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China-Tagebuch #6

28.10.2005
Am letzten Tag fahren wir dann noch zur chinesischen Mauer. Schön ist, dass wir von einem Studenten geführt werden und keinem offiziellen Touristenprogramm folgen; zuerst sind wir noch an dem Teil der Mauer, den alle Touris begehen, ganz so wie auf den Fotos: die über Bergkämme gezogene und mit Zinnen besetzte Mauer, durch Wachtürme gegliedert, alles übrigens nicht original sondern für Touristen wiederaufgebaut.

Dann aber fahren wir zu den ältesten Teilen der Mauer, 2000 Jahre alt, es sind einfach aufgehäufte Lehmklumpen. Keine Absperrung, keine Touristen weit und breit.

Dann noch in die Berge in ein kleines Dorf, Satellitenschüsseln und Esel sind hier der technische Standard, sehr einfache Häuser, die Menschen lächeln.

Meine beiden Kompagnons reisen weiter zur Terracotta-Armee, ich muss leider zurück nach Deutschland wegen eines Konzerts. Abends mit chinesischen Studenten beim Essen, ganz offen wird von den Studentinnen nach meinem Beziehungsstatus gefragt und sie geben zu erkennen, dass ihr Hauptlebensziel derzeit der richtige Mann ist. Sie bedauern sehr die 1-Kind-Politik: Chinesen wollen sich vermehren, so wörtlich.

Alle Studenten haben zwei Handys. Mit dem einen rufen sie an, auf dem anderen werden sie angerufen. Da sowohl das Anrufen als auch das Angerufen werden etwas kostet und verschiedene Anbieter das eine oder das andere billiger haben, hat man eben vom dem Anbieter für günstiges Anrufen das eine Handy und vom Anbieter für günstig Angerufenwerden das andere. Sie fluchen über die Umständlichkeit. Es müsste eigentlich spezielle Handys für China geben, two-in-one.

Meine letzte Nacht verbringe ich in einem anderen Hotel, und der studentische Betreuer bittet mich, duschen zu dürfen, denn er hat zu Hause nur fünfzehn Minuten am Tag warmes Wasser. Ich gönne ihm die Dreiviertelstunde (!), die er in meiner Dusche verbringt. Er erzählt noch, dass er sich nun allerdings sehr verspätet habe, sein Wohnblock schon abgeschlossen sei und er über eine Mauer klettern müsse, was lebensgefährlich sei, er aber öfter machen müsse.

China-Tagebuch #5

27.10.2005
Einmal bin ich alleine in Peking unterwegs und muss Geld abheben. In China muss man sich zum Geldabheben ausweisen. Dummerweise habe ich aber den Reisepass nicht bei mir und noch dümmererweise denke ich als Deutscher, ich kann ja auch den Perso zeigen. Ich reiche dem Bankangestellten also meinen Personalausweis, worauf dieser verdutzt das Dokument von allen Seiten anschaut und Kollegen herbeiruft. In dem Moment wird mir klar, was für ein Fauxpas ich begangen habe. Ein Ausweis muss ein Büchlein sein. Aber zu spät, sie verschwinden mit meinem Ausweis nach hinten und ich stehe da und warte. Ich glaube, es war eine halbe Stunde, immer wieder kamen sie rein und raus, ob das mein Ausweis sei, was das für ein Ausweis sei, usw. aber ich kann auch nicht mehr einfach sagen, lassen Sie’s, jetzt ist bereits eine Art Alarmzustand eingetreten. Aber siehe da, schließlich kommen sie und händigen mir Ausweis und Geld aus. Ob sie zwischenzeitlich wohl bei der deutschen Botschaft oder gleich beim deutschen Außenministerium, ja, beim deutschen Außenminister persönlich in dieser langen halben Stunde angerufen haben?

Unsere ganze Reise war ja dank der Vermittlung einer chinesischen Studentin in Freiburg zustande gekommen. Da war es Ehrensache, ihr den Gefallen zu tun und von Angehörigen etwas mitzubringen. Es sollte wohl eigentlich Joao machen, der für sowas der richtige Mann ist in seiner Korrektheit, aber durch Namensverwechslung in den Emails fällt der Job doch mir zu. Also übernehme ich eine Tasche von einer kleinen dicken Studentin.

China-Tagebuch #4

26.10.2005

Am nächsten Tag Seminar, das dann allerdings ein voller Erfolg wird, auch wenn es absurd ist: Wir erklären und erklären, programmieren, und alle nicken und sind begeistert, aber aus Erfahrung weiß ich, dass kein Mensch das Zeug so schnell kapieren kann. Wie dem auch sei, ein Professor aus Shanghai will uns fürs nächste Jahr einladen, allerdings hat er eine so nervige Assistentin, der ich fortan immer aus dem Weg gehe, und vielleicht darum hat es dann letztlich doch nicht geklappt.

Auch sehr schön war der Workshop von Nicolas Collins, amerikanischer Elektronik-Bastler in bester Cage-Lucier-Tradition. Von ihm erfahre ich zum ersten mal von „Hardware-Hacking“, Spielzeug, Kartenleser, Radios werden manipuliert, sprich: zu Instrumenten gemacht. Wir brechen zu dem Behufe bald auf zu einem Elektronik-Markt. Es ist ein Zeile von großen Hallen in denen viele Kleinhändler ihre Stände haben, hauptsächlich für Unterhaltungselektronik und Klamotten.

Hier muss man feilschen, ganz klassisch nach allen Regeln der Kunst, wie unsere chinesischen Führer für uns vormachen: Der Händler beginnt mit einem exorbitanten Preis, das Gegenüber muss mit praktisch Null dagegenhalten, dann nähert man sich langsam an, angereichert mit Drohungen, den Handel abzubrechen, das sogar tatsächlich andeuten und zwischendurch weggehen, sich wieder herrufen lassen, die Verhandlungen fortsetzen, sich auch mal anschreien oder jammern, taktische Pausen einlegen, beiderseits an die kranke Großmutter gemahnen – kein Witz! Ich finde das nicht im Geringsten ergötzlich sondern eine unsägliche Energie- und Zeitverschwendung, bis man endlich so ein kleines Kinderspielzeug erworben hat; uns kann der Preis eigentlich egal sein, er ist sowieso scheußlich ungerecht billig. Später kaufe ich auf eigene Faust, es geht nur, indem ein Taschenrechner hin- und hergereicht wird, in den beide Parteien ihre Preisvorstellung eintippen, aber selbst um die meisten Dramen gespart geht es ewig, man will sich nun doch nicht wie ein Gelackmeierter fühlen und muss das Spiel eben mitspielen wie Brian bei Monty Python. Als ich später das kleine Transistorradio unseren chinesischen Führern vorzeige und den Preis nenne, den ich dafür erfeilscht habe, stöhnen sie natürlich und sagen, das wäre viel billiger zu haben gewesen. Ich hasse Feilschen und lobe mir westliche Gesetze.
Das Radio wird dann unter Collins Instruktionen tatsächlich ein fantastisches Instrument, schließlich hat die Platine im Grunde die gleichen Module wie die, mit denen ich programmiere, und ich kann sie einfach mit meinen angefeuchteten Fingern verschieden „verkabeln“, wie Collins in gutem Vergleich beschreibt.

Frappierend ist beim Festival die Häufigkeit von Stücken für fünftausend Jahre alte Flöte – und Computer. Die Chinesen, die mit einem jährlichen Wirtschaftswachstum von 15% in die Zukunft rasen, wollen irgendwie noch den Spagat zu ihrer alten Kultur hinkriegen. In aller Prägnanz stellt das ihre Musik dar, auch wenn es klanglich nach schlecht nachgemachter westlicher Neuer Musik klingt.

Auf der Straße Plagiate und Raubkopien westlicher Produkte überall.

China-Tagebuch #3

25.10.2005
Bald steht schon unser Konzert an. Allerdings bittet uns der Organisator, ein noch relativ junger amerikanischer Professor, doch um einiges kürzer zu spielen, das Programm sei so lang. Wir sind entrüstet, wir wurden für 25 Minuten eingeladen, das haben wir einstudiert und nicht zuletzt dafür sind wir über die halbe Erdkugel geflogen. Aber irgendwie wirkt der Organisator als sei sein Anliegen sehr, sehr ernst, wer weiß welche Parteioberen anwesend sein werden und nachher den Daumen noch oben oder unten heben. Wir sind aber fest entschlossen unsere 25 Minuten zu spielen.

Bei der Aufführung dann, wie eigentlich zu erwarten war: Der Klangregisseur hat keine Ahnung vom Mischpult, einer unserer Lautsprecher fällt aus, was angesichts eines genau ausgeklügelten Konzepts mit drei Lautsprechern, jedem Spieler einer zugeordnet, ziemliche Kacke ist. Während dem Spielen müssen wir chatten und beraten was tun, ob abbrechen oder doch irgendwie weiter. Ich hasse Abbrechen grundsätzlich und kann mich Gott sei Dank durchsetzen. In der Aufregung allerdings noch ein Malheur: Wir wollten chinesisches Sprachmaterial verwenden, allerdings völlig verzerrt. In Deutschland konnten wir aber kein solches Material auftreiben, weshalb wir einfach taiwanesisches Radio aufnahmen. Die Aufnahme lief in dem Lautsprecherstress nun aber völlig unverändert und voll verständlich (außer für uns natürlich). Taiwan ist absolutes Tabu.. Am Ende unserer Performance, wir spielen noch leise Klänge, beendet der Organisator mit offensivem Klatschen. Naja, der Auftritt war verkorkst. Alle Chinesen sprechen uns nachher an, warum wir denn taiwanesisches Radio brachten. Das Konzert geht dann auch tatsächlich noch über drei lange Stunden.

China-Tagebuch #2

24.10.2005
Am nächsten Morgen zum Konservatorium, wir nehmen das Taxi (ich glaube jedes zweite Auto hier ist ein Taxi), Verständigung nur mit Stadtplan möglich, und die Taxifahrer selber rufen auch mal jemanden an um zu erfahren wie sie fahren müssen, oder fragen Passanten. Fahren dabei wie Verrückte, sind auch ganz emotional dabei und durch ein Gitter geschützt (wovor?).

Das Konservatorium natürlich riesig, unser Festival ebenfalls riesig plakatiert. Das elektronische Studio wiederum voller riesiger Geräte; sie haben viel Geld von der Partei bekommen, nur müssen sie das in große Geräte anlegen, damit die Partei auch was zu sehen bekommt. Kleine Laptops, objektiv viel sinnvoller, würden Mißtrauen erzeugen. Nun haben sie da ein Mischpult wie ich noch nie eins gesehen habe, länger und breiter als ein Mensch, und drum herum stehen 10 Chinesen und keiner kann das Ding bedienen.
Es ist schon merkwürdig, wir waren im Glauben, China würde den westlichen Kapitalisten jetzt so richtig zeigen, wie man dank Diktatur konsequent die Ausbeutung durchzieht und maximales Wachstum herausholt, aber hier begegnet einem alles andere als Effizienz. In den Läden stehen sich in den Ecken regelrechte Angestelltenhaufen gegenseitig auf den Füßen. So wird also die chinesische Menschenmilliarde beschäftigt. In einem kleinen Sonnenbrillenladen zählte ich 15 rumstehende Angestellte in blauen, ja, Uniformen.

Joao schnarcht nachts, hält mich eine Weile wach und inspiriert mich zu dem Schnarchen in meiner „Tonspur zur Mondlandung“. Draußen hört man das traditionelle laute Räuspern und Spucken auf die Straße. Es soll böse Geister abwehren.

China-Tagebuch #1

Dieser Tage vor genau 10 Jahren war ich mit zwei Freunden in Peking. Ich habe nachträglich Notizen davon gemacht, die ich hier zusammen mit Fotos zeige. Es sind nur kleine Schlaglichter, wir haben in den Tagen wesentlich mehr erlebt.

23.10.2005
Wir, das sind Alberto C. Bernal, Joao Miguel Pais und ich, Trio für Laptopimprovisation, kommen am Abend an, das Wetter ähnlich wie in Deutschland, vielleicht etwas wärmer. Alles ging sehr schnell, im Juni die Bewerbung für das Elektronikfestival in Peking, im August die Zusage, überraschend unbürokratisch und vor allem so extrem kurzfristig finanziert uns das Goethe-Institut die Reise; es scheint als ob der Deutschen Regierung kulturelle China-Projekte besonders förderungswürdig sind.
Am Flughafen erwarten uns, bzw. irgendeinen Popstar der auch im Flugzeug gesessen sein muss eine Horde Teenager. Wir stellen uns einfach mal hin, als ob es uns gälte.

Gleich ins Restaurant und für ein paar Groschen sehr gut gegessen. In der Tram will ich fotografieren und stelle fest, dass wenn ich die Linse auf meine Augenhöhe halte, ich lauter Haarschöpfe überblicke. Die Tatsache, dass ich die Chinesen um einen Kopf überrage und blond bin wird mir in den nächsten Tagen oft eintragen, dass sich Einheimische mit mir fotografieren lassen; mir ist das sympathisch, nicht aus Eitelkeit sondern weil hier die Verhältnisse umgedreht werden: Nicht der Tourist fotografiert die Exotika, sondern ist selber eines.

Auf dem Tian’aMen; ich glaube der surrealistische Charakter den ich bei Peking von Anfang an habe, rührt daher dass es kein Graffitti gibt (soviel zur Architektur), nicht den kleinsten Fleck, und das in einer Millionenstadt. Mulmiges Gefühl, das lässt auf die Strenge der Diktatur hier schließen. Dazu der obligatorische Dunst, wir werden in Peking fast nie den Himmel oder eine Wolke sehen. Angeblich hat er direkt mit den billigen Produktionsweisen zu tun, denen wir in Deutschland die Klamotten, Schuhe und all den Elektronikkram Made in China verdanken.
Abends wollen wir in der Hotelbar im Untergeschoss noch einen trinken; die Bar hat sogar eine Tanzfläche und ein ganzes Rudel schöner Frauen vergnügt sich darauf, bis klar wird (sie kommen gleich auf einen zu), dass das hier ein Bordell ist. „Massage“ ist das Codewort, wir werden es noch häufig hören. Wir schlagen schon wieder den Rückweg ein, gehen aber doch einmal durch die hinteren Gänge, und da sind tatsächlich lauter kleine Art Wohnzimmer, in denen Karaoke gespielt wird, Chinesen mittleren Alters mit blutjungen Nutten (wobei ich mich bei Asiaten im Alter irren kann, manche sehen aus wie Kinder und sind schon über 30), eine singt, eine andere wird unterm Rock befummelt. Karaoke scheint offenbar fester Bestandteil des Puffamüsements zu sein, meine erste musikalische Erfahrung hier.
Im Hotelzimmer kommen erfreulicherweise Netzwerkkabel aus der Wand, und wir schauen natürlich gleich, welche Websites nicht gehen: Wikipedia zum Beispiel. Das ist die große Chinesische Firewall. Spiegel Online geht – spricht nicht gerade für den Spiegel.

The impossibility of experiencing consciously the moment of falling asleep (complete)

Mein kleines Stück von voriger Woche brauchte noch einen dritten Teil, jetzt ist’s fertig. Offenlegung: Die Schnarcher sind Fake!

Tristan Partitur / Beatles Song Book Remixes

Remix 1

Remix 2

Remix 3

Kreidler 2015

Heute abend: Uraufführung meines neuen Orchesterstücks, Livestream SWR2 / DeutschlandRadio

Heute abend, 20h beginnen die Donaueschinger Musiktage, und zwar mit der Uraufführung meines Orchesterstücks „TT1“, sowie mit neuen Orchesterwerken von Pasovsky, Borowski und Ayres.

http://www.swr.de/swr2/festivals/donaueschingen/programme/donaueschinger-musiktage-2015-programm-04/-/id=2136962/did=15652812/nid=2136962/lgwf05/index.html

Livestrom SWR2:
http://www.swr.de/swr2/-/id=7576/did=1586900/nid=7576/pv=mplayer/sdpgid=1129989/webRadioOrWebTV=true/v3kl5t/index.html

Oder alternativ DeutschlandRadio Kultur Livestrom:
http://dradio_mp3_dkultur_m.akacast.akamaistream.net/7/530/142684/v1/gnl.akacast.akamaistream.net/dradio_mp3_dkultur_m

 

Johannes Kreidler

TT1

für Orchester und Elektronik (2014/15)

Anders als viele meiner Stücke der letzten Jahre ist dieses ziemlich unkonzeptuell, eine im Detail ausgearbeitete Beschäftigung mit Mikrorhythmik und Mikrointervallik. Klaviersamples, die sich extrem schnell und in feinsten Tonhöhenstufen abspielen lassen, können klanglich-parametrische Entwicklungen (Glissando, Accelerando/Ritardando, Crescendo/Diminuendo) selbst in kleinsten Abständen in jeder Verlaufsform sehr präzise darstellen. Zwei Aspekte sind darin angelegt, die mich interessieren: Aus der Kombination, Verkettung und Überlappung verschiedener Prozesse, beispielsweise eine leicht exponentielle Beschleunigung auf linear centweise absteigenden Tonhöhen mit stark logarithmisch zunehmender Lautstärke, ergibt sich eine ungeheure Vielfalt an Wahrnehmungsdifferenzierung, die ‚Ästhetik der Kurve‘ und der Krümmung. Die resultierenden Gestalten erinnern teilweise an physikalische Modelle, etwa von einem aufspringenden Ball – nur dass der im Virtuellen auch nach oben fallen kann; ein schönes Symbol. Zum anderen entsteht dabei ständig der Widerspruch, dass Bewegung durch eine Folge unbewegter Einzelmomente dargestellt wird, das universell-menschliche Verfahren der Informationsverarbeitung, von der Versprachlichung bis zur Digitalisierung, die das Leben kaum verzichtbar erleichtert und potenziert und doch unendlich vertrackt ist. Der Widerspruch selbst ist Bewegung. Für den Ansatz legte Mathias Spahlingers akt, eine treppe herabsteigend (Donaueschingen 1998) den Grundstein, an den ich anknüpfe. Das Orchester hat zu den Sampleiterationen eine entsprechende Harmonik der nach oben oder unten sich mehr oder weniger exponentiell vergrößernden oder verkleinernden Intervalle, wie auch Akzentuierungen, Einfärbungen, rhythmische Dichten und freiere Glissandinetze. Ähnlich früheren Arbeiten war für die Produktion des Ganzen der Zufallsgenerator essentiell; TT1 entstand aus einer langen Durchspielung von Möglichkeiten, aus denen kompositorisch geschöpft wurde.

William Hogarth, The Line of Beauty (1753)

Violin Piece