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Kategorie Theorie

Adorno über geistiges Eigentum in der Musik

Aus „Musikalische Diebe, unmusikalische Richter“ (1934), Gesamtausgabe Band 17, S.292ff:

Die einzigen Dinge der Musik, die sich stehlen lassen, sind meßbare, zählbare Folgen von Tönen: Motive und Themen. Da mittlerweile auch die harmonische Dimension derart aufgelockert ist, daß ein Akkord so gut ein Einfall sein kann wie ein Thema; und da es keine harmonischen Konventionen mehr gibt, die lediglich eine schmale Zahl von Klängen dem Gebrauch freigeben, dürfte man heute auch gestohlenen Harmonien nachforschen; aber so weit sind die noch nicht, die derlei Sorgen haben. Sie halten sich an das, was sie Melodie nennen, an größere oder kürzere sukzessive Tonreihen, gewöhnlich solche, die auch rhythmisch einander gleichen. […]
Alle Rede vom musikalischen Diebstahl setzt einen Mechanismus der Verdinglichung voraus, der mit der wahren Objektivität der Kunstwerke nicht verwechselt werden darf, in welchem ihr Leben als Geschichte spielt. Erst wo dies Leben erstorben ist, oder nicht mehr wahrgenommen wird, wachen sie eifernd über die bloßen, beharrlichen Einfälle, als wären sie sakrosankt. […]
Kaum Zufall, daß der Zeitraum, auf welchen die Rede von gestohlener Musik überhaupt sich beziehen kann, mit dem der entfalteten kapitalistischen Gesellschaft genau zusammenfällt. […]
Jene Themen, wahrhaft »Einfälle«, die Sternen gleich eingefallen sind und sich behaupten, jenseits aller Formimmanenz, aber auch jenseits aller Dinglichkeit dessen, was vom Hörer gestohlen ist aus der Form, in der es lebt. Das sind die Themen, die schon beim ersten Erscheinen klingen wie Zitate; Schubert ist ihr oberster Hüter. Aber um sie braucht kein Hörer sich Sorgen zu machen. Sie sind gefeit; niemand kann sie sich aneignen, weil sie kein Eigentum sind, sondern Figuren der erscheinenden Wahrheit selber. Sie lassen sich so wenig stehlen wie die authentischen Sprichwörter. Versuchte es einer – sie schlügen nur zum Segen aus.

Die angesprochene Dialektik vom ersten Erscheinen, das wie ein Zitat klingt, hat auch schon Schumann benannt:
„Um zu komponieren, braucht man sich nur an eine Melodie zu erinnern, die noch niemandem eingefallen ist.“ Das Original ist die erste Kopie.

Früher auf Kulturtechno:
Stockhausen über geistiges Eigentum, 1960
Goethe, der Filesharer

Fehlerästhetik #11 – Kritik

Folgendes Zitat von Rolf Großmann hatte ich schon mal kritisiert, an dieser Stelle wird es erneut fällig:

Künstlerische und kulturelle Sampling Techniken können Innovation und SubVersion des Scratching oder der Tape Music nur fortsetzen, wenn sie den geordneten und ordentlichen Zugriff des digitalen Sampling (ich schließe das Frame-Grabbing der Bildwelten mit ein), seine saubere Programmverarbeitung durchbrechen und die Programme selbst zum Gegenstand des Zugriffs machen […] seine Verarbeitunsgsstrukturen [sollen] in einer neuen Stufe der direkten Programmzugriffe und Parameterzugänge […] ästhetisch produktiv werden…

Seit den Menschen bewusst ist, dass sie mit Gerätschaften (Medien) zu tun haben, klopfen sie diese auch nach ihren Limits und Fehlern ab, das schafft einen umfassenderen Blick auf sie, es zeigt Chancen und Grenzen und hält die humane Souveränität hoch gegen vermeintliche maschinelle Perfektion und Verheißungen des Kapitalismus.
Erscheint irgend ein neues Gadget oder ein neuer Google-Dienst, fangen auch gleich die Leute an, Fehler zu finden, vollgekackte Kameras bei Google Streetview, absurde Dialoge mit Siri. Lachenmann untersucht den ‚hässlichen‘ Geräuschanteil der ‚edlen‘ klassischen Instrumente, die abtrünnigen Popchargen scratchen und glitchen rum, entlaufene Designer pixeln hoch – der Fehler wird gefeiert. Aber das funktioniert nur, weil man sich auf ein Regelsystem bezieht, das Fehler haben kann; rigide Systeme also wie die tonale Musik.
Wer sich aber tief genug einarbeitet, zB in Digital Signal Processing, der kennt kein Regelwerk mehr. Eine Audiosoftware wie puredata oder Max/Msp hat keine Fehler, es sei denn, sie würde nicht ordentlich die Einsen und Nullen rechnen. Alles andere obliegt dem Programmierer. Der Digitalcode ist, anders als Großmanns Linienziehung suggeriert, keine Fortsetzung der alten Medien, sondern ein universelles Medium, das die alten schluckt.

Lachenmann oder die Glitches beziehen sich auf tonale Musik, also strikte Regelsysteme, in denen der Fehler auffällt und aufklärend wirkt – Aber: Sind diese Gegenbilder so relevant? Tatsächlich halte ich es da (als puredata-Programmierer) elitärer: „Nur wenige sind es wert, dass man ihnen widerspricht.“
[Aber zumindest die Fehlerästhetik generell ist es mir wert, widersprochen zu werden.]

Fehlerästhetik #9 – Kritik

Bei einem Medium die inhärenten Fehler hervorkehren, um eben das Medium erst so richtig sichtbar zu machen, ist ein gängier Topos geworden und zentrales Argument der „Fehlerästhetik“. Ich will allerdings meinen: Mittlerweile kennen wir unsere Medien ziemlich gut. Folgenden Passus in einem Text der Musikwissenschaftlerin Marion Saxer erscheint mir ich nicht mehr aktuell:

Wenn auch die Frage, was ein Medium ist, bis heute nicht eindeutig geklärt werden kann und die Bestimmung des Begriffs bis auf weiteres »chronisch prekär« bleibt, sind sich dennoch alle medientheoretischen Ansätze – so unterschiedlich sie auch sein mögen — in einer Grundüberzeugung einig. Gemeint ist der »unbewusste Charakter der Medien«, ihre eigentümliche Tendenz, bei selbstverständlicher Nutzung aus der Wahrnehmung zu verschwinden. Diesen Aspekt betont z. B. bereits Marshall McLuhan als einer der Väter der Medientheorie in seinem Schlüsselwerk Understanding media aus dem Jahr 1964, wenn er von der »unterschwelligen Magie der Medien« spricht, die es zu erkennen gilt. Gleiches fordert z. B. der Medienwissenschaftler Hartmut Winkler in seiner Mediendefinition: »Mediengebrauch ist weitgehend unbewusst. (…) Es bedarf einer fast künstlichen Abstandnahme, um die Medien selbst in den Blick zu nehmen.«

(Musik-Konzepte XI/2008, S. 174f)

Die ganze Geisteswissenschaft und gerade die Zeitungen befassen sich seit ca. vier Jahren dermaßen intensiv mit der Digitalisierung und allen angeschlossen Medien, dass die in dem Text postulierte ‚Terra incognita‘ so nicht mehr vorhanden ist.

Fehlerästhetik #8 – Kritik

Die 79. Ausgabe der Positionen ist dem Thema „Fehler / Scheitern“ gewidmet. Fast alle Autoren bemerken, dass Fehler nur relational, zu einem Regelsystem existieren, und sich vor allem die Frage nach der Gültigkeit / Relevanz eines Regelsystems stellt. Um es mit einer Anekdote meinerseits darzustellen – Mich fragte mal jemand nach meiner schmutzigsten sexuellen Fantasie. Meine Antwort war: Ich empfinde keine meiner sexuellen Fantasien als schmutzig.

Jedenfalls bemerkt Orm Finnendahl in der Positionen-Ausgabe treffend:

Eigentlich wäre es jetzt ganz einfach, sich in den Diskurs über den Fehler einzuklinken: Fehler ist in den Künsten zumeist positiv konnotiert, als letzter Rest subversiven Verhaltens, als Fehler im System, Sand im Getriebe, dem Behaupten individueller Freiheit zur Negation, einem Aufbäumen und Stemmen gegen den Systemzwang. Das der Kunst eigene Privileg, sich keinem allgemeinverbindlichen Nutzen unterwerfen zu müssen, ermöglicht die Einbeziehung des Fehlers in sämtliche vorstellbare Handlungen. Aber ganz so einfach ist es für mich nicht. Der Begriff des Fehlers ist ausgesprochen dialektisch. Einerseits führt sein Auftreten zu einer Verstärkung von Kontingenz: Er zeigt, dass es auch anders geht. Andererseits ist eine verstärkte Kontingenz dafür verantwortlich, dass die Identifizierung des Fehlers erschwert wird. Der Fehler bringt sich also insbesondere bei inflationärem Gebrauch selbst zum Verschwinden.

(S. 33)

Fehlerästhetik #7: The New Aesthetic

James Bridle stellt ganz richtig fest, dass es eine neue visuelle Ästhetik gibt durch neue technologische Errungenschaften, die nun jeder am Bildschirm häufig sieht: Google Satellitenbilder, Streetview- und Facebook-Gesichts-Markierungen, Überwachungskameras, Pixel, Glitches.

Hier das Blog mit einer großen Materialsammlung.

The New Aesthetic is an ongoing research project by James Bridle.

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Since May 2011 I have been collecting material which points towards new ways of seeing the world, an echo of the society, technology, politics and people that co-produce them.

The New Aesthetic is not a movement, it is not a thing which can be done. It is a series of artefacts of the heterogeneous network, which recognises differences, the gaps in our overlapping but distant realities.
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It began here: www.riglondon.com/blog/2011/05/06/the-new-aesthetic/

Here is a talk (video) about the visual aspects of the New Aesthetic (here is a transcript).

Here is another talk (video) about the New Aesthetic, concerning literature, sexuality, and collaborating with the network.

An Essay on the New Aesthetic

Reports of a panel on the New Aesthetic at SXSW.

Fehlerästhetik #6: Material Zelluloid

Natürlich wurde auch mal – in den 60ern – das Zelluloid des analogen Films auseinandergenommen und aus allen nur erdenklichen Fehlern wiederum Film gemacht. Exemplarisch der „Rohfilm“ von Birgit und Wilhelm Hein, 1968.

Aber auch im letzten Godard-Film, ein Meisterwerk übrigens, kommen visuelle und akustische Übersteuerungen als Stilmittel immer wieder vor. In dem Trailer leider nur kurz davon etwas:

Fehlerästhetik #5: Pixelverherrlichung

Das Pixel ist das visuelle Symbol für die Computerisierung schlechthin – dabei soll es eigentlich gar nicht gesehen werden; das ganze Prinzip von digitalen Bildern und Musikdateien basiert ja darauf, dass diskrete Werte in so hoher Auflösung aneinandergereiht werden, dass sie fürs Auge/Ohr verschmelzen, so wie im Kino die 24 Bilder pro Sekunde. Dennoch treten uns die Pixel oft ins Auge. Und so sieht man immer öfter auch ihre gewollt-absurde Übertragung in die Kohlenstoffwelt.

Sieht wie eine schlechte Nachbearbeitung aus, ist aber wirklich so gebaut: Das Weinmuseum in La Rioja, Spanien.

Ein ganzes Blog voller Pixel (bzw. Voxel, das 3D-Pixel) in Real Life ist The new Aesthetic. Obiges spanisches Beispiel sieht ja noch wirklich witzig aus, aber wenn man sich durch das Blog klickt ermüdet es einen bald. Spannender finde ich da Aram Bartholls Projekte, die über das bloße Pixel hinausgehen und bedeutungsgeladene Objekte der Computerisierung in den Alltag überträgt. (Dass die Pixelästhetik bis ins 19. Jahrhundert zurückgeht, habe ich hier gezeigt.)

YouTube, das Patentamt der Gegenwart

In der ZEIT steht ein interessanter Artikel über „Open Science“, womit gemeint ist, dass Forschung bereits im Forschungsstadium öffentlich sein soll – dort, wo das sinnvoll ist. Auf den Einwand, dann würden Ideen geklaut werden, entgegnet Prof. Spannagel:

Spannagel: Ich sage immer: Wer Angst hat, dass ihm Ideen geklaut werden, der hat wohl nicht genug. Natürlich lebt ein Forscher davon, dass sein Name mit seiner Idee verknüpft wird. Aber wenn es darum geht, kann man seine Idee so früh wie möglich im Internet veröffentlichen und das Netz als Protokoll verstehen, wo die Idee zusammen mit dem eigenen Namen zum frühestmöglichen Zeitpunkt dokumentiert ist.

Genau das meine ich mit dem Aphorismus (der auch auf dem Einband meines Buches „Musik mit Musik“ steht), „Originale kann man kopieren, Originalität nicht.“ Und der zweite Punkt ist ebenfalls noch wenig im allgemeinen Bewusstsein: Twitter und YouTube sind die veritablen Patentamte der Gegenwart, denn dort lässt sich genau nachsehen, wer eine Idee in die Welt gesetzt hat.

Kulturtechno verstehe ich auch im Sinne von Open Science: Ein öffentliches Forschen in der Ästhetik der Gegenwart.

Früher auf Kulturtechno: Stockhausen über geistiges Eigentum, 1960

Fehlerästhetik #4: klassische Instrumente falsch spielen

Die ganze Ästhetik von Helmut Lachenmann basiert darauf, klassische Instrumente verfremdet zu spielen, als „Kritik am philharmonischen Schönklang“ und am tonalen, exkludierenden Hören.

Die Crux ist daran jedoch, dass Lachenmann mit diesen „Fehlern“ so streng komponiert wie Beethoven; anarchisch ist das (heute) gar nicht, und er wird mittlerweile im Klassikbetrieb gefeiert wie Beethoven – außerdem stirbt der Klassikbetrieb langsam aus. Unbestritten ist die Musik aber sehr schön. Doch zum Preis, dass der ‚Fehler‘ verschwunden ist. Hier ist er dagegen noch da:

Fehlerästhetik #3: Unschärfe

Als nur ein (prominentes) Beispiel für die Ästhetisierung der Unschärfe, ein abgemaltes Foto von Gerhard Richter, die Matrosen von 1965:

Ein ganzes Buch von Wolfgang Ullrich befasst sich mit der „Geschichte der Unschärfe„, das ich im Augenglick leider nicht zur Hand habe.