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cache surrealism @Berlin

Heute abend 20h spielt das Ensemble Lux:NM im HBC Club in der Karl-Liebknecht-Straße 9, Berlin-Mitte, u.a. mein Stück cache surrealism.

Ruth Velten – Saxophone
Silke Lange – Akkordeon
Ines Hu – Violin
Jacob Shaw – Violoncello
Malgorzata Walentynowicz – Klavier
Lucía Martinez – Schlagzeug
Sarah Hölscher – Klangregie

Mit unserem aktuellen Konzert-Projekt thematisieren wir unter dem Titel „Spuren des Populärmusikalischen in der Neuen Musik“ die Relationen und Wechselwirkungen zwischen so genannter „Hochmusik“ und „Populärmusik“. Damit greifen wir unter anderem kritisch eine zu problematisierende Trennung auf, die trotz umfangreich und fortdauernd formulierter Kritik bis heute präsent ist. Die Hartnäckigkeit dieser begrifflichen Abgrenzung ist umso erstaunlicher, da sie sich auf Ausdifferenzierungsprozesse im Zuge der Etablierung eines Autonomiestatus’ und einer spezifischen Werkästhetik zurückführen lässt, die heute mit einem avancierten Verständnis von Musik längst als obsolet gelten.

Jef chippewa (*1969) — xx miniatüren (2011/UA), für Akk., Sax., Vln., Vc., Klav. und Drumset
Pierre Jodlowski (*1971) — Série blanche (2007) für Klavier solo und Elektronik
Gordon Kampe (*1976) — HAL (2011/UA) für Sax, Vc, Akk., Pno., Perc.
Johannes Kreidler (*1980) — „cache Surrealism“ ( 2008) für Sax., Akk., Vc und Elektronik
Wolfgang Zamastil (*1981) — six pieces of daily muse (2010/11) für Sax.,Vl.,Vc.,Akk., Elektr.

Mozart, der Abschreiber

Opern Source:

Muzio Clementi, Klaviersonate B-Dur Op. 24, 2, erster Satz (1788)

Wolfgang Amadeus Mozart, Die Zauberflöte, Ouvertüre, Fuge (1791)

Dazu der Medientheoretiker Felix Stalder:

Es steht ausser Frage, Mozart war ein Ausnahmetalent von historischer Dimension. Aber sogar in diesem einzigartigen Werk lässt sich eine kaum zu überblickende Vielzahl von Bezügen und direkten Übernahmen feststellen. Alleine in einem einzigen Werk, der Zauberflöte, wurden mehrere Dutzend Stellen identifiziert, die aus anderen Werken stammen, sei es aus Mozarts eigenen oder aus Werken dritter (etwa Haydn oder Gluck, beides Zeitgenossen) (vgl. King 1950). Es ist zu vermuten, dass diese Bezüge für das damalige Publikum wesentlich offensichtlicher waren als für ein modernes und dass sie einen wesentlichen Aspekt seiner breiten Popularität ausmachten. Elias (1993) stellt die These auf, dass Mozart bewusst versuchte, den Geschmack seiner Zeit zu treffen, weil er hoffte, durch Popularität seine prekäre soziale Situation (moderner Künstler in einer höfischen Gesellschaft) zu kompensieren.

Feeds. Hören TV – Fotogalerie

Von der Feeds-Sause letztes Jahr in Gelsenkirchen habe ich jetzt endlich die Fotos (by Pedro Malinowski) zu einer Galerie zusammenstellen können.

Hier das ganze Album, auf Flickr kann man auch noch Titel zu den einzelnen Fotos sowie allgemeine Infos lesen.

Das totale Archiv (3): Ein geändertes Mediennutzungsverhalten

In der nächsten Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Im zweiten Teil wurden die digitalen Archive als positive Innovation dargestellt. Weiter geht’s mit der Darstellung des geänderten Mediennutzungsverhaltens, das damit einhergeht.

 

3. Ein geändertes Mediennutzungsverhalten

Wer sich für eine Radiosendung interessiert, braucht heute nicht mehr die Uhr zu stellen. In der Online-Mediathek lassen sich die Sendungen nach Belieben (nur leider auf wenige Tage limitiert) anhören. Wissen heißt nicht einmal mehr „wissen, wo’s steht“ – die Antwort liegt auf der Hand, auf dem Handy, worauf Wikipedia und YouTube abrufbar sind. (Mehr denn je fordern Pädagogen statt Faktenwissen vernetztes Denken und Medienkompetenz.)

Es ist sehr ärgerlich, dass es von wunderbaren Theatervorstellungen keine Videodokus auf YouTube gibt. Das soll nicht heißen, dass Theater stattdessen Film werden soll. Aber Bühnenaufführungen sollen dokumentiert werden. Es braucht filmische Ansichtsformen fürs Theater auf YouTube, genauso für Konzerte. Das Wesen von „flüchtiger Kunst“ ist nicht mehr zu akzeptieren, sie muss einfach nicht flüchtig sein, schon gar nicht besteht darin eine eigene Qualität (schließlich wird ja auch die Theatervorstellung mehrmals gegeben). Das gilt erst recht für die klassische Musik, die sich, vergleichbar den Zoos, überlebt hat. Zoologische Gärten sind Produkte des 19. Jahrhunderts, in dem es zwar Kolonien und regen Seefahrtsverkehr, aber noch keine guten Aufzeichnungsmedien oder Fernreisemöglichkeiten gab, mit deren Hilfe Normalmenschen exotische Tiere sehen konnten. Heute aber kann eine Kamera viel näher und faszinierender an eine Giraffe in ihrer Lebenswelt heranzoomen, als wenn man sie zum Begaffen in fremdem Klima einsperrt. Flugzeug und Film machen den Zoo, der ohnehin Tierquälerei ist, obsolet. Ähnlich verhält es sich mit den Symphonien Beethovens, die man heute in tausend Interpretationen, auf Dolby Surround zu Hause anhören kann: Das genügt! Man muss sie nicht noch weiter aufführen, die Ressourcen dürfen nun gerne anderweitig eingesetzt werden, für aktuelle Musik. Ebenso kann man heute im Netz Bilder von Picasso und van Gogh hochaufgelöst betrachten, dichter (und ungestörter) als man je im Museum of Modern Art an sie herantreten dürfte. Das sollte ausreichen! Wer hat schon die Demoiselles d’Avignon in echt gesehen? Nie wird Olivier Messiaens Schlüsselwerk Mode de Valeurs et d’Intensités gespielt, trotzdem kennt es jeder Komponist, trotzdem war es musikgeschichtlich epochal.[1] (Theodor W. Adorno war der Ansicht, es reiche, Noten zu lesen; so radikal braucht man es nicht zu halten, zumal Noten heute nicht mehr die Musik adäquat abbilden. Aber klangliche Reproduktionen erfüllen den Zweck.)

Die meisten Übertragungsmedien sind heute, stattdessen oder zugleich, Speichermedien. Man kann „live“ fernsehen, kann aber auch die Sendungen in der Mediathek ansehen. In den 70er-Jahren synchronisierte das Fernsehen abends noch die halbe Nation zum gleichzeitigen Erlebnis, was heute allenfalls bei Fußballgroßereignissen passiert. Einen unabgesprochenen Telefonanruf empfinden mittlerweile viele als die Nötigung eines Egoisten, der sich den Zeitpunkt des Telefonats im Gegensatz zum Angerufenen selber aussucht.[2] Auf Emails hingegen kann man in eigener Zeiteinteilung antworten und hat alles schwarz auf weiß zum Nachlesen, für immer. Nicht nur Echtzeit ist das Wesen des Internets, sondern ebenso die Individualzeit: Online-Shops haben 24 Stunden lang geöffnet, Arbeitsplätze müssen sich nicht mehr in Fabrikgebäuden, sondern können sich in den eigenen vier Wänden befinden und bis zu einem gewissen Grad erlaubt das dem Arbeitenden, sich selber einzuteilen, wann er die Geschäfte erledigt.

So sind alle Web-Dokumentationen von Kunstwerken interaktive Installationen. Der Zuschauer kann Pausieren, Vorspulen, Wegklicken. Die Wahrnehmung fragmentiert. Ein Bekannter schrieb mir, nachdem ich ihn auf einen siebzehnminütigen YouTube-Film hingewiesen hatte, er könne zwar die ganze Nacht YouTube-Filme anschauen, aber nicht einen Web-Film, der länger als fünf Minuten dauert. Typisch für das Internet ist Twitter, das jede Nachricht in maximal 140 Zeichen zwingt. So rauscht einem von extrem kurzem extrem viel entgegen. Eine gebräuchliche Abkürzung im Netz lautet „tl;dr“. Too long; didn’t read.

Das ist gut und schlecht, man wird sich darauf einstellen und das beste daraus machen müssen.

 


[1] Stockhausen beschreibt ausdrücklich, wie er die Schallplatte mehrmals anhörte. Karlheinz Stockhausen, Texte zur Musik Band 2, herausgegeben von Dieter Schnebel, Köln 1962, S. 144.

[2] Dazu: Martin Weigert, Der Tod des Telefonats. In: Netzwertig vom 23.8.2010. http://bit.ly/agBGt1, recherchiert am 30.8.2011.

Deutsch für Nazis

 

Miro Jennerjahn, Mitglied des Sächsischen Landtags für Bündnis 90/Die Grünen, entgegnet in dieser Rede dem NPD-Antrag „Deutsch statt ‘Denglisch’“ im Rahmen der 42. Sitzung des Sächsischen Landtags am 12. Oktober 2011.

(via Spreeblick)

Van Gogh über Kopieren und seinen Gebrauch von Reproduktionen

Kopieren interessiert mich ungemein. Ich finde, es lehrt einen manches, und vor allem es tröstet einen manchmal. Was ich darin suche und warum es mir gut scheint, diese Sachen zu kopieren, will ich dir sagen zu versuchen. Von uns Malern wird immer verlangt, wir sollten selber komponieren und nur Kompositeure sein. Gut – aber in der Musik ist es nicht so – wenn jemand Beethoven spielt, da gibt er seine persönliche Interpretation dazu – in der Musik und besonders im Gesang ist die Interpretation eines Komponisten eine Sache für sich, und es ist nicht unbedingt erforderlich, dass nur der Komponist seine eigenen Kompositionen spielt. Ich stelle mir das Schwarzweiß von Delacroix oder von Millet oder die Schwarzweiß-Wiedergabe nach ihren Sachen als Motiv vor mich hin. Und dann improvisiere ich darüber in Farbe, doch versteh mich recht – ich bin nicht ganz ich, sondern suche Erinnerung an ihre Bilder festzuhalten, aber diese Erinnerung, der ungefähre Zusammenhang der Farben, die ich gefühlsmäßig erfasse, auch wenn es nicht genau die richtigen sind – ist meine eigene Interpretation.

Vincent van Gogh an seinen Bruder am 19. September 1889.

Das totale Archiv (2): Die digitalen Archive

In der nächsten Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text „Das totale Archiv“ als Blog-Version. Im ersten Teil ging es erst einmal grundsätzlich um die relative Abstraktion und Konkretion der Begriffe „neu“ und „alt“, um verschiedene Auffassungen von Kontinuität und Bruch. Der zweite Teil nun befasst sich mit den digitalen Archiven als positive Innovation.

 

2. Die digitalen Archive

Man mag es Faulheit, Pragmatik oder hohe Anstrengung nennen: Als handfestes Kriterium für die qualitative Neuheit dient in diesem Text das Materielle (– und das vom Patentamt Bürokratisierte, wenn man so will –) des technologischen[1] Fortschritts. Allein schon die Tatsache, dass es in keinem Bereich so viele Neologismen wie in der Computerbranche gibt, spricht dafür.

Die heutigen Prozessoren, Festplatten und Übertragungswege sind Innovationen. Es gab sie vor zehn Jahren noch nicht. Ein Beispiel hierfür ist YouTube. Diese gigantische Videothek existiert seit sechs Jahren. Davor gab es nur physische Videotheken, in denen kommerzielle Videokassetten und DVDs erhältlich waren. Auf YouTube hingegen finden sich Schnipsel von allem, was auditiv und visuell aufzeichenbar ist. Praktisch jedes Nischenpublikum – bis auf Pornografie und Gewalt, wofür eigene Portale existieren – findet hier sein Glück, ob Stummfilme von 1902, Dokumentationen über kongolesische Riten oder radikale Kunstmusik. (Was allmählich wieder entfernt wird, sind kommerziell orientierte Inhalte, die hier illegal aufauchen.) Ginge die Betreiberfirma Bankrott, man müsste YouTube, mindestens im Sinne des Denkmalschutzes, verstaatlichen; dasselbe gilt für Wikipedia. Die große Mehrheit wird den technologischen Fortschritt, den diese Archive darstellen, als positiv ansehen. Aktuell steht zur Debatte, Wikipedia in die Liste der Weltkulturerbe aufzunehmen.

Zwar gab es Abseitiges wie Stumfilme von 1902 auch im Fernsehen, aber das zog als – wie wir heute sagen würden – „Livestream“ vorüber und verschwand, oft schmerzlich vermisst, wieder in den Rundfunkarchiven, so man es nicht rechtzeitig auf Videoband mitschnitt. Doch was vorbeifloss, staut sich jetzt auf Festplatten. Die Kultur, früher von Jägern gesammelt, ist sesshaft geworden in den Serverfarmen. Ein E-Book in einem Archiv in Kalifornien ist näher als das Bücherregal an der Wand; der Berg an Informationen ist zum Propheten gekommen. Alles findet sich nun ein im „globalen Dorf“ (Marshall McLuhan). Kennt nicht jeder den beglückenden Moment, wenn er eine vor fünfundzwanzig Jahren im dritten Programm halb gesehene und seither nie wieder ausgestrahlte, hochinteressante Sendung nun vollständig auf YouTube entdeckt? Schaffen es schon die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nicht selber, ihrem Bildungsauftrag nachzukommen, sollte es erste Bürgerpflicht sein, dass jeder seine alten VHS-Kassetten digitalisiert und der Menschheit auf YouTube übergibt. Gott sei Dank tun dies viele – YouTube ist ein demokratisches Weltwunder. Das „Hochladen“ darf man im Wortsinn als feierlich empfinden.[2]

 


[1] Die Ausdrücke „Technik“ und „Technologie“ werden in diesem Text synonym gebraucht, wie es sich vom englischen „technology“ aus hierzulande allmählich einbürgert.

[2] Vgl. „Als das British Film Institute in den 90er Jahren begann, die englische Bevölkerung in die systematische Suche nach historischen Fernsehsendungen einzubeziehen (die Originalbänder waren, um Geld zu sparen, einfach überspielt worden), mussten die Sender zunächst ausdrücklich erklären, nachträglich keine rechtlichen Schritte gegen das illegale Mitschneiden ihrer Programme einzuleiten.“ (Andreas Busche, Jäger der vorhandenen Schätze, in: taz vom 25.8.2011. http://bit.ly/pPiU1o, recherchiert am 30.8.2011.)

Onlinepetition der freien zeitgenössischen Musikszene Berlins zur Situation der Senatsförderung

Ich muss mich immer noch an die Petirerei im Netz gewöhnen, an die „Petition der Woche“ und den nächsten guten Zweck, für den ein schneller digitaler Karl-Otto ja wohl nicht zu viel verlangt ist.
(Mir ist allerdings weiterhin nicht klar, wie bei Online-Petitionen Mißbrauch ausgeschlossen wird, denn da kann man doch das Telefonbuch oder andere Datensätze zur Hand nehmen und Namen übertragen.)

Aktuell geht folgende Petition in Berlin um:

liebe Freunde und Kollegen,
normalerweise bin ich kein Freund solcher Petitionen, aber es erscheint mir wichtig,
entschuldigt bitte auch wenn ihr das eventuell mehrfach bekommen werdet,

einige von euch dürften es vielleicht schon mitbekommen haben,
seit einer Woche gab es vermehrt diverse Gerüchte und Warnsignale, dass die bisherige Förderstruktur in Form von Projekt- und Künstlerförderung des Berliner Senats im Bereich Musik ernsthaft in Gefahr sein könnte!

Im Zuge der derzeitigen Koalitionsverhandlungen ist eventuell auch eine Neuordnung bzw. Umstrukturierung im Bereich Musik und u.a. die Einrichtung eines „Music Boards“
geplant.

Vorsorglich und um den Senat davon zu überzeugen, dass die freie zeitgenössische Musikszene Berlins eine starke Lobby hat und etwaige Änderungen an den Fördersystemen nicht ohne die Beteiligung der in Berlin aktiv produzierenden Künstler möglich sein darf, haben wir uns entschlossen eine Onlinepetition zu starten!!

Wir möchten den Senat dazu aufrufen, die bisherige Form der Musikförderung der freien zeitgenössischen Szene beizubehalten und auszubauen – vor allem aber, diese direkte Künstler- und Projektförderung nicht in die Hände von kommerziell tätigen Unternehmen der Musikwirtschaft zu legen. Ihr findet die Petition unter folgendem Link: Onlinepetition zur Situation der Förderprogramme des Senat Berlin.

Wenn ihr gleicher Meinung seit so unterzeichnet doch bitte diese Petition so rasch wie möglich und leitet den Link an möglichst viele Kollegen, Bekannte und Freunde weiter.

Ich danke Euch allen für euer Engagement und bin mir sicher, wenn wir viele Stimmen sammeln, dass wir uns so Gehör verschaffen können!

mit herzlichen Grüssen

Ignaz Schick

noch einige Links zur Thematik:

aber auch:

 

Ich habe – noch – wenig Einblick in die strukturellen Hintergründe der freien Neuen-Musikszene Berlins, aber ich weiß dass sie wunderbar reichhaltig ist, getragen von leidenschaftlichen und großartigen Musikern und in dieser Form weltweit bewundert. Jede Bedrohung dieser kulturellen Leistung muss abgewehrt werden. Traurig genug, dass schon vorab verteidigt werden muss, wobei aus den Links für mich so nicht richtig hervorgeht, wie die Bedrohung eigentlich aussieht. Es hat auch etwas den Anschein von vorauseilendem Ungehorsam; aber dafür fehlen mir einfach die Hintergründe. Nun ja, man kann sich natürlich schon denken, dass die Ökonomie an der subventionierten Kultur fressen will, also: Alle unterzeichnen!

http://www.openpetition.de/petition/online/onlinepetitition-der-freien-zeitgenoessischen-musikszene-berlins-zur-situation-der-senatsfoerderung

Wenn ich dann trotzdem noch intern nörgeln darf, der Ausdruck „zeitgenössische Musik“ ist Bullshit – zeitgenössisch ist auch Dieter Bohlen. Richtig: „zeitgemäßge Musik“, „aktuelle Musik“ oder die gute alte „Neue Musik“.

Das totale Archiv (1): Neu und alt

Der Text „Das totale Archiv“, den eine Fachzeitschrift über Themen der Musik und der Ästhetik als „stalinistisch“, „medienfaschistisch“ und „neoliberal“ abgelehnt hat, wird stattdessen nächstes Jahr im Sammelband „Musik mit Musik – Texte 2005-2011“ im Wolke-Verlag erscheinen. (Kulturtechno berichtete)

Hiermit beginne ich eine Vorab-Blog-Version in zwölf Teilen, mit der ich den momentanen Stand zeigen und zur Diskussion stellen möchte.

 

Das totale Archiv

1. Neu und alt

War das Lautgedicht, die Rezitation sinnlicher, aber sinnfreier Wörter, das Hugo Ball 1916 im Zürcher Cabaret Voltaire präsentierte, etwas Neues? Christian Morgenstern hatte es schon erfunden, wenn überhaupt, und die Dadaisten wussten das. Bei den Dadaisten war wohl aber doch, angesichts des tobenden Weltkriegs und ihres ikonoklastischen Protests dagegen, das Lautgedicht qualitativ etwas anderes als beim verspielten Morgenstern zwanzig Jahre früher. Der Grad der Neuheit ist jedoch inkommensurabel und immer findet sich jemand (zum Beispiel die damalige Presse), der gleich abwinkt: „Gab’s doch schon!“

Ganz konkret betrachtet ist auch ein nur dastehendes Auto bereits zehn Minuten später ein anderes; steht es noch in fünfzig Jahren da, ist es, wenn es sich auch materiell überhaupt nicht geändert hätte, zum Oldtimer gewandelt. Umgekehrt, je stärker man Prinzipien abstrahiert, bleibt die Welt immer ‚gleicher’: Dem Fluxus-Stück ONE for a violin von Nam June Paik, bei dem mit einer Geige, am Griffbrett gehalten, ganz langsam vor einer Tischkante ausgeholt wird, um sie zuletzt daran zu zerschmettern, hielt ein Kritiker spöttisch vor, das sei im Grunde doch wieder tonale Musik, Spannung-Entspannung, Dominante-Tonika. Die hinuntergehauene Geige ist auch nur ein Abbild der platonischen Kadenz.

Hier streiten sich Konkretion und Abstraktion oder lineare und zyklische Geschichtsvorstellungen. Friedrich Nietzsche meinte, dass sich alles permutativ wiederholen müsse, wenn die Zeit ewig weiterläuft, aber die Materie begrenzt ist. Dem steht der zweite Satz der Thermodynamik gegenüber, wonach es irreversible Prozesse gibt. Licht, das auf Wasser fällt, erwärmt dieses, aber die Wärme wird nicht wieder Licht. Das Universum verdunkelt langsam aber sicher. Die Lehre der ewigen Wiederkehr hingegen entspräche einem Perpetuum mobile.

Ob der Langsamkeit der Verdunklung soll aber auch gefragt werden: Wie fühlt es sich an? Ein nicht unberechtigtes Modewort ist der Ausdruck „gefühlt“; „gefühlte Temperatur“, „gefühltes Alter“, „gefühlte Länge“ – die subjektive Korrektur schnöder Fakten.[1] Senioren äußern gern, dass sie nichts mehr überrascht, weil sie das Leben kennen. Die Zeit ist zwar ein Fluss, und darum ist alles, auch das Auto in zehn Minuten, immer neu, aber vielleicht nur im nichtigen Detail. Die Fülle des Neuen ist unendlich, aber man muss sie nicht dramatisieren, sie ist größtenteils ‚schlecht unendlich’. Getreue Wiederkehr gibt es nicht, „gefühlte“ ziemlich oft, Typen zeichnen sich ab, leere Spektakel ohne neue Qualitäten. Jeder Begriff ist ein Begriff des Unvermögens oder Unwillens, die Unendlichkeit zu sehen.

Neu und alt greifen meist ineinander. Im Hinblick auf die technologischen Entwicklungen können wir das hiesige Zeitalter als sehr progressiv empfinden, gerade darum können wir aber auch die Wiederholungen deutlicher sehen. Die neuen Datenmassen lassen sich oft nur durch Verallgemeinerungen und Ähnlichkeiten strukturieren, wie überhaupt der Mensch in Zyklen und Analogien denkt und plant, in wiederkehrenden Mustern gerade beim sich Ändernden. Der größte Neurer in der Musik, Arnold Schönberg, war immerzu mit Erklärungen bemüht, wie sehr er doch in der Tradition stünde. Und die Uhr ist, obwohl die Zeit immer weiterfließt, rund.

Man hat die neue Technik als Erweiterung der menschlichen Natur beschrieben: „Der Hammer ist die Faust, die Schaufel die Grabhand; die Mühle, die das Korn mahlt, nimmt den Zähnen die Arbeit ab. Der Motor, der Wagen und Flugzeuge treibt, leistet, was Beine und Flügel, wenngleich langsamer, dem Wesen nach auch leisten.“ (Ernst Jünger),[2] Marshall McLuhan sah in vernetzten Computern eine Art Nervensystem,[3] Peter Glaser setzt den Livestream in Bezug zum Fluss, an dem sich früher die Siedler niederließen,[4] den Monitor zum Lagerfeuer, der uralten Illumination, auf die der Mensch seit jeher starrt.[5]

Die Gegenseite meint, Maschinen seien keine homomorphen Erweiterungen, sondern „Eskalationen“ (Friedrich Kittler) mit Eigengesetzlichkeit; Hans Blumenberg nach stiegen beispielsweise die Brüder Wright aus der Logik der natürlichen Fortsetzung aus, indem sie Flugmaschinen mit Luftschrauben bauten – rotierende Organe seien der Natur fremd.[6] Das Rad ist der Sündenfall. Nicht selten hinken auch die Vergleiche von digitaler und analoger Welt, wenn zum Beispiel von Software-Diebstahl gesprochen wird, obwohl im Digitalen faktisch nicht weggenommen, sondern vervielfältigt wird. Doch kommt man schwer umhin, sich die neue Welt mit bekannten Prinzipien und Erfahrungen klarzumachen, und vielleicht ist das sogar die beste Strategie, den Überblick über den Fortschritt zu behalten.

Wörter konservieren: Das Kino nannte man anfangs „Lichtspiel“, als Alternative zum Schauspiel; die Leistung des Autos wird auch heute noch in „Pferdestärken“ aufgerechnet. Filme werden „gedreht“, obwohl Kameras mit Kurbeln längst passé sind, und selbst beim digitalen Video wird „vorgespult“, wiewohl sich im Computer dafür keine Spule befindet. Auf dem Handy „legt“ man noch „auf“, obwohl kein Hörer auf die Gabel kommt, und ein „DiscJockey“ legt heute keine Discs mehr auf. Bald werden junge Menschen nicht mehr wissen, dass ein „Ordner“, bevor er Dateien unterbrachte, auch mal ein physisches Ding war.

 


[1] Dazu: Marc Reichwein, G wie gefühlt, in: Die Welt vom 1.7.2011. http://bit.ly/r6UoQZ , recherchiert am 30.8.2011.

[2] Ernst Jünger, An der Zeitmauer, in: Gesammelte Werke, Zweite Abteilung, Essays Band 8, Stuttgart 1981, S. 55.

[3] Marshall McLuhan, Understanding Media, New York 1964, S. 3.

[4] Peter Glaser, Jetzt. Sofort. Alles. In: c’t magazin 6/10, http://bit.ly/aBQpS8, recherchiert am 30.8.2011.

[5] Peter Glaser, Die digitale Faszination – Vom Leben auf dem achten Kontinent, in: Glaserei vom 14.4.2010, http://bit.ly/ohtb7i, recherchiert am 30.8.2011.

[6] Martin Mayer, Ernst Jünger, München 1990, S. 501.

„I have a dream“ in altchinesische Sprache übersetzt

Der chinesische Konzeptkünstler Mao Tongqiang hat Martin Luther Kings berühmte „I have a dream“-Rede in die heute ausgestorbene altchinesische Tangut-Schrift aus der untergegangenen Westlichen Xi-Xia Dynastie (1038 bis 1227) übersetzt und in 385 Marmorquader meißeln lassen. Es gibt weltweit nur noch 10 Experten, die diese Schrift lesen und schreiben können.

Der Witz daran ist, dass der Künstler eine Rede über die universalen Werte einer modernen Gesellschaft in die Sprache eines untergegangenen Feudalreiches transkribierte, die keinerlei Begriffe für „Freiheit“ hatte.

Ein Prinzip, das man auch in der Musik anwenden könnte: Die unmögliche Transkription. Man stelle sich etwa Stockhausens „Gesang der Jünglinge“ in der Clavichord-Fassung vor.

Es war übrigens sehr schwierig, diese Fotos im Netz zu finden; der Künstler wird vom chinesischen Regime stark unterdrückt.

(via Die Welt)