Zur Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der vierte Teil war ein Exkurs über das Wesen des technischen Fortschritts. Der fünfte Teil nun ist der Informationsexplosion gewidmet.
5. Die Internetarchive beherbergen ungekannte Medienmassen
Die Dampfmaschine ist ein großer Muskel, elektrische Leitungen sind Nervenbahnen – die Gerätschaften nähern sich den geistigen Gefilden. Die Industrialisierung war die Industrialisierung von Arbeitskraft, die Digitalisierung ist die Digitalisierung von Wissen.
Alle bisherigen Dokumente werden digitalisiert und gespeichert, und die Gegenwart sowieso. Jede Festplatte ist ein Stausee des Livestreams. Und da der Livestream selbst so umfangreich Informationen der Welt ansaugt, ist jede Information maximal ein Tag hinter ihm bereits eine Antiquität. Festplatten sammeln Geschichte. Was bringt uns die neue Technologie? Die Vergangenheit! Ähnlich dem demografischen Wandel erfolgt eine digitale Überalterung.
Jeder Mensch trägt nun ein übergroßes Gedächtnis mit sich herum, das in jedem Gerät schlummert. „Aus Massenmedien werden Medienmassen“ (Peter Glaser). Man spricht vom „Information Overload“ – es ist bereits ein gefühltes, aber immer faktischer werdendes totales Archiv. Im Netz entsteht die Ökonomie des „Long Tail“, die Nischenprodukte begünstigt: In geographisch begrenzten Räumen sind Nischenprodukte schwer verkäuflich, im globalen Raum des Netzes aber findet sich über kurz oder lang auch für’s Abseitigste ein Käufer. Tatsächlich ist es aber ein „Infinite Tail“, denn im Digitalen geht eigentlich nichts verloren.[1]
Da alle Medien heute Speichermedien sind, wird das, was wir später die Vergangenheit nennen, in ungekannter Detailliertheit abzurufen sein. Jede Twittermeldung, jede Facebook-Statusaktualisierung, jeder Bucheinkauf bleibt im Digitalen hängen; das Leben wird immer umfassender aufgezeichnet. Die derart angehäuften Relikte können zum virtuellen Abbild der Vergangenheit synthetisiert werden – Zeitreisen zurück sehen immer realistischer aus. (Man muss an Jorge Luis Borges Erzählung von den Kartographen denken, die eine Landkarte im Maßstab 1:1, genauso groß wie das Land selbst, erstellen,[2] oder von dem Kongress, der die Menschheit vertreten soll, und bald mit ihr identisch wird.[3])
Das totale Archiv ist riesig, und es ist ziemlich ungeordnet und anarchisch, ein „Anarchiv“ (Simon Reynolds). Jürgen Habermas prägte in den 80ern das geflügelte Wort der „neuen Unübersichtlichkeit“, aber man wird die 1980er im Vergleich zu heute als noch ziemlich übersichtlich belächeln. (Ähnlich wurde das Adjektiv „modern“ im 19. Jahrhundert gerne gebraucht, aber die sogenannte Moderne überbot das dann extrem.) Pluralismus ist das Schlagwort der Postmoderne, aber erst das Internet ist das postmodernste Ding überhaupt,[4] und es wird immer ‚schlimmer’. Wenn unendlicher Speicherplatz vorhanden ist, ist die Entropie, die Steigerung des Chaos, unendlich. Licht wird der Wärme, dem Teilchengewusel weichen. Die Bibliothek von Babel,[5] in der sich sämtliche möglichen Bücher befinden, das heißt sämtliche möglichen Buchstabenkombinationen, würde in diesem Universum materialiter keinen Platz haben. Im Digitalen aber zeichnet sich die Vision ab. Analog zum Mooreschen Gesetz, wonach Prozessoren alle achtzehn Monate ihre Leistung verdoppeln, verdoppelt sich das geschätzte Wissen der Welt alle fünf bis zwölf Jahre, Tendenz beschleunigend.[6] In der Informationsgesellschaft nimmt die Menge an Daten im Verhältnis zu anderen Bereichen der Sozial- und Wirtschaftsordnung überproportional zu: Es passiert eine Informationsexplosion.
Für die Geisteswissenschaften stellt sich die Frage nach dem Neuen noch verschärft. Eine Dissertation soll per definitionem einen noch nicht bearbeiteten Gegenstand haben. Also muss am Beginn der Arbeit der aktuelle Forschungsstand aufgearbeitet werden. Doch die Masse an möglichen Quellen ist nicht zu bewältigen, jeder Gedanke könnte schon geschrieben worden sein. Das war natürlich auch früher schon der Fall, aber zu Printzeiten noch halbwegs hierarchisch und geographisch eingedämmt: die örtliche Universtitätsbibliothek, dazu das Fernleihsystem und vielleicht ein, zwei bewilligte Forschungsreisen zu entfernteren Archiven – mehr war schlechterdings nicht möglich. Wie behütet war man in den Limits der analogen Welt! Im Digitalen triumphieren die Millionen Resultate, die Google aus der ganzen Welt an den heimischen Bildschirm schwemmt, über jede Traditionslinie und jede Landesgrenze; alles passiert im Fernstudium. Wie der Archäologe, der sich durch nichts geringeres als Jahrmillionen einen Weg bahnt, schlägt der Medienmensch mit jeder Suchanfrage bei Google eine Schneise durch Millionen Dokumente – jede Recherche ist Archäologe.
Jean-Paul Sartres Held in Der Ekel begibt sich für den Rest seines Lebens in die Bibliothek und liest, angefangen beim Buchstaben A. Beim letzten Universalgelehrten, Gottfried Wilhelm Leibniz, mag das noch die ganze Bibliothek gewesen sein. Heute muss man, selbst der Forscher australischer Steppengräser, die Abertausende Ergebnisse nur eines einzigen Google-Suchbegriffs sichten. Spezialisten werden immer noch spezialisierter, es ist des Ausdifferenzierens kein Ende. Die Tendenz der zunehmenden Zahl von Fußnoten ist frappant, und 1500 Quellen ausfindig zu machen und in einen Zusammenhang zu bringen ist womöglich eine größere kulturelle Leistung, als etwas (vermeintlich) Eigenes in die Welt zu setzen. Es gibt die Faulheit des Copy&Paste, aber eine ebenso große des ignoranten Drauflosschreibens, der Autismus der Autonomie. Wenn es in der vernetzten Welt etwas nicht mehr gibt, dann tabula rasa. Techniken der Recherche, Stile der Kompilation und Zusammenfassung sind gefragt; die Welt braucht intelligente Filterung und Aggregation. Es gibt aber noch eine Alternative: Vielleicht ist die einzig adäquate Form der Wissensaneignung heute und in Zukunft die Funktion „Zufälliger Artikel“ auf Wikipedia.
Noch immer ist der Abschied von verbindlicher Geschichtsschreibung nicht vollzogen. Im Gegenteil, es ist Bedürfnis und Mode geworden, „Kanons“, der deutschen Literatur, der Musik, der Kunst aufzustellen, so wie allenthalben in der beliebigen, aber unbeliebten Postmoderne um Werte gerungen wird. Mitte der Nullerjahre sollte einmal am Freiburger Institut für Neue Musik eine Liste von Schlüsselwerken der Neuen Musik erstellt werden, die Studienanfängern, gerade aus anderen Erdteilen, Orientierung gebe. Am Ende einer endlos zu werden drohenden Sitzung musste ob der Fülle der eingehenden Vorschläge aufgegeben werden. Es sollen Werte geschaffen werden, doch scheitert das nicht daran, dass keine da sind, sondern weil zu viele da sind. Musikfestivals wollen heutzutage noch die Bandbreite der Gegenwartsmusik abbilden – diese Illusion hat die Bildende Kunst längst hinter sich gelassen und fokussiert vielmehr auf Stilistiken, engumrandete Themen und Einzelpersonen. Der Konzeptkünstler Timm Ulrichs beklagte im Alter, dass er so manche Idee schon früher gehabt hätte, die andere Künstler später, unwissend, aber mit viel größerem Erfolg umsetzten. Allen Ernstes forderte er, der wiedergeborene Morgenstern, ein Patentamt für künstlerische Konzepte.[7] Das ist ein Stück weit verständlich, aber es geht schlichtweg nicht, oder nicht mehr. Der Punkt ist erreicht, an dem es nicht mehr möglich ist, bei einer Idee erst zu prüfen, ob sie nicht jemand anderes schon hatte. Als Künstler sollte man bislang die gesamte Kunstgeschichte kennen, um wirkliche Innovation schaffen zu können. Es ist abzusehen, dass das undurchführbar wird oder schon ist.
Dennoch ist Kunst ohne irgendeinen Neuheitsanspruch keine Kunst. Niemand braucht Stilkopien. Abgesehen davon, dass man es ein Stück weit mit Nietzsche halten muss, der verkündete, ohne Naivität seien wir der Historie schutzlos ausgeliefert, und dass man darauf hoffen kann, dass Zeit stets ein Lineares (Thermodynamik!) enthält, existiert eine probate Lösung: Der technische Fortschritt kann noch ein Garant für Neuheit sein. Werke, die erst mit aktuellen technischen Mitteln realisierbar sind, können sich einer gewissen Novität sicher sein. Wenn noch Avantgarde möglich ist, dann dank neuer Technologie.
[1] Was leider nur theoretisch der Fall ist. De facto verschwinden viele Dokumente wieder aus dem Netz, etwa aus Urheberrechtsgründen oder wegen angeblicher Wettbewerbsverzerrung. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten mussten ihre Online-Archive auf Druck der Printindustrie geradezu leerfegen (vermutlich um circa 80 Prozent verkleinern), was zur Schöpfung des Unworts „depublizieren“ veranlasste.
[2] Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke – Gedichte I, herausgegeben von Gosbert Haefs und Fritz Arnold, Wien 1991, S. 151-160.
[3] Jorge Luis Borges, Der Kongress, in: Gesammelte Werke – Der Erzählungen zweiter Teil, herausgegeben von Gosbert Haefs und Fritz Arnold, Wien 1991, S. 105-124
[4] Niklas Hofmann: YouTube rettet die Postmoderne, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.9.2011, http://bit.ly/royUex, recherchiert am 24.9.2011.
[5] Eine durch Jorge Luis Borges bekannt gewordene literarische Fiktion. Vgl. Jorge Luis Borges, Von der Strenge der Wissenschaft, in: Gesammelte Werke – Der Erzählungen erster Teil, herausgegeben von Gosbert Haefs und Fritz Arnold, Wien 1991, S. 285.
[6] Peter Charles, Nathan Good, Laheem Lamar Jordan, Joyojeet Pal, How Much Information 2003? Studie der School of Information Management and Systems der University of California at Berkeley, http://bit.ly/pCIVPw, recherchiert am 30.8.2011.
[7] Kunstforum International Band 206 (Januar-Februar 2011), S. 262.