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Mein Text „Gegen Applaus“ online

Mein Text „Gegen Applaus“, erschienen vor einem Jahr in der Neuen Zeitschrift für Musik, steht jetzt online. (hier als pdf)

 

Gegen Applaus

Als der Schönbergkreis 1918 den Verein für musikalische Privataufführungen gründete, verfügte man in den Statuten, dass dem Publikum Mißfallenskundgebungen während oder nach den Darbietungen untersagt seien; doch nicht nur das, auch jedweder Beifall wurde dem Auditorium verboten. Die Maßnahme mag eine verbitterte Reaktion auf die Skandalkonzerte der frühen Atonalität gewesen sein, hatte aber Gültiges darüber hinaus. Applaus ist eine Unsitte, aus zwei Gründen:

1. Fort mit dem kollektiven Soforturteil – alles über dem Anstandspegel ist Soforturteil –; ein Stück, an dem monate-, womöglich jahrelang gearbeitet wurde, kann nicht Sekunden nach dem letzten Ton schon taxiert werden. Dieses notorische letzte Wort ist unangemessen und anmaßend. Da es aber erfolgt, korrumpiert die Aussicht auf / Angst vor Applaus die KomponistInnen und InterpretInnen, verführt zu Gefallsucht, begünstigt sichere Effekte, nährt eine Kunstproduktion, die die einverständliche Meinung lieber bestätigt. Jedoch nach Mozarts Requiem, nach Weberns Aphorismen ebenso wie nach einer Vorführung von Pasolinis Saló oder einer Inszenierung von Müllers Hamletmaschine, in Anbetracht von Duchamps Urinal sind andere Reaktionen geboten als konform im Massenorgan Applaus einzustimmen. Das Individuum möge seine eigenen Schlüsse ziehen. Und hat man Hegel nach Erscheinen der Phänomenologie des Geistes etwa auf die Schulter geklopft? Ein Kunstwerk braucht überhaupt keine eilige Akklamation oder instantanes Daumen-runter-Fazit, und die MusikerInnen und KomponistInnen sollen schlichtweg anständig bezahlt werden, dann braucht das Publikum ihnen keinen Applaus zu spenden. Und neben der Bezahlung ist Aufmerksamkeit die angebrachte Form der Wertschätzung.

2. Keine Einrahmung. Statt dass das Kunstwerk sich in den Köpfen, im Handeln fortsetzt, statt dass seine Vibrationen weitergetragen werden, wird ihm der Riegel des Applauses vorgeschoben, wird real und symbolisch Distanz geschaffen durch eine anspruchslose Schüttelbewegung, mit der man das Stück abschüttelt, es »schlussendlich« von sich fern hält, das Werk mit Beifall zu Fall bringt, es hinterm Lärmwall begräbt. Was nützt es, Spannung aufzubauen, wenn diese gleich wieder entladen wird? Wie unerträglich muss es für manche anmuten, wenn nach dem Doppelstrich der Partitur die Stille langsam überginge in die Kontinuität des Konzertprogramms oder in das Aufbrechen der Menschen. Wenn die Feinheit und Energie, die Offenheit und Verantwortung des Kunstwerks nicht sogleich in Weißem Rauschen eingeschmolzen, nicht akustisch neutralisiert und hässlich simpel übertüncht würde, sondern der Stab weiterginge an die HörerInnen, auf dass sie gut damit umgehen. Und erst Recht, wenn das Publikum, wie es die Phrase gern reklamiert, »irritiert« wurde durch Kunst. Ist das Publikum wirklich irritiert, gar »verstört«, dann kann es nicht noch klatschen! – dann soll es das nicht müssen. Wiederum spricht wenig dagegen, wenn bei der Aufführung getrunken wird oder man währenddessen ein- und ausgeht, ebenso das Betreiben von Smartphonekommunikation, solange es andere nicht beeinträchtigt; das sind gleichermaßen Momente der Aufhebung des starren Rahmens, und der Körper darf auch etwas mehr Bewegungsraum bekommen. Wenn dann sollte das Stück einen an den Stuhl fesseln, nicht die Konvention. Ja und wenn das Publikum von dem Erlebten begeistert ist? – dann soll es sich nachher lieben.

Berlin, Komische Oper, Zimmermann, Die Soldaten – am Ende Holocaust, Atombombe, Apokalypse. Und zehn Sekunden später? Eine »BRRAVOOOOOOOO!!!!!!«-Brandung. Lachenmann, Mädchen mit den Schwefelhölzern, Buenos Aires, Standing Ovations, »Helmut Helmut«-Rufe. Ob das dem erfrierenden Mädchen hilft? Es ist absurd; so viele Kunst will tiefsinnig, existenziell, weltdeutend oder aufklärerisch sein, aber ihre Akteure gefallen sich im Gegensatz dazu in einem billigen Ehrerbietungsritual. Alle Beteiligten sollten der Kunst, dem Werk verpflichtet sein – das Publikum jedenfalls obliegen die Ohren, keine händischen Honorationen.

Niemand, der/die zu Hause Musik hört, sieht es für angebracht, hernach dem Lautsprecher Beifall zu klatschen. Auch im Kino geht es meistens ohne. Das Prozedere ist ja eigentlich auch sehr langweilig, eine Zeitverschwendung. Am Wiener Burgtheater fand bis 1983 das sogenannte Vorhangverbot von 1778 Anwendung: Verbeugungshandlungen sind zu unterlassen, »weil dadurch der Eindruck der darzustellenden Handlung gestört würde«. Bei Konzerten in Kirchen, zumal mit Werken wie der Matthäuspassion, wird im Programmheft meist vermerkt, dass man aufgrund des Gegenstandes bitte auf das Beklatschen verzichten möge. Auch ohne Theologie sollte das grundsätzlich walten; so viel Würde hat jede Kunstmusik. Schafft das Klatschen ab!