ihres Inhalts beraubt.
Die After-Party eine sehr bourgeoise Veranstaltung. Die besoffene Chefin der >Melbourne Arts Foundation< baggert mich an, der Chef des >Greek Cultural Center< reicht einen Joint herum. Später lässt sich die Besoffene vom Tontechniker in einer Ecke ihre Genussteile lecken. Auch ein lesbisches Paar erweitert das Vergnügungsspektrum des Abends ohne alle Scham.
Links:
Bob Ostertag, Sooner or Later
Christopher Ariza, Onomatopoeticized
Kirill Shirokov, Practice the Silence
Aus Tralien #13
Gold Coast 16.8.
Im Regenwald. Pearling Brook Falls / Springbrook National Park. Es gibt auch den “dry rainforest”, den >trockenen Regenwald<. Dann muss es irgendwo auf der Welt auch den verregneten Trockenwald geben.
Riesige, dinosaurierhafte Farne mit Fraktalstrukturen, Palmen, deren Blätter im goldenen Schnitt wachsen, Lianen. Grün und undurchdringlich, wie man sich den Dschungel vorstellt. Da fällt einem natürlich ein: In Australien ist ja auch das Dschungelcamp.
Beim großen Wasserfall Gespräch über Adornos Unterscheidung von Naturschönem und Kunstschönem.
Bad in einem eiskalten Gebirgsbach, dessen Wasser sich in einem tiefen Krater sammelt. Mit dabei dicke Aale und kleine Schildkröten.
Bei Sonnenuntergang noch mal letzte Gelegenheit für ein ausgiebiges Bad im Pazifik. Spätestens jetzt steht fest: Ich bin Pazifist!!
Gespräch über Narzissmus und gesunde Selbstliebe. Fast noch schlimmer als Narzissten sind die Anti-Narzissten, die sich selber nicht anschauen können und darum alle mit einem stabilen Selbstwertgefühl beargwöhnen.
In einem Nobelfischrestaurant will ich eine Austernmuschel mitnehmen, der Kellner ist sichtlich pikiert, in diesem Restaurant fragt man nicht danach, dass etwas eingepackt wird. Es dauert dann auch einige Zeit, bis sich in dem Laden ein Behältnis für das Objekt findet.
Spät noch in der Bar Gespräch über Drogenexzesse. Eine erzählt, sie kannte einen, der auf Lanzarote Pillen genommen und dann im Spätkauf drei Liter Babyöl gekauft hat. Damit verschwand er für zwei Stunden ins Badezimmer - „Don’t ask“... Er ist damit in der Badewanne rumgerutscht, das brauche er im Trip immer.
Sie erzählt außerdem, dass sie als Mädchen von Saddam Hussein fasziniert war. Habe ich schon öfter angetroffen, Frauen, die von Diktatoren wie Hitler, Putin, Gadaffi fasziniert sind. Auch Männer, frei von jeglichem politischen Totalitarismus, die einen Hitlerfimmel haben.
Nachts auf dem Nachhauseweg den seltenen Brachvogel angetroffen, der nebenan im Gras schnabelte.
Links:
Springbrook National Park
Curlew
Aus Tralien #12
Gold Coast, 14.8.
Das vertrackte Englisch. Angefangen bei den ganzen falschen Freunden (will, become, eventually, sensible); dann gibt es für viele deutsche Ausdrücke zwei englische (liberty/freedom, jump/bounce, everything/anything, near/close), andererseits gibt es deutsche Wörter, für die es keine englischen gibt, zB >Stipendiat< sagt man im Englischen nicht, man könnte vielleicht >stipend receiver< oder so sagen, sagt aber niemand, und man kann nicht >sein Auto tanken<, man >geht zur tank station<.
Im Flugzeug nach Gold Coast. Aus dem Fenster die Blue Mountains, man sieht (kontrollierte) Buschfeuer. Meine lesbische Begleitung, die sexuell mit allen Wassern gewaschen bzw. beschmutzt zu sein scheint, erzählt reichlich Gossip, checkt die Stewardessen auf ihre Geilheit, sie ist ein Testosteronbolzen in einem Frauenkörper.
Bei Ankunft gleich ein Bad im Pazifik, der quasi den Hinterhof der Wohnung bildet.
In den Cafes Hippiemusik auf akustischen Gitarren, es scheint der Soundtrack zur Surfkultur zu sein, oder kommt noch von Goya her. Kaum auszuhalten.
Urlaub-Arbeit. Für manche Arbeit muss man einfach Zeit verstreichen lassen, es arbeitet dann schon, aber man kann es nicht aktiv beschleunigen, so wenig wie man eine Schwangerschaft beschleunigen kann.
Gold Coast, 15.8.
Whale watching, Buckelwale vor der australischen Westküste, die zu der Jahreszeit in wärmere Gefilde ziehen. Man sieht sie erst von weitem, wie sie immer wieder kurz auftauchen, auch mal die Schwanzflosse hochheben und dann schön damit wieder eintauchen. Eine Portion Erhabenheit, diese großen ruhigen Tiere. Die Leute klatschen ihnen Applaus (schlimm für einen Applausgegner). Später macht das Boot Kehre, man dachte schon, das wars, aber dann geht es an eine andere Stelle, wo die Wale ganz nah ans Boot kommen, sie scheinen regelrecht neugierig zu sein und die Menschen grüßen zu wollen. Die Leiterin, eine Maori, macht Stimmung. Leider hänge ich zwischendurch an der Reeling, der Wellengang ist enorm und das Schiff klein.
Gratulation an Celeste Oram zum Kranichsteiner Musikpreis. Habe auf Kulturtechno vor zwei Jahren schon mal eine schöne Arbeit von ihr gepostet.
Gespräch am Strand. Der Experimentalfilm wandert aus dem Kino in die Galerien, alle streben zur Bildenden Kunst bzw. schluckt die alles, ihrem Markt- und Prestigetriumph ist nichts entgegenzusetzen.
Aber natürlich gibt es dann auch Experimentalfilmer, die dafür kämpfen, dass man gerade jetzt den Ort braucht, an dem man >gefangen< ist, sich radikalem Film aussetzt und nicht gleich nach ein paar Sekunden weitergeht bzw. weiterklickt.
Übers Künstlerleben. Danni: „It’s a criminal’s career“. Danach kann man nie mehr in die bürgerliche Welt zurückfinden.
Nietzsche. Zerstörte alles, nur nicht die Kunst. Kunst ist unsere Religion. Wenigstens die beste aller Religionen.
Artspeak. „Komplex“. alles muss heute >komplex< sein. Begriff also auf dem Hund. Ich sage lieber „viel“, oder das „Riesige“, im englischen „massive“, steckt dann auch „Masse“ drin, also eine quantitative Bestimmung.
Links:
Celeste Orams Rasurpartitur
Gegen Applaus
Aus Tralien #11
Melbourne 13.8.
Bei den >12 Aposteln<. Hohe Felsformationen, die aus dem Meer ragen. Das wäre jetzt schon was, vor dieser Kulisse im Indischen Ozean zu baden, aber es ist saukalt und windig. Nichtsdestotrotz, goldene Uraubsregel: Niemals über das Wetter jammern. Beuys: „Jedes Wetter ist gut."
Eine japanische Familie, bei der jedes Familienmitglied seinen eigenen Selfiestick hat.
Dann zum „Arc“, eine natürliche Brücke im Ozean, die selber nicht so spektakulär ist, aber man sieht unter der Wasseroberfläche einen großen Wal, der sich in den Wogen wiegen lässt und immer wieder hinter einem Wellenberg an die Luft stupst. Und zuletzt, fast noch schöner als die Apostel, dabei viel weniger frequentiert, die „Bay of Martyres“, steinerne Schiffe, die anlegen.
Schwarze Kühe gibt es hier („Schwarze Milch der Kühe“).
Fahrt durch Regenwälder, wo der Koala beheimatet ist. Wo ist der Mensch beheimatet?
Obwohl ich noch keinen einzigen Aborigine getroffen habe, fühlt es sich alles falsch an, die weißen Menschen in einem schwarzen Land.
Gespräch mit Kim-Cohen über Leute, die glauben, sie seien klüger als alle anderen. Was der Beweis ziemlicher Dummheit ist. Niemand ist intelligenter als der Rest, und noch viel intelligenter ist die Geschichte. Schließlich ist man hinterher immer klüger. Darum: Alle Rhetorik fliegt sofort raus. Es gibt einen bekannten Komponisten, der sich auch als Schriftsteller sehr betätigt, der aber immer wieder meint, er könne die Leser verarschen, schreibt Sachen, von denen er selber weiß, dass sie so nicht stimmen, aber er scheint zu hoffen, dass das schon niemand merkt. Pustekuchen.
Höre nachts (Jetlag) die Voice-Republic-Mitschnitte von Darmstadt.
Es wird um den Begriff der politischen Musik gerungen. Ich will meinen: Politik ist, wo es um Gesetze geht, um Regeln der Gemeinschaft, und entsprechend um Machtstrukturen, um das Wesen der Gesetzgebung. Kunst, die sich damit beschäftigt (sie muss nicht notwendig gegen etwas protestiert), ist politisch.
Natürlich besteht die Gefahr der Verwässerung („alles ist politisch“). Aber: genau so kann man auch sagen, dass alle Musik Spektralmusik ist, denn 99.999% aller Klänge haben Obertöne, und doch kann man sich auf einen dezidierten Gebrauch von Obertönen als >Spektralmusik< einigen.
Was noch auffällt bei den Vorträgen und Diskussionen: Der >Konzept<-Begriff wird mittlerweile ganz selbstverständlich gebraucht, ebenso wie der der >Institutionenkritik<. Das war vor 10 Jahren noch ganz anders, da hat kein Mensch über diese Dinge gedacht. Frage mich, was man eigentlich vor 10 Jahren in Darmstadt diskutiert hat. Ich glaube, Ferneyhough hat über seine >12 Dimensionen der Zeitwahrnehmung< geredet.
Links:
Twelve Apostles
The Arc
Bay of Martyres
Aus Tralien #10
10.8.
Die Australier sind von ihrer Art her eine Mischung aus Engländern und Amis, und so auch in der Aussprache; das Klare des Englischen, ohne seine Dialekte, das Weiche des Amerikanischen aber ohne dieses Breiige; man kann es sehr gut verstehen.
11.8.
Den Kalauer, der aus Gesprächen entstanden ist, hab ich auf Facebook hochgeladen. Ein Accelerando, Zenos Paradox, das Altern in immer kleineren Schritten. Ständig schießen wir auf einen Grenzwert zu.
Die Uni bietet mir ein Studio an, aber das ist mir im Grunde lästig, brauche ich nicht. Aus Höflichkeit nehme ich aber lieber den Schlüssel an als ihn abzulehnen. Sie haben so viele Studios, ich nehme niemandem was weg.
Abends soll ich noch in die Uni kommen, es ist nicht klar, warum. Der „Termin“ entpuppt sich als offizieller Präsentationsabend, bei dem ich meine Arbeit präsentieren soll. Puh, man war davor schon in der Kneipe mit Joel und Seth, also angeheitert drauflosgeredet, aber es ging gut.
Gespräche in der Kneipe mit Kim-Cohen über den Humor, der ja irgendwie Teil des Konzeptualismus ist. Was ist der Unterschied zwischen funny und witty. Nietzsche war witty, aber nicht funny.
Tagelang schlafe ich schlecht, denke, das ist der Jetlag und der Stress ob des vielen Programms, bis mir irgendwann aufgeht: Es ist einfach das schlechte Bett, zu hart. Schlafe fortan auf dem Sofa ganz kuschelig.
12.8.
Heute zum ersten Mal Känguruhs in der freien Wildbahn gesehen. Unglaublich goldig, eine Herde, mit dem Größten als Aufpasser; Paare hüpfen paarweise zusammen. Außerdem knallrote Papageien.
Die vermeintlichen Hotsprings sind leider als Cold Springs, aber in einer Badanlage werden sie aufgeheizt. In einem der Becken wichst ein schönes junges Paar sich gegenseitig.
Aus dem Fenster sieht man den imposanten Kookaburra-Vogel.
Nachts im Motel von Apollo Bay lade ich noch aktuelle Kunstfilme runter. Sprengkraft der Fantasie.
25 Pieces
1. Aufnehmen. Aufnahme löschen. Eine andere Aufnahme löschen.
2. Drogen nehmen. Drogen entnehmen.
3. Auf einem Cello Zeit verstreichen lassen.
4. 30 Audioaufnahmen von >Kerze ausblasen<, hintereinander.
5. Erst klatschen, dann applaudieren.
6. „I am sitting in a room“ in einer Wahlkabine aufführen.
7. Die Triangel als Vagina. Mikrofonieren.
8. „Do not touch“. Kontaktmikrofon.
9. Mit einem Papier auf einem Stift schreiben.
10. Konzentrisches Kreischen.
11. Elf Sekunden in durchmischter Reihenfolge.
12. Aussteigen am Steg.
13. Luigi Nono: Fragmente, Stile – an Diotima. B.A. Zimmermann: Stile und Umkehr.
14. Elf Sekunden, gleichzeitig.
15. Ein Cello gleichzeitig spielen.
16. Cellostück. Emails an einen Cellisten schreiben.
17. Sich vollzählen.
18. Schimpfen. Schimpfen. Schimpfen. Spielen.
19. Leeres Papier. Leeres Papier. Leere’s Papier.
20. Tausende Versionen aufnehmen.
21. Eine von den tausend löschen.
22. Die Dialektik von 1 und 2.
23. Die Differenz von 1 und 2.
24. 24 Sekunden hintereinander.
25. Lachenmanns Guero mit einem Fön spielen.

