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Klavierstück 5 @London

Heute abend spielt Mark Knoop im Rahmen eines Konzerts des Ensemble Plus-Minus mein Klavierstück 5 in London.

7pm Tuesday 29 November 2011
Performance Space at City University London
College Building, St John Street, London EC1V 4PB

Iannis Xenakis – Dikhthas
Aldo Clementi – Madrigale
Johannes Kreidler – Klavierstück 5
Alex Hills – 5 Resonance Studies
Simon Steen Andersen – Study for string instrument #1

Höhepunkte der Sensorik. Heute: die Digitalisierung des Urinstrahls.

Exkremente in der Kunst, da hat die Geschichte schon was zu bieten: Warhol pisste auf Leinwände, Manzoni verkaufte seine Scheiße in Dosen zum damaligen Goldpreis, Dash Snow rahmte seine Ejakulate ein.

Eine englische Kneipe übernimmt nun eine aus Japan (woher auch sonst?) kommende Technologie, bei der mittels des Strullstrahls (von Männern) ein Videospiel gesteuert werden kann. Es dürfte also nur noch eine Frage der Zeit sein (oder gibt es das schon?), bis jemand auch Klänge mit seinem Pullermann ansteuert. Schließlich schrieb schon Händel eine „Wassermusik“, und Ravel die „Jeux d’Eau“. In der Obertonreihe haben wir die Natursept.

(via Spiegel Offline)

Früher auf Kulturtechno: Tuba-Pissoirs.

Kreidler @Musik? Salzburg

Heute abend, 19h findet in der Galerie 5020 eine Podiumsdiskussion aus der Reihe „Wohin?“ statt, zum Thema: „Musik?“, organisiert vom ARGE Komponistenforum.

Wohin?#17 – MUSIK? – In welchem Kontext ist Musik Musik?

am Montag, 28. November 2011 um 19 Uhr in der Galerie 5020 in Salzburg, Sigmund Haffnergasse 12/1
mit
Heinrich Deisl (Journalist/Skug)
Johannes Kreidler (Komponist/Berlin) per Skype
Barbara Lüneburg (Musikerin/Wien)
Eva Maria Stöckler (Musikwissenschaftlerin/Donau-Universität Krems)

Moderation Hannes Raffaseder und Wolfgang Seierl

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MUSIK? – In welchem Kontext ist Musik Musik?

Das 16. Kofomi im September 2011 widmete sich der Frage „Musik?“ und erzeugte mit dieser kürzelhaften Fragestellung vor allem weitere Fragen. In diesem Gespräch – zwei Monate nach dem KoFoMi 2011 – wollen wir einige dieser Fragen herausgreifen: Was und wo ist Musik heute, welche Funktionen hat sie in unserer gegenwärtigen Gesellschaft? Anton Webern vollzog mit seinem Satz „Die Musik ist die gesetzmäßige Natur in Bezug auf den Sinn des Ohres“ den Schritt von einer materialbezogenen zu einer kommunikationsbezogenen Definition von Musik. Von der Tonkunst zur Hörkunst also. Seit damals und vor allem in den letzten 20 Jahren hat sich vieles verändert, – unsere aktuellen Musikkonsumgewohnheiten bringen uns die Musik mittels Lautsprecher oder Kopfhörer so nah und in einer Vielfalt und Fülle an unser Ohr wie nie zuvor. Was aber ist Musik, der Musikmarkt und unser Hören bzw. Musikkonsum heute? Wie der zerbrochene Spiegel der Postmoderne und unserer globalisierten und vernetzten Welt scheint sich der traditionelle einheitliche Musikbegriff in unzählige Facetten aufzusplittern, aufzulösen und doch neu zu bilden, – für Musikschaffende wie -hörende…

Eintritt frei! Gefördert von Stadt und Land Salzburg

Da ich leider aus Zeitgründen nicht nach Salzburg reisen kann, werde ich via Skype an der Runde teilnehmen!

Das meint der Kulturtechno-Karikaturist dazu:

Pendel-Musik

Unlängst hatte ich hier das faszinierende Pendel-Video, und ich hab mal etwas salopp dazugeschrieben, dass das schön, aber ’natürlich‘ keine Kunst sei. Dahinter steckt die alte Frage nach Kunst und Naturschönheit. Ich erinnere etwa an Schopenhauers Diktum:

Inzwischen heißt ein Optimist mich die Augen öffnen und hineinsehn in die Welt, wie sie so schön sei, im Sonnenschein, mit ihren Bergen, Thälern, Ströhmen, Pflanzen, Thieren u.s.f. – Aber ist denn die Welt ein Guckkasten? Zu sehn sind diese Dinge freilich schön; aber sie zu seyn ist ganz etwas Anderes.

(Die Welt als Wille und Vorstellung, Kapitel 46 – Von der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens)

Johann hat in den Kommentaren zurecht bemerkt, dass das Pendelarrangement nicht wirklich der „Natur“ zugerechnet werden kann, und eigentlich dem Verfahren der Minimal Music gleicht. Tatsächlich, es fällt mir erst jetzt wieder ein, gibt es von Steve Reich die „Pendulum Music“ von 1968:

Will sagen: Ich nehme alles zurück!

Auch das vormals gepostete Pendel-Video hat jemand musikalisiert, wenn auch durch die Pentatonik etwas unnötig verkitscht:

I assigned one note in a pentatonic scale to each ball so that the whole group covers 3 octaves (15 balls). I used a pentatonic scale (C,D,F,G,A) so that the notes would sound good together no matter which ones were playing. Each ball has a corresponding octave as well so that the first ball, for example, plays a low C when it swings to the right and C an octave higher when it swings left. So, actually, there are a total of 4 octaves being played. I panned each note correctly left and right in the stereo field so that (if you listen in stereo – preferably with headphones) you can also get a more pronounced sense for the spatial patterns.

The lowest note plays at 51 bpm, the second at 52 bpm on up to 65 bpm. That way each note is (theoretically) in time with its corresponding pendulum. There is a small discrepancy in timing – probably because it’s difficult to start them perfectly together, but it basically works.

Und hier gibt’s noch die Juggling Sound Ball Demo.

Fragebogen über mitteilsame Musik

Nächste Woche Freitag (2.12.) gibt’s beim Festival Rainy Days in der Luxemburger Philharmonie, welches heuer „Let’s talk to each other“ zum Thema hat, meine Show „Giving Talks“, eine szenische Kompilation der Werke „Fremdarbeit“, „Music for a Solo Western Man“, „Compression Sound Art“ und Teile aus „Feeds. Hören TV“. Es spielt das Ensemble Lucilin geleitet von David Reiland, ich selbst werde moderieren, mit Festivalchef Bernhard Günther als Sidekick; es tanzt Manuel Romen, die Klang- und Videoregie betreut Tobias Knobloch.

http://www.rainydays.lu/2011/index.php?id=0212&PHPSESSID=lrh6eaat65et8gll9q332rc7r1

Für das Programmheft sollten die beteiligten Komponisten des Festivals einen Fragebogen ausfüllen; das sind meine Antworten:

Wo würden Sie Ihre Kompositionen auf einer Skala der Mitteilsamkeit von 1 (sie sollten vollkommen rätselhaft bleiben) bis 10 (sie sollten vollkommen selbsterklärend sein) idealerweise sehen wollen?

11 (10 und 1)

Und realistischerweise?

10.1

Welche Stücke anderer Komponisten aus der Vergangenheit oder Gegenwart finden Sie persönlich besonders gelungen im Blick auf ihre verbale Mitteilsamkeit?

Alvin Lucier, I am sitting in a Room
Nicolaus Huber, Harakiri
Bob Ostertag, sooner or later
Martin Schüttler, Leerstand
Trond Reynholdtsen, Unsichtbare Musik
Patrick Frank, The Law of Quality
Lars Petter Hagen, To Zeitblom

Welche verbalen und sonstigen nicht im engeren Sinne ‹rein› musikalischen Mittel setzen Sie am liebsten ein, um einem Publikum etwas mitzuteilen? Gesungene Texte, gesprochene Texte (als Teil der Aufführung), sichtbare Texte (während der Aufführung), Texte im Programmbuch, Einführungsvorträge vor der Aufführung, Gespräche nach der Aufführung, Videos, Websites, Bilder, Objekte, Licht, …?

Vornehmlich Moderation und Video.

Haben Sie manchmal das Gefühl, zugunsten deutlicherer kommunikativer Aspekte einer Komposition bei der ‹rein musikalischen› Qualität oder Wahrnehmbarkeit Abstriche machen zu müssen?

Ja, manchmal, und manchmal macht das gar nichts, und manchmal ist es schade.

Was bedeutet für Sie die Arbeitsteilung oder Rollenvermischung zwischen Komponist, Performer, Textautor, Sprecher/Kommentator, Video-/Filmemacher, Regisseur, …?

Arbeitsteilung ist ein Übel in der Kunst, wenn so etwas wie ein Gesamtkunstwerk angestrebt wird. Funktionaler Einsatz verschiedener Medien hingegen ist gut, wenn es ein Gesamtkonzept und einen Chef gibt.

Welche Reaktionen löst das folgende berühmte Zitat von Theodor W. Adorno (1953/1959) heute bei Ihnen aus?
«Die Schocks des Unverständlichen, welche die künstlerische Technik im Zeitalter der Sinnlosigkeit austeilt, schlagen um. Sie erhellen die sinnlose Welt. Dem opfert sich die neue Musik. Alle Dunkelheit und Schuld hat sie auf sich genommen. […] Keiner will mit ihr etwas zu tun haben, die Individuellen ebenso wenig wie die Kollektiven. Sie verhallt ungehört, ohne Echo. […] Sie ist die wahre Flaschenpost.»

Nun ja, so sinnlos erscheint die Welt heute nicht mehr, im Gegenteil, wir haben gewaltigen Sinnüberschuss und einen Ozean voll Flaschenpost: das Internet.

Wie hat sich die Beziehung zwischen Komponisten und Zuhörern in den letzten Jahrzehnten verändert?

Vielleicht etwas kommunikativer, durch das Internet. Ist aber (noch) nicht allzu verallgemeinerbar.

Wie stellen Sie sich Sie die idealen Hörer Ihrer Musik vor?

„Wenn zwei Sechzehnjährige sich in der Mansarde oder auf einem Waldgang an dem Autor begeistern, den sie entdeckt haben, so ist das wichtiger als die Tagung eines Schriftstellerverbandes oder die Verhandlung einer Akademie.“ (Ernst Jünger)

Gibt es sonst noch etwas, was Sie Ihrem Publikum im Festival rainy days 2011 an dieser Stelle mitteilen möchten?

Sapere aude.

Frankenfont – Der Literaturklassiker gesetzt aus fehlerhaften PDFs

Das Projekt Frankenfont setzt aus fehlerhaft eingebetteten Schriftarten in PDFs den Literaturklassiker „Frankenstein“. Grausig!

(via we like that)

Jean Zieglers nicht gehaltene Salzburger Festspielrede

Globalisierungskritiker Jean Ziegler hätte die Eröffnungsrede der diesjährigen Salzburger Festspiele halten sollen – dann wurde er wieder ausgeladen. Man munkelt, auf Druck der Sponsoren.

Wie dem auch sei –

Sehr verehrte Damen und Herren,
alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 37.000 Menschen verhungern jeden Tag und fast eine Milliarde sind permanent schwerstens unterernährt. Und derselbe World-Food-Report der FAO, der alljährlich diese Opferzahlen gibt, sagt, dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase ihrer Entwicklung problemlos das Doppelte der Weltbevölkerung normal ernähren könnte.

Schlussfolgerung: Es gibt keinen objektiven Mangel, also keine Fatalität für das tägliche Massaker des Hungers, das in eisiger Normalität vor sich geht. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.

Hier kann man die Rede nachlesen.

Das totale Archiv (12. und letzte): Gegentendenzen

In der letzten Zeit brachte ich den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version, der nun mit dem zwölften und letzten Teil abschließt.

Die Frage, was als neu und was als alt gilt (1), begleitete den Text immer wieder, aber neu sind definitiv die digitalen Archive (2), die das Mediennutzungsverhalten ändern (3). Ein Exkurs fragte nach dem Wesen des technischen Fortschritts (4). Charakteristisch für die digitalen Archive ist, dass sie ungekannte Datenmassen des Vergangenen beherbergen (5) und dass diese unauslöschbar sind (6). Ebenso ist die Menschheit unauslöschbar (7). Die Last der Vergangenheit ist ein bekanntes Thema (8), aber sie wird es immer noch mehr. Darum ist der postmoderne Collage-Stil womöglich der bestimmende Stil auch in Zukunft (9). Das erfordert bestimmte Design-Lösungen (10). Künstlerische Sujets des totalen Archivs sind beispielsweise die großen Quantitäten und die Nachinszenierung (11). Angesichts exklusivistischer Gegenbewegungen ist ein Plädoyer für die Offenheit (12) angebracht.

 

12. Gegentendenzen

Was ist am totalen Archiv total? Zunächst ist es schlichtweg die größte Sammlung von Informationen, die die Menschheit bislang kannte. Die Encyclopædia Britannica von 2004 birgt rund 75.000 Artikel in 32 Bänden, die englischsprachige Wikipedia zählt 2011 gut 3.750.000 Einträge. Das ist kein Produkt einer Ideologie, sondern der technologischen Entwicklung.

Zum einen ist daran ein Totalisierungszug, dass der Computer, also die Digitalisierung, alle Medien schluckt, Radio, Fernsehen, Bücher. Das Medium verschwindet wieder hinter der Botschaft; die Digitalisierung wird selbstverständlich, und damit herrschend. Hilflos schreibt noch die Tagesschau bei Videomaterial aus dem Netz: „Quelle: Internet“. Entsprechend haben die Firmen Google, Apple und Microsoft zu bedenklichem Grad das Monopol über kulturelle Güter. Grundsätzlich ist es wünschenswert, dass es ein zentrales Portal gibt, worüber eine Suchanfrage gestartet wird, die über das gesamte Archiv zugreifen kann – das bleibt der Vorzug von illegalen Tauschbörsen gegenüber den kommerziellen Pendants. Dennoch bedeutet ein System ohne wirklichen Wettbewerb eine problematische, vielleicht gefährliche Akkumulation. Wer bestimmt die Bedingungen der Suchabfrage? Die anarchische Verteilung der Informationen hingegen ist Segen und Fluch – niemand überschaut alles, aber entsprechend schwer wird die Verständigung darüber, bis hin dass jeder doch in seiner eigenen „Filterblase“ lebt.[1] Da sind Zufallselemente innerhalb der Algorithmen wünschenswert.

Zum anderen übersteigt die schiere Größe des Archivs das menschliche Erfassungsvermögen – in viel höherer Dimension als die analogen Archive. Natürlich bleibt jedem überlassen, sich ein- und auszuklinken aus dem Netz; doch wo es jedoch um Wissen und Erfahrung geht, gibt es keine Isolation mehr. Die Probleme der Menschheit sind globale, selbst das Private ist, frei nach dem Slogan, global. Über Krankheiten macht man sich im totalen Archiv kundig, aus dem Facebook-Pool knüpft man Kontakte. Überall in der Luft hängt ein unsichtbares Netz, das Internet. Dort kann sich alles verfangen, dort wird alles kontextualisiert und abgeglichen. Man lebt immer unsicherer, weil eine Behauptung sofort jemand anderes im totalen Archiv überprüfen, also möglicherweise falsifizieren kann. Politikerlügen können entlarvt, Plagiate identifiziert werden. Wirkliches Wissen ist dann nur noch in hochgradigem Spezialistentum möglich, alles andere verharrt auf zufällig Aufgelesenem. Früher konnte man sein Auto noch selber reparieren! Je leichter der Alltag durch Technologie wird, desto komplexer wird das Wissen dahinter. Nichts verkörpert das anschaulicher als die Produkte der Firma Apple: geleckte Oberfläche, selbsterklärende Bedienbarkeit noch für den Unbedarftesten, aber eine gigantische Intelligenz dahinter.

So zeichnen sich, obwohl, wie im siebten Abschnitt dargelegt wurde, „Information frei sein will“, Gegentendenzen ab: Die neue Abschottung. Öffentlich-rechtlich finanzierte Rundfunkanstalten müssen ihre Sendungen – die doch allen Gebührenzahlern gehören – auf Druck des Marktes nach sieben Tagen aus dem Netz nehmen, Apple verriegelt hermetisch seine Software, und Regimes klemmen in ihren Ländern das halbe oder sogar das gesamte Internet ab. Wurde der postmoderne Pluralismus mit dem Internet und der Globalisierung nach 1989 eingelöst, tritt nun die Reaktion auf den Plan: Nationalismen keimen wieder auf und Europa mauert sich vor den Afrikanern ein. All das kann eigentlich nicht sein und schon gar nicht darf es das; man fühlt sich in die Prohibition in den USA der 1920er Jahre zurückversetzt, die der heranrollenden Moderne entgegengestemmt wurde, völlig zu unnütz.

Hier ist Pluralismus unbedingt hochzuhalten. Es ist zu hoffen und wünschen, dass Umgangsverfahren mit der Informationsfülle entstehen, ohne dass der innwohnende Reichtum beschnitten wird. Das digitale Archiv ist eine geistige, keine physische Instanz, und darum interpretierbar; eine elastische, mitkommunizierte Handhabe von Abstraktion und Konkretion kann es produktiv statt lähmend machen.

 


[1] „Filter bubble“, ein von Eli Pariser geprägter Begriff, der die Isolation in personalisierten Algorithmen beschreibt.

Kreidler @ZKM & @Huddersfield

Heute abend findet am Zentrum für Kunst- und Medientechnologie Karlsruhe im Rahmen des piano+-Festivals die Uraufführung meiner „Studie für Klavier, Audio- und Videozuspielung“ statt, daneben Xenakis und Iddon. Es spielt Rei Nakamura.

21 Uhr im ZKM_Kubus
»Xenakis heute« Piano+ IV
Iannis Xenakis »À.r.(Hommage à Ravel)« für Klavier (1987)
»Herma« für Klavier (1960/61)
Martin Iddon (*1975) »Neues Werk« mit Midi-Flügel und Elektronik (UA, 2011)
Johannes Kreidler (*1980) Studie für Klavier und Video (UA, 2011)
Klavier: Rei Nakamura, NN

http://on1.zkm.de/zkm/stories/storyReader$7786

Außerdem spielt heute abend Mark Knoop beim Huddersfield Contemporary Music Festival das Klavierstück 5, Werke von Stefan Prins und Peter Ablinger sowie das gesamte Klavierwerk von Iannis Xenakis!

Iannis Xenakis Herma
Johannes Kreidler Klavierstück 5
Iannis Xenakis Mists
Stefan Prins Piano Hero #1
Stefan Prins Piano Hero #2
Peter Ablinger 6 Linien
Iannis Xenakis à R. (Hommage à Ravel)

N.B.: Es ist schon mehr als auffällig, wie oft zur Zeit Xenakis allerorten gespielt wird. Marxistische Vermutung: Weil die Menschen heute mehr denn je ihr Leben mit Algorithmen verbringen, wird die algorithmische Musik Xenakis‘ als so aktuell empfunden. Seine musikalischen Strukturen kehren in Google und Facebook wieder.

Das totale Archiv (11): Kunst des totalen Archivs

Zur Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der zehnte Teil beleuchtete Designformen des totalen Archivs, der elfte nun Kunst.

 

11. Kunst des totalen Archivs

In der Kunst war der Fortschritt des 20. Jahrhunderts zuerst weniger ein technologischer als ein ideeller. Von den technischen Mitteln her hätte man schon in Höhlen kubistisch malen und auf der Viola da Gamba atonal spielen können – sie bedurften aber noch so mancher „Immaterialien“ (Friedrich Kittler), die erst in der Moderne errungen wurden. Die großen ideellen Schranken sind seitdem in der westlichen Welt gänzlich gefallen. Man kann zwar immer noch Leute mit atonaler Musik ärgern, dass das aber ein historisches Stelldichein darstellt, dessen Fronten stehengeblieben sind, hat sich herumgesprochen.

Im 20. Jahrhundert wurden, nach dem Wegfall der alten Eingrenzungen wie der Tonalität, der Zentralperspektive oder des Reimschemas, praktisch alle existenten ästhetischen Bereiche der menschlichen Wahrnehmung ausgelotet. Ein weiterer Fortschritt hängt darum sicher zu einem Gutteil am materiellen, technischen Fortschritt, der weiteres Terrain eröffnet. Es gibt eine neue Musik nur in einer neuen Gesellschaft, so das Diktum Hanns Eislers; heute können wir feststellen, dass die bewegendste Innovationskraft der Gesellschaft Technik ist. Man überlege einmal, wieviel Lebenszeit man an einem neuen technischen Gerät wie dem Computer verbringt. Marx korrigierend ist nicht nur die ökonomische, sondern auch die technologische Situation zuhöchst normativ, denn heutige Technologie kann auch von ökonomisch Schwachen besessen werden. Technologie wird für die Kunst des 21. Jahrhunderts – auch wenn in der Kunst schwer etwas verallgemeinerbar ist – von eminenter Bedeutung sein. Man kann beispielsweise beobachten, wie allmählich Computerspiele im Feuilleton Einzug halten, wie überhaupt das allgemeine Interesse an künstlerischer Verarbeitung der medialen Umbrüche groß ist. Aber auch ganz allgemein ist die Technologie der aussichtsreichste Ausweg aus dem Ende der Geschichte. Vielleicht wird man einmal, dank Gentechnik oder cognitive computing, einen IQ von 150 als ‚geistig behindert’ einstufen und unsere Zeit noch der Steinzeit zurechnen.

Die neuen Technologien bringen ein Gefühl der unendlichen Fülle. Diplomatische Enthüllungen gibt es, seit es Diplomatie gibt; die bei Wikileaks erschienenen 251.287 diplomatischen Depeschen, die 76.911 Dokumente über den Afghanistankrieg oder die 391.832 Dokumente aus dem Irak markieren jedoch eine andere Größenordnung. Eine sehr große Zahl an Sinneswahrnehmungen, 3.300 Klänge in zwölf Minuten abgespielt, ist eine Erfahrung unzählbarer, sinnlich so gut wie unendlicher Quantität. Auf das mutmaßliche Ende der großen Erzählungen folgen große Zählungen.

Die großen Quantitäten, die riesige materiale Steigerung, können in der Kunstgeschichte verfolgt werden.[1] Die Goldbergvariationen von Bach umfassen 32 Variationen, Beethoven setzte mit den Diabellivariationen eine drauf (33), Enno Poppe schrieb 1997 Thema mit 840 Variationen. Die historische Avantgarde spürte das Potenzial der Zahl, Messiaen schrieb ein Orgelstück mit dem Titel 64 Durées, Andy Warhol titelte: Thirty are better than one, gemeint war die Vervielfältigung der Mona Lisa. Karlheinz Stockhausen vollbrachte den technisch-avantgardistischen Superlativ, indem er ein Streichquartett in Helikoptern spielen ließ; Christoph Schlingensief titelte in großen Quantitäten: Talk 2000, U 3000. Mit der offenen Form eröffneten sich gigantische Kombinationsmöglichkeiten, etwa bei Raymond Queneaus Hunderttausend Milliarden Gedichten (1961). Die Gegenwart nun erstrahlt in kolossalen Ansammlungen, Gerhard Richter bestückt den Kölner Dom mit 11.500 Farbquadraten, Thomas Hirschhorn gestaltet Räume mit hypertrophen Installationen aus, Kim Asendorf generiert Bilder aus 100.000.000 stolen pixels, Ai Weiwei stellt Millionen Sonnenblumenkerne aus oder veröffentlicht auf seinem Blog Hunderttausende Fotos, Spencer Turick fotografiert riesige nackte Menschenmassen, ich habe 2008 ein Stück mit 70.200 Fremdzitaten komponiert und mit ebensovielen Formularen bei der GEMA angemeldet; Arno Lücker hat sämtliche Trompetenstellen aus Brucknersymphonien kompiliert; Wolfgang Rihms Riesenoeuvre, Brian Ferneyhoughs Komplexismus, Damien Hirsts Superpreise – es ist das „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm), der überbordenden Möglichkeiten durch heutige Produktionsmittel (und freilich ist es auch das Zeitalter des Turbokapitalismus). Die sinnliche Qualität einer großen Zahl wie 11.500 Farbquadraten ist qualitativ kaum überbietbar; ein Musikstück mit 80.200 Zitaten wäre keine ästhetische Steigerung mehr.

Man könnte diese Tendenz „Hypermoderne“ nennen, einen letzten Akt des Materialfortschritts. Der Begriff kursiert sporadisch. Braucht es überhaupt ein neues Wort? Es soll hier keine neue Epoche ausgerufen werden. „Hypermoderne“ ist eher ein Gattungsbegriff; die Postmoderne gilt, wie gesagt, in Aspekten schonungslos weiter. „Hyper-„ ist eine der Ableitungsvokabeln, wie „post-“, „trans-“, „cyber-„ oder „meta-“, die die Zeit nach der Moderne kennzeichnen. Die Dinge wachsen technikbedingt über sich hinaus, man gewärtigt ihre Größe in Bezug aufs vorherige.

Eine zweite, typische Tendenz in der Kunst ist die der technischen Aktualisierungen alter Werke, namentlich der historischen Avantgarde. Es wird dezidiert auf ein bestehendes Werk Bezug genommen, pointilistisch eine Tradition selektiert und in das neue Sehen und Hören der neuen Zeit übersetzt; die „Postmodernisierung moderner Kunst“ (Lyotard). Auch ist es das ehrliche Eingeständnis, dass mehr an Innovation als diese Updates nicht möglich ist. Wenn es neue Technik gibt, muss es logischerweise auch eine neue Avantgarde geben – aber davon spricht niemand, denn in gleichem oder größerem Maße ist auch die Präsenz der Vergangenheit gewachsen. Immerhin wird aber gerade an dem Rückgriff ein Grad von Neuheit ablesbar.

Shawn Feeny hat Cornelius Cardews Klassiker der grafischen Notation, Treatise von 1967, mit Sinustönen in einem rasanten Video ausgelesen; Giorgio Sancristoforo programmierte Franco Evangelistis Incontri di fasce sonore von 1957 neu, ebenso Thomas Hummel John Cages Variations I von 1958 oder Karlheinz Essel Cages Fontana Mix von ’58. Eva und Franco Mattes stellten in „Second Life“ Performance-Klassiker wie Marina Abramovićs Imponderabilia (1977), Valie Exports Tast- und Tappkino (1968) oder gar Joseph Beuys’ 7000 Eichen (1982) nach, Sascha Lobo hat auf Facebook Molly Blooms Stream of Consciousness aus James Joyce’ Ulysses von 1922 in einen Online-Nachrichtenstream gesetzt; Cory Arcangel schnitt eine große Menge an YouTube-Videos, in den Katzen über Klaviertasten stolzieren, zu Schönbergs Klavierstücken Op.11 von 1908 zusammen; George Manak hat aus dem Schnipsel eines Hollywood-Films Steve Reichs Clapping Music von 1972 re-arrangiert; Patrick Liddell realisierte Alvin Luciers I am sitting in a Room von 1969 mithilfe der Kompressionsalgorithmen von YouTube, wo er die Aufnahme tausend mal hochlud und wieder rippte. Nick Collins hat Iannis Xenakis’ Gendyn-Synthesizer aus den 80ern auf das iPhone übertragen, Piet Mondrians oder Jackson Pollocks Stil werden mittlerweile von Dutzenden Programmen algorithmisch beherrscht. Changha Whang malt supermondrianeske Bilder, das Berliner Laptoporchester spielt regelmäßig Terry Rileys Minimalklassiker von 1964 In C, Trond Reynholdtsen inszenierte 2010 in Darmstadt John Cages Darmstadt-Lecture von 1954 nach, ich habe Brian Ferneyhoughs Zweites Streichquartett von 1982 in die Popkompositionssoftware „Band in a Box“ eingespeist und Schönbergs Pierrot Lunaire (1913) von einem Autonavigationsgerät sprechen lassen oder Ravels Bolero (1928) als Prinzip auf eine Szene aus dem Film Der Untergang angewandt; Manuel Schmalstieg und Kim Xupei sind die Autofahrt aus Andrej Tarkowskijs Solaris (1972) auf Google Street View nachgefahren. John Cages Klassiker von 1952 4’33’’ erfuhr bereits etliche Re-enactments: Dick Whyte mixte etliche vorhande Aufführungen des Stückes, die als Video auf YouTube verfügbar sind, zu einem Stille-Mashup zusammen, Matthew Reid hat eine Stille-Aufnahme durch die Intonationskorrektur von „AutoTune“ gejagt; ich habe via Splitscreen das Stück in sechzehn simultane Teile dividiert. Diese Liste, mit Werken allesamt aus den letzten Jahren, wird in Zukunft wachsen.

Die Beispiele zeigen: Innovation bringt Retrospektion. Das Rad wird ja nicht neu erfunden, wir leben im Zeitalter der regenerativen Energien. Immer wird man sich auf Pioniere wie Galilei berufen, wenn man etwa ein neues Navigationssystem „Galileo“ tauft. Elementare atonal-ästhetische Strategien wie Stille, Rekursion oder Phasenverschiebung sind da, aber erfahren im Digitalen neue Anwendungsmöglichkeiten, anhand neu verfügbarer Materialien in großer Menge. Das Suffix „2.0“ ist der Zeitgeist.

In vielen der genannten Beispiele stecken die zwei Aspekte, der Hybrid aus altem Werk und neuer Darstellung, und die großen Quantitäten, collagiert. Die Stücke sind „Hyper-Hybride“.[2]

 


[1] Vgl. Johannes Kreidler, Kunst im Netz: große Quantitäten, Vortrag im Rahmen von Der Kongress bloggt am 12.2.2011. http://youtu.be/ySu-Au0SF_M, recherchiert am 30.8.2011.

[2] Auch in der Popmusik zeichnet sich das Phänomen ab: „Vor allem aber ist das zurückliegende Jahrzehnt durch eine ungeheure Ausbreitung der musikalischen Archive gekennzeichnet gewesen. Spätestens seit dem Siegeszug von YouTube in den letzten fünf Jahren mit den Myriaden der dort hochgeladenen Videos und Songs ist jedwede Musik aus jedweder Epoche jederzeit für jeden verfügbar geworden. So hat sich der gesamte Pop aus dem Kontinuum der historischen Entwicklung gelöst und ist in eine universelle Gegenwart getreten: eine Gegenwart freilich, die nicht mehr in freudiger Erwartung zukünftiger Innovationen erzittert, sondern die sich ganz an der Vergegenwärtigung von Vergangenem erfreut.“ Jens Balzer, Zurück in die Zukunft, in: Frankfurter Rundschau vom 4.7.2011, http://bit.ly/rpjfck, recherchiert am 30.8.2011. Vgl. Dazu auch: Simon Reynolds, Retromania. Pop Culture’s Addiction to Its Own Past, London/New York 2011.