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Aus Tralien #17

Melbourne 21.8.
Fantasies of Downfall = Einbildungen des Untergangs

Die kuratorische Politik von Liquid Architecture ist: superdivers. In einem Konzert spielt erst ein Mikrointervall-Nerd auf seinen selbstgebauten Instrumenten, dann gibt es ein Dada-Theaterstück, gefolgt von einer Merzbow-Brachialnoisenummer. Finde ich sehr gut. Jetzt müssten noch die Vorträge integriert werden; immer das Problem, erst die Vorträge, dann das Konzert – schon teilt man das Publikum.

Die schöne altmodische Art von Danni, Leute mit ihrem Beruf anzusprechen, im Taxi spricht sie den Fahrer mit „Driver!“ an, im Boot den „Skipper“, den „Bus Driver“, und die Katze mit „Cat“. Spreche sie jetzt immer mit „Curatress“ an.

Übersetzung von Kinski ins Englische für den nächsten Auftritt. Manche schwierige Fälle. „Von der Schädeldecke bis in den Samenstrang.“ Oder: „ärschlings“. Da hilft kein Wörterbuch. Nennen wir’s >assy<.
Außerdem Übersetzung des Vortrags über Schwerkraft für Sydney. Gott sei Dank macht mich Danni noch darauf aufmerksam, dass die Aussage von Oswald Wiener, wir würden ja gar nichts anderes als die Schwerkraft kennen, physisch nicht stimmt: Beim Schwimmen haben wir ein anderes Erlebnis.

Seth sagt, ich arbeite zu viel. Ein weit verbreitetes Problem. Selber habe ich vor Jahren die Parole ausgegeben, die Lösung für mich war, weniger arbeiten. Bei den wenigsten Künstler hapert es am Fleiß, vielmehr kranken sie daran, dass sie zu viel arbeiten.

Konzert in einer Subkulturkneipe. Ein Typ aus der Schweiz, tätowiert wie ein Sträfling, beginnt seine Performance, indem er seine Haare abrasiert, sie auf seine Laptoptastatur schmeißt und anzündet. Lässt sie eine Weile brennen, es stinkt, und wischt die brennenden Haarbüschel dann lässig zur Seite und spielt auf dem Laptop, der offenbar keinen Schaden genommen hat. Das war alles nicht mit der Leitung abgesprochen, und kurz fragt man sich, wozu der Typ als nächstes in der Lage ist, aber er begnügt sich dann mit abartig lauter Musik, wirklich die schlimmsten Frequenzen die ich je gehört habe, bei denen nicht mal Eardrops oder gewaltsames Ohrenzuhalten helfen, schaue und höre das ganze von der Terrasse aus durch die großen Fenster an. Dabei ist es gute Musik, aber anhören kann man sie sich nicht. Er hält die Music evil.
Der Laden ist zu 95% voll von, darf ich so sagen?, >hässlichen< Menschen, Menschen, die aktuellen Schönheitsidealen gänzlich unbeeindruckt gegenüber stehen, also ein Laden voller Freaks. Topfhaarschnitt, Herrenschnäuzer, Frauenglatzen mit einzeln übrig gelassenen Haaren, radikal-Vokuhilas, Rasta-Mikrobentierparks. Es ist aber auch völlig asexuell, solche Indivualisten sind zueinander inkompatibel – Danni stimmt diesem Eindruck zu.
Mit Schönheitsidealen ist es wie mit der Sprache, man kann sie sich allein nicht völlig umgestalten, will man kommunizieren.

Melbourne 22.8.
Mit dem Fahrrad durch Melbourne. Architektonisch wirklich eine Augenweide, ob Wolkenkratzer oder Häuschen mit Veranda.

Bei der Melbourne Art Fair, die in einem großen Luxushotel stattfindet. Jede Galerie stellt in einer eigenen Suite aus. Die Idee ist sympathisch, aber es gestaltet sich doch etwas schwierig, alles ist sehr eng.
Später erst erfahre ich von Joel, er wollte organisieren, dass ich dort in der Lobby konzeptuelle Klavierstücke aufführe. Die Leitung der Kunstmesse verweigerte mit der Antwort, bei solcher >Musik< verkaufe sich die Kunst schlechter. Stattdessen spielt nun eine Harfenistin Harfengeklimper. In einem der Räume eine Performance, bei der ein Paar einen auf dem Fernseher laufenden Film komplett im Zimmer simultan nachspielt. Bei der Liebesszene haben sie wirklichen, expliziten Sex, der männliche Höhepunkt hinterlässt sichtbare Spuren. (Jemand applaudiert.) Eine Warnung für Kinder oder kauffreudige Rentner sieht man nirgends. Joel hätte alles vorschlagen dürfen, außer Kunstmusik.

Immer wieder staune ich über die Geschichten der freiwilligen Assimiliation hier. Eltern, die ihren Kindern verbieten, die Muttersprache der Eltern weiter zu spechen. Warum ist das hier so, warum ist das in Deutschland nicht so. Das Wort >Assimiliation< scheint ja hierzulande verboten zu sein.

Überpräparierung. Die ganze Welt, befestigt am Cello.

So wie wir Dönerbuden haben, haben sie hier Sushibuden. Man sucht sich ein paar Rollen aus wie wir in Deutschland Eiskugeln.

2 Kommentare

  1. @JK: Was mir seit eh und je im Umgang mit Mikrotonalität auffällt: Hier findet man tatsächlich jede Menge Menschen mit Tendenz zum Sektiererischen. Oder eben Menschen, die buchstäblich schreiend davonlaufen, sobald sie z. B. Vierteltonintervalle hören. Warum eigentlich (echte Frage)?

    Spontaner Antwortversuch: Temperierungen sind sehr tief liegende „akustische Dispositive“ und deshalb nicht so leicht verhandelbar wie etwa das Erfahrungsspektum „artikulierter Klang Geräusch“, das ja im Laufe des 20. Jahrhunderts so ziemlich erforscht wurde und heute niemanden mehr aufregt oder erregt.

    Mikrotonale Musik aber, die mit festen Skalen arbeitet (also nicht bloß mit punktuellen mikrotonalen Passagen, die in ein 12-TET-Framework eingebettet sind), polarisiert, irritiert und skandalisiert – so mein Eindruck – bis heute. Verläuft hier am Ende dann doch eine „Grenze des Materialfortschritts“, von der Harry Lehmann immer will, dass es sie nicht mehr gibt?

    Mich fasziniert skalenbasierte Mikrotonalität / scale tuning seit Jahren viel stärker als noch so erweiterte Spieltechniken und ich habe hierfür auch eine Erklärung: Alle mir bekannten erweiterten Spieltechniken führen zu Klängen mit hohem Geräuschanteil und (meist) ohne exakt bestimmbare Tonhöhe bzw. mit einer Vielzahl gleichzeitig erklingender Tonhöhen. Es ist also im Grunde nur *eine* Idee, die hier (tausendfach variiert) umgesetzt wird: Der Ausgang aus der „diastematischen Welt“ mit festen Relationen zwischen den einzelnen Tonstufen hin zu einer „nicht-diastematischen“ Welt mit nicht genau bestimmbaren Relationen zwischen potentiell beliebig vielgestaltigen „Strukturklängen“ (Lachenmann).

    Mikrotonalität erzeugt eine komplett andersartige Form von Komplexität als erweiterte Spieltechniken. Die Klangfarbe ist hier von ebenso untergeordneter Bedeutung, wie es die Tonhöhe bei den erweiterten Spieltechniken ist.

    Merke grade, dass ich in Fahrt komme und den Rahmen eines Kommentars sprenge. Werde dann wohl zu diesem Thema demnächst was bloggen müssen …

    Gruß

    S.

  2. Kreidler sagt:

    Lieber Stefan, das sind interessante Fragen.
    Das Sektiererische bei den Mikrointervall-Fans hat glaube ich auch Tradition, die ganze fernöstliche Theologie und die damit verbundenen Skalen, soweit ich das verstehe, hat da ihre Wirkmacht.
    Dann in der Neuen Musik sicherlich das nach wie vor verstörende Potenzial, ob das >Materialfortschritt< ist, oder ob das nur >verstimmte< Instrumente sind; ob da sich andere Arten von Harmonik ausbilden oder die ganze Wichtigtuerei um 5 Cent höher oder tiefer ein Schmarrn ist... Ich bin und werde immer noch mehr ein Fan von Mikrointervallen, auch die indonesischen Instrumente sind einfach toll, hab da in Australien tolles gehört. Warum ich bei Lachenmann nicht warm werde liegt erst mal daran, dass fast all die möglichen erweiterten (=geräuschhaften) Spieltechniken etwas sphärisches haben, klar artikulierte Rhythmen (von Tonhöhen ja zu schweigen) sind da kaum möglich, es sind immer diese Klangbänder. Warum auch immer, ich mag präzise Rhythmen, und Tonhöhen mag ich einfach auch. Soweit dazu erst mal, herzlich Johannes