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Kategorie Theorie

Das totale Archiv (10): Designformen des totalen Archivs

Zur Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der neunte Teil ging dem Umstand nach, dass die Collage, jetzt erst Recht, die Form der Gegenwart und Zukunft ist. Ehe der elfte Teil Kunst des totalen Archivs benennt, besprechen wir jetzt Designformen des totalen Archivs.

 

10. Designformen des totalen Archivs

Die Informationsfülle braucht in den verschiedenen Bereichen designerische Lösungen. Es ist aufschlussreich, einmal dort zu schauen, wo am meisten Geld für Designer ausgegeben wird – bei den Technologieriesen. Firmen wie Apple oder Google haben Antworten auf die informatorische Komplexität gefunden. Das Erfolgsgeheimnis von Apple war und ist es, komplizierte Hard- und Software in blitzblankes Design und genial-intuitive Bedienbarkeit zu packen,[1] ebenso wie Google mit seinem einfachen Suchschlitz.

Wenn auch das totale Archiv erdrücken mag, materiell schafft es riesigen Freiraum. Die Bibliotheken können geräumt werden, weil ihre Bücher auf Datenträger einmagnetisiert sind. Merkwürdig leer steht die Eingangshalle der Berliner Staatsbibliothek da – der Architekt Hans Scharoun sah sie für die heute entbehrlichen Karteikästen vor. Die Oberflächen werden sauber.

David Shields hat es vorexerziert: Sein Buch Reality Hunger ist gespickt mit Zitaten, aber  keines ist im Fließtext gekennzeichnet, jedes Zitat ist sein Zitat, er hat es gefunden und platziert, wozu gehört, dass er nach Gutdünken umformuliert, kürzt und addiert. Es braucht kaum noch gesagt zu werden: Die Urheber ließen sich ja bei Interesse googeln. Auf dem E-Reader befindet man sich mit einem Klick neben dem Text in den Untiefen des totalen Archivs; aber darum lässt man’s oben besser aufgeräumt. Das ist Google-Design;  Minimalismus ist das designerische Gebot der Stunde. Und in der Musik weicht das zelebröse Schallplatten- und CD-Album der lieblosen Anhäufung tausender Musikstücke auf einem mikroskopischen Datenträger; dem begegnet Apple mit der polierten Oberfläche des iPods und seinem coolem Markenimage.

Man kann durchaus bedauern, dass statt dem ganzen Album einzelne Musiktitel ausgewählt werden. Ein großer Wert der Kunst ist, dass sich Erfahrungen erzwingen lassen, überhaupt Qualitäten der Zeitgestaltung möglich werden, wenn der Zuschauer im Theater quasi eingesperrt ist. Die Technologien der Individualzeit machen es time-based-media schwer. Links müssen ferngehalten werden, für einen Moment gilt es, einen harten Rahmen zu schaffen – YouTube auf Vollbild und Stuhl einen Meter weg von Maus und Tastatur! Die Fernsehpassivität war besser als ihr Ruf, wie sich im Nachhinein zeigt. Aber die Zunahme von Interaktivität und Optionalität ist nicht aufzuhalten. Im Einzelfall erfordert es gewiss Strategien der Abgrenzung, doch ist andererseits Durchlässigkeit Pflicht.

Ein Modell für Interaktivität wäre, dass der Grad der Komplexität frei zu wählen ist (aber das eine auf das andere neugierig macht). Die Collage verläuft vertikal: Man kann sich mit der Oberfläche des Betriebssystems zufrieden geben, eigene Icons wählen oder bis tief in den Code sich alles nach eigenen Wünschen modifizieren. So ist heute auch ein Buch umgeben von Videos, Zusammenfassungen, Interviews mit dem Autor, selbstverständlich dem Hörbuch, es gibt Lesungen und Sekundärtexte. Nur ein Polywerk ist noch ein Werk. Der Komponist Patrick Frank gruppiert zu seinen musikalischen Arbeiten Annoncen, Filme, Texte, Websites und ganze Bücher und Symposien. Der Pluralismus muss sich nicht in ein und demselben Werk realisieren, sondern geht heute eher in einem Medienbündel von mehreren Einheiten auf; nicht Multimedia, sondern Polymedia. Vielleicht verschwimmt dann sogar der Punkt, von dem aus die Kreise zu ziehen begannen. Statt eines evidenten Zentrums transzendiert ein Konzept heraus, und der Trailer ist schon der Film. Entsprechend teilt sich die Rezeption: Jonathan Meese schreibt zu jedem Werk ein Manifest, und manche schätzen diese oder den Performer Meese mehr als die bildnerischen Objekte, andere just umgekehrt.

Logischerweise ist die Gegenbewegung, ein umso fein säuberlicher abgegrenztes Werk in Einzelmedium dann ebenso denkbar, und tritt prompt bei Apple auf: die App, das vehement nach außen abgedichtete Einzelprogramm. Aber den Charakter des Überheblichen oder Solipsistischen, und in Apples Fall des Proprietär-Gewaltsamen, bekommt es unweigerlich, so wie ein reiner Textvortrag ohne PowerPoint heute halbgar anmutet, bestenfalls ausgewiesen insulär. Die Subtexte des totalen Archivs liegen immer dicht darunter. Eine bare Authentizität und konzentrierte Monomedialität mag man sich zwar zuweilen wünschen, aber wir leben irreversibel im Zeitalter der digitalen Auffächerung. Dort ist Virginität wohl Sünde.

 


[1] Dazu: Falk Lüke, Der mit dem Apfel, in: taz vom 26.8.2011, http://bit.ly/ovBWJr, recherchiert am 30.8.2011.

Das totale Archiv (9): Die Collage ist, jetzt erst recht, die Form der Zukunft

Zur Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der achte Teil befasste sich mit der zunehmenden Präsenz geschichtlicher Dokumente, ergo der Geschichte. Der neunte Teil beschreibt eine der Konsequenzen daraus.

 

9. Die Collage ist, jetzt erst recht, die Form der Zukunft

Die Erdoberfläche ist begrenzt, nicht hingegen die digitalen Archive. Was sind die sieben Kontinente gegen das digitale Universum? Was ist das eigene Leben gegen das Panoptikum der Geschichte? Im Verhältnis zur Gegenwart wird die archivierte Vergangenheit immer mächtiger und immer präsenter.

Das totale Archiv ist allerdings auch die totale Amnesie, denn alles ist immer nur winziges Fragment aus einem unfassbaren Großen, so wie selbst tausend Jahre kosmologisch noch ein Winziges sind. Jede Recherche ist Glückssache, jede Geschichtskonstruktion willkürlich. Soll man da überhaupt noch das Mögliche unternehmen und sich informieren? Das totale Archiv ist auch die totale Naivität, der Horizont ist weggewischt.[1] Theoretisch war das immer so, Unendlichkeit war immer  – „Ich weiß dass ich nichts weiß“ sprach schon Sokrates, und Napoleon sekundierte: „Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat.“ Dennoch hat man seitdem viel zu wissen gemeint und mit großen Worten Geschichte geschrieben. Die Praxis arrangierte sich, pragmatische Lösungen gab es, Verdrängung funktionierte und Autoritäten schufen Gesetze. Nun aber wird die Unendlichkeit materiell und demokratisch, auf Festplatten und Displays in jeder Hosentasche, unleugbar. Und was sind wir blutjung, wie übersichtlich ist alles noch!

In Jorge Luis Borges’ Erzählung Der Kongress droht die Repräsentation der Menschheit mit der Menschheit selbst identisch zu werden. In dem Moment, in dem das erkannt wird, beraumt man die Vernichtung der Repräsentation an, eine gewaltige Verbrennung – doch die Idee ist in der Welt und somit schon unzerstörbar. In der Bibel verhindert Gott den Bau des Turms zu Babel, indem er die Sprachenvielfalt schafft, die Verwirrung der Menschen durch Komplexität. Der neue Turm ist jedoch eben diese Komplexität. Die Dystopien waren wenigstens überhaupt eine Perspektive, beide, religiöse wie säkulare Apokalypse, übten nötige Reduktionen von Komplexität. Nun bleibt die Abschaltung, ja, Zerstörung der Archive literarische Fiktion. Symbolisch wird sie aber sicher immer wieder praktiziert werden. Jedes „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ ist eine solche.

Wir wissen: Es ist irreversibel. Die Archive wuchern ins Exorbitante, jede Aktion ist, nun nachweisbar, die differente Wiederholung eines bereits Gewesenen. Auch der letzte technologische Schrei ist ein Echo. Kaum hat man einen neu erworbenen Computer aus dem Laden getragen, ist er schon veraltet – man lebt immer in der Vergangenheit. Die postmoderne Diagnose, dass wir also jetzt Re-enactmens, Re-Mixes, Aktualisierungen statt des Neuen beziehungsweise als Neues produzieren, sie gilt weiterhin, sie gilt mehr denn je, sie gilt für immer. Wie sollte dies auch überwunden werden? Die Unschuld ist verloren. Was auch immer für neue Epochen kommen, ein wesentliches Moment der Postmoderne, ob ironisch oder nicht, wird in ihnen bestehen bleiben.

2010 erschien David Shields Buch Reality Hunger,[2] ein Manifest der Collage. Shields zerlegt den Realitätsbegriff, kritisiert die Romanform und plädiert für ein freizügigeres Urheberrecht. Über 600 kurze Abschnitte, oft Zitate, montiert der Autor. (Nur zähneknirschend führt er auf Druck des Verlags hinten Quellennachweise an.[3]) Ein Werk ist heute vor allem die gigantische Lektüreleistung, die ihm vorausgeht. Das Feuilleton war gespalten: Verwundert fragte ein Schweizer Rezensent, ob es denn in Amerika keine Postmoderne gegeben hätte. Natürlich hat sie das, aber sowenig man fragen kann, was denn nach Monarchie und Demokratie als nächstes kommt, kann man mit Blick auf den Kalender nun erwarten, dass die Postmoderne vorüber sein müsse. Auch wenn es die oben genannten Ermüdungserscheinungen und Gegenströmungen gibt, zeigt sich bei der Digitalisierung, dass sie zwar eine Medienrevolution darstellt, aber bislang nicht so sehr eine neue Epoche begründet, als dass sie postmoderne Phänomene, voran den Pluralismus, noch potenziert. So gesehen waren die 80er und 90er erst prä-postmodern. Bei allen Fachdiskussionen um Moderne, Postmoderne, reflexive Moderne oder zweite Moderne sollte man auch respektieren, dass im Alltag für die gegenwärtige Situation mittlerweile ein unprätentiöser Postmoderne-Begriff gebräuchlich ist.

Die heutigen Technologien sind immer auch Speichermedien, und sie speichern nie einfach nur den einen Vorgang, den man eingibt, sondern auch Kontext und Geschichte, so wie praktisch jedes Foto auch ein Zitat von Dingen beinhaltet. Die Datei hat nicht nur einen Inhalt, sondern auch eine Form, die der benutzten Software; und in Zeiten der digitalen Vernetzung ist jedes Zeichen ein potentieller Link ins totale Archiv, jede Datei ist ‚soft’. Man ist heute sensibilisiert genug, im Speichervorgang schon einen Remix zu erkennen. Und da heute also Paneklektizismus ist, ist es müßig, noch von Eklektizismus zu sprechen. Die postmodernen Techniken werden Standard, darum braucht es dafür eigentlich kein Manifest mehr. So ist die Collage nicht mehr nur Kunstform, sondern ein ubiquitäres Prinzip, seien es Wikipedia-Artikel, Schönheitsoperationen und Genderattribute, modulare Möbel, die Mischkalkulation prekärer Arbeitsverhältnisse, Patchwork-Familien, die Multikulti-Gesellschaft oder Lebensphilosophien.

Collage, Assemblage, Musique concrète, Bricolage, Pastiche, Cover-Version, Intertextualität, Remix, Sampling, Appropriation Art, Bastard Pop, Patch-Work, Mash-Up – man kann die Idee als alten Hut abtun (wie man ja auch immer mehr in alten Werken, zum Beispiel der Zauberflöte, eine Collage erkennt), und doch, ob man will oder nicht, ist sie das Signum des Internetzeitalters, seine typischste Form. Gottfried Benns Aussage, „Die Kunst der Zukunft wird die Collage sein“, war weitsichtiger, als man dachte.

 


[1] Chris Anderson vom Wired Magazine spricht vom „Petabyte Age“, dessen Datenmassen nur noch mit sehr selbständig arbeitenden (und nicht mehr durchschaubaren) Algorithmen bewältigt werden können. Er kündet daher das Ende der Wissenschaft in der uns bekannten Form an. Chris Anderson, The End of Theory – Will the Data Deluge Makes the Scientific Method Obsolete? In: Edge vom 30.6.2008, http://bit.ly/S0Xq, recherchiert am 30.8.2011.

[2] David Shields, Reality Hunger, München 2011.

[3] Was vielleicht aber auch nur von Shields so dargestellt wird.

24 Hours of Flickr Photos

Erik Kessel hat sämtliche Bilder, die auf Flickr an einem Tag hochgeladen wurden, ausgedruckt und im Foam Fotografiemuseum Amsterdam ausgestellt. Ein kleiner Ausschnitt aus dem totalen Archiv.

(via Nerdcore)

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Das meint der Kulturtechno-Karikaturist dazu:

Das totale Archiv (8): Viel Vergangenheit umgibt uns

Zur Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der siebte Teil handelte von der Ewigkeit der Menschheit auf Erden. Als nächstes ist von dem zunehmenden Gefühl der „Posthistoire“ die Rede.

 

8. Viel Vergangenheit umgibt uns

Die Last des Vergangenen ist eine bekannte Erfahrung. „Ich bin so jung, und die Welt ist so alt“ klagte Georg Büchner im Jahr 23 nach Büchners Geburt, respektive 1836 nach Christi Geburt. Seit Büchner diesen Satz gesagt hat, ist die Welt allerdings schon wieder um 184 Jahre gealtert, sie wird immer noch älter und es gibt immer neue junge Menschen. Der alte Goethe äußerte Eckermann gegenüber, dass das Meiste schon gesagt sei, wie der späte Brahms sich am Ende der Musik glaubte. Nietzsche widmete diesem Umstand seinen Text Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben; „Fin du siècle“ hieß vor hundertzwanzig Jahren die Stimmung, heute leben wir in einer ganzen Epoche, die das Danach-Sein empfindet: die Post-Moderne. „Der gegenwärtige Irakkrieg war derart vorhergesehen, vorprogrammiert, vorweggenommen, vorgeschrieben und vormodelliert, dass er alle Möglichkeiten, bevor sie eintrafen, ausgeschöpft hat. Er wird derart möglich geworden sein, dass er nicht mehr stattzufinden braucht. Nichts von einem realen Ereignis ist mehr in ihm.“[1] trauerte Jean Baudrillard am Vorabend des Irakkriegs 2003. Wo keine Neologismen geprägt werden, gilt für jedes Wort Terenz’ († 159 oder 158 vor Christus) Maxime: „Es gibt nichts, was nicht früher schon gesagt worden wäre.“, oder: „Am Anfang war das Wort, seither gibt es Zitate.“ (Thomas McEvilley)

Die Geschichte wird schwerer und schwerer, was seit je so war, doch jetzt kriegen wir es fundamental zu spüren – im totalen Archiv. Die postmoderne Lösung dafür hieß: Ironie. Umberto Eco hat es in der Nachschrift zum Roman Der Name der Rose instruiert – man brauche nur die Anführungsstriche immer mitzukommunizieren, denn jede Kommunikation ist aller Wahrscheinlichkeit nach Zitat.[2] Die Unschuld ist verloren. Man nehme folglich die Ironie als Tugend und Pflicht, als technische und stilistische Herausforderung, um der Geschichte stolz zu trotzen.

Vielleicht hat jede Epoche ihre Postmoderne (und ihren Manierismus, und ihre Romantik). Das Wohltemperierte Klavier ist – technologiegetragener – postmoderner Barock, Beethovens Symphonien sind nicht einfache Symphonien, sondern retrospektive postmoderne Klassik, seine späten Fugen sind Hyperfugen, Miguel de Cervantes’ Don Quixotte ist ein Werk der Dekadenz schlechthin. Im Pop scheint es Gesetz zu sein, dass jede Dekade ihren Retro-Zwilling hat.[3] (Vielleicht hat sogar die Epoche der Postmoderne, die ideengeschichtlich in den 80ern ihren Anfang nahm, noch ihre Postmoderne.) Was kam jeweils danach?

Zumindest ist auch die Postmoderne gealtert und gewandelt: Statt der Mehrfachkodierung, dem raffinierten Hybrid aus Alltags- und Hochkultur, haben wir das Nebeneinander der Individualitäten; das postmoderne „anything goes“ stimmt materialistisch nicht, es ist in dieser Welt beileibe nicht alles möglich; das postmoderne Schlagwort „Dekonstruktion“ ist heute annähernd Stammtischjargon und ermüdet mitunter; die großen Erzählungen, die man zu Ende wähnte, können ja wieder anfangen – zumindest der Kapitalismus ist bislang nicht zu Ende erzählt: Schönheit mag keine Angelegenheit der Kunst mehr sein, aber sie bleibt eine des Heiratsmarktes. Authentizität, Ethik und Ernsthaftigkeit sind Gegenbewegungen zur Postmoderne.

Gewiss widerlegen jedenfalls die Digitale Revolution, der Clash der Kulturen und die weltweiten Finanzbeben Francis Fukujamas These aus den 1990ern, die Geschichte sei zu Ende. „Es wird immer solche geben, die meinen, wenn sie nicht weiter können, die Sprache sei erschöpft“ (Ernst Jünger).

Doch die Idee der Posthistoire steht im Raum. Sie ist zwar vorerst falsifiziert, kam aber nicht von Ungefähr. Es ist wiederum eine Frage der Perspektive, inwieweit wirklich Neues aufkommt oder doch nur Altes in Variation wiederkehrt. Zu Beginn des Personal Computers unkte man, das Herunterscrollen am Bildschirm regrediere vom Buch zurück zur Schriftrolle. Oder es gibt die These, wonach der Islam noch eine lange Geschichte vor sich habe, jene Geschichte, die der Westen hinter sich weiß: Reformation, Gegenreformation, Aufklärung, und so weiter. Man müsste bei solch einer Aussage wieder ihren Abstraktionsgrad diskutieren; was neu und was alt ist korreliert mit den Ansichten darüber, wie abstrakt oder konkret etwas ist. Dass aber verstärkt ein posthistorisches Gefühl aufkommt, lässt auf eine weitergehende Tendenz schließen.

Wir haben natürlich keine Gewissheit darüber, was die Zukunft bringt. Mit Überraschungen bleibt zu rechnen. Aber materiell zeichnen sich eindeutig Erschöpfungsprozesse ab: In der Musik etwa wurden im 20. Jahrhundert praktisch alle nur möglichen Klänge, die im Spektrum des menschlichen Ohres erzeugbar sind, entdeckt; diesbezüglich ist der Wahrnehmungsapparat endlich. Die Experten sind sich einig, dass es so gut wie keinen nie gehörten Klang mehr gibt, vergleichbar dem Periodensystem der Elemente, dem heutzutage nur noch sehr selten und unter großem Aufwand ein neuer Fund hinzugefügt wird.

 


[1] Jean Baudrillard, Das Ereignis, Weimar 2007, S. 8.

[2] Umberto Eco, Nachschrift zum ‚Namen der Rose’, München 1986, S. 76ff.

[3] Dazu: Simon Reynolds, The 1980s revival that lasted an entire decade, in: Guardian vom 22.1.2010, http://bit.ly/6veBSv, recherchiert am 30.8.2011.

Das totale Archiv (7): Die Menschheit ist ewig

Zur Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der sechste Teil stellte fest: Die digitalen Archive sind nicht mehr zerstörbar. Der siebte Teil nun ergänzt: Auch die Menschheit ist nicht mehr zerstörbar!

 

7. Die Menschheit ist ewig

Natürlich sind nicht alle Geschichten erzählt, nicht alle Bilder gemalt und nicht alle Musik komponiert, nicht alles ist schon dagewesen. Aber vieles! – im Verhältnis zu dem, was Menschen erfassen können. Neu ist das Ausmaß des Alten. YouTube gibt es seit sechs Jahren. Pro Minute werden dort derzeit 48 Stunden Videomaterial hochgeladen. Welche Massen wird man da in fünfzig Jahren haben? Die Archive wachsen und wachsen. Es ist kaum anzunehmen, dass sie sich wieder zurückentwickeln.

Nach gegenwärtiger Sachlage ist keine messianische und keine technisch ausgelöste Apokalypse zu erwarten. Natürlich gibt es gewaltige Katastrophen, aber sieben Milliarden Menschen, mit Technik und Know-How ausgestattet und über den Globus verteilt, sind zwar leider beträchtlich dezimierbar, doch schwerlich ausrottbar. Trotz aller existierenden Waffen wäre es logistisch unwahrscheinlich schwer, die gesamte Menschheit vom Erdball zu tilgen. So grauenhaft der Zweite Weltkrieg auch war, er hat unsere Population nur um zwei Prozent dezimieren können. Zudem darf man hoffen, dass diese Zeiten vorüber sind.

Das 20. Jahrhundert stand im Zeichen des Glaubens, dass die Menschheit sich früher oder später selbst zerbomben wird. Zukunftsvisionen waren praktisch immer düster; wer in der Literatur oder im Kino in die Zeitmaschine stieg (The Time Machine, Terminator, Blade Runner), zog in den Krieg. Aber allmählich dürfen wir annehmen, dass diese Ängste ausgestanden sind. Anzunehmen ist, dass noch Millionen Jahre lang Menschen leben,[1] sofern nicht höhere Gewalten erscheinen. Mit dem Abschütteln der Religionen hat die Menschheit Ewigkeit erlangt.

Die Erkenntnis, dass kein Gott dem irdischen Leben ein Ende setzen wird, hatte in der Neuzeit am prominentesten Nietzsche, und er gab dieser Ungeheuerlichkeit durch eine weitere unchristliche Ungeheuerlichkeit Ausdruck: die Lehre von der ewigen Wiederkehr. Nun sind Ungeheuerlichkeiten schwer auszuhalten. Im 20. Jahrhundert kamen die Dystopien auf, die negativen Utopien, die mehr oder minder den Untergang der Menschheit, wie wir sie kennen, skizzieren. Das hatte seine realen Anstöße, darin steckt aber insgeheim auch postreligiöse Eschatologie. Der Übermensch, der gottgleich wird, wird zuständig für den Weltuntergang. Wenn auch durch einen Atomkrieg: wenigstens überhaupt ein Schlusspunkt statt einer praktisch endlos dahinlebenden Menschheit.

Allein, es wird nicht eintreten. Wir müssen es mit der Ungeheuerlichkeit aufnehmen. Spürbar wird sie im totalen Archiv. Bislang war alles Materielle dem Verfall ausgeliefert; dass es einmal digitalisiert und dadurch ewig leben wird, konnte man sich nicht ausmalen. Jetzt muss ich davon ausgehn, dass was ich hier schreibe, noch in hundert Millionen Jahren existieren wird, ob es gelesen wird oder nicht. Die Vergangenheit, genauer gesagt alles, was von unseren Vorgängern hinterlassen wurde und digitalisierbar ist, wird digitalisiert werden, und dieser Vorgang wird irgendwann als abgeschlossen gelten. Dann sind sämtliche Bibliotheken und Museen, öffentlichen und privaten Archive Digitalisate; ab dann wird nur noch die ständige Gegenwart hinzugefügt. Alles wird allen verfügbar sein.[2] Und das Archiv ist unzerstörbar, weil es sich millionfach kopieren lässt und auf Nanometern Platz hat. Es wird kein geschichtliches Dunkel mehr geben, stattdessen die Möglichkeit der virtuellen Zeitreise an helle, vielleicht nur etwas pixelige Datenmeere. Dieses Kompendium gibt Informationen her, über die bislang nur gemutmaßt werden konnte; beispielsweise lassen sich, wo bislang bloß Hochrechnungen möglich waren, seit Googles Digitalisierungen kompletter Bibliotheksbestände tatsächliche Untersuchungen über die Häufigkeit bestimmter Wörter in der gedruckten Sprache anstellen.

Und selbst wenn die Menschheit doch verschwände – ihr Wissen würde wohl auf einem Datenträger in einer Kapsel weiter durch Äonen geistern.

 


[1] Fünfhundert Millionen Jahre lang bleibt die Erde voraussichtlich bewohnbar.

[2] Alles, was digital wird, wird kostenlos: Ewan Morrison, Are books dead, and can authors survive? In: Guardian vom 22.8.2011, http://bit.ly/r3VvN5, recherchiert am 30.8.2011.

Das totale Archiv (6): Die Archive sind ewig

Zur Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der fünfte Teil handelte von der Informationsexplosion im Netz; als nächstes befassen wir uns mit dem Umstand, dass die digitalen Archive unzerstörbar sind.

 

6. Die Archive sind ewig

Ein technischer Aspekt des totalen Archivs ist eigens bemerkenswert: die digitale Sauberkeit. Ein Datensatz verwittert nicht. Entgegen der manchmal geäußerten Sorge, die digitalen Datenträger seien viel unbeständiger als die guten alten Analogmedien, wie zum Beispiel das „Holzmedium“ Buch, werden die Daten nicht kaputtgehen. Ist auch nur ein Film auf YouTube, ein Wikipedia-Eintrag bislang verschwunden, weil sein Trägermedium verblich? Die Technik ist den Daten gewachsen, parallele Server, auf verschiedenen Kontinenten stationiert und dezentral organisiert, garantieren Fortbestand, zumal alles allmählich im Nano-Bereich Platz hat. Tatsächlich sind digitale Daten unvergänglich, sie können verlustfrei auf den nächsten Datenträger umkopiert werden.[1] Und das geschieht ununterbrochen: Jeder Aufruf einer Website bedeutet ihre Multiplizierung auf das eigene Gerät, jede Aktion im Internet ist eine Kopieraktion. Unlängst wies ich einen Bekannten auf ein Interview mit Pierre Boulez von 1967 hin, das im Online-Archiv des Spiegels einzusehen ist. Der Bekannte übersah die Jahreszahl am Rand und glaubte, das Interview sei aktuell. Kein Wunder, er hielt ja keine vergilbte Spiegel-Ausgabe von 1967 in Händen! Moden bleiben kenntlich, aber der technische Stand der Reproduktion von Texten, wie auch von Fotos, Videos und Musik, ist kaum noch optimierbar, beziehungsweise verharrt auf einem pragmatischen Niveau. Es gibt Plattenspielersimulatoren, auf denen man die Jahreszahl einstellen kann; 1915 hat Toscanini anders geknackt als 1935. Der Schieberegler endet aber bei der CD oder beim Mp3, so wie man auch keine noch höherauflösenden Fotos und Filme mehr braucht. Fortan gibt das Medium keine neue Botschaft mehr ab. Alles Vergangene ist gleich weit entfernt, es wird  medial egalisiert.

„Erinnern heißt vergessen“, das ist eine menschliche Losung: Mit jedem Wiederaufrufen wird das Erinnerte neu geschrieben und verfälscht. Im Digitalen passiert das nicht. Bei der verlustfreien Kopie gibt es keine Mutation mehr. Das digitale Archiv steht still – wäre da nicht die Remix-Kultur, die bewusst Abweichungen produziert.

 


[1] Ein bisheriges Problem sind veraltende Formate, doch je mehr sich globale Standards, etwa der Pdf-Datei, durchsetzen, schwindet die Gefahr.

Wissensexplosion – Video

Im zuletzt geposteten Kapitel meines Textes „Das totale Archiv“ ging es um die Wissensexplosion, die durch das Internet passiert. Dazu kam unlängst auch ein hübscher ZDF-Beitrag:

http://blog.zdf.de/dermarker/archives/8542

(via Mario Sixtus)

Das totale Archiv (5): Die Internetarchive beherbergen ungekannte Medienmassen

Zur Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der vierte Teil war ein Exkurs über das Wesen des technischen Fortschritts. Der fünfte Teil nun ist der Informationsexplosion gewidmet.

 

5. Die Internetarchive beherbergen ungekannte Medienmassen

Die Dampfmaschine ist ein großer Muskel, elektrische Leitungen sind Nervenbahnen – die Gerätschaften nähern sich den geistigen Gefilden. Die Industrialisierung war die Industrialisierung von Arbeitskraft, die Digitalisierung ist die Digitalisierung von Wissen.

Alle bisherigen Dokumente werden digitalisiert und gespeichert, und die Gegenwart sowieso. Jede Festplatte ist ein Stausee des Livestreams. Und da der Livestream selbst so umfangreich Informationen der Welt ansaugt, ist jede Information maximal ein Tag hinter ihm bereits eine Antiquität. Festplatten sammeln Geschichte. Was bringt uns die neue Technologie? Die Vergangenheit! Ähnlich dem demografischen Wandel erfolgt eine digitale Überalterung.

Jeder Mensch trägt nun ein übergroßes Gedächtnis mit sich herum, das in jedem Gerät schlummert. „Aus Massenmedien werden Medienmassen“ (Peter Glaser). Man spricht vom „Information Overload“ – es ist bereits ein gefühltes, aber immer faktischer werdendes totales Archiv. Im Netz entsteht die Ökonomie des „Long Tail“, die Nischenprodukte begünstigt: In geographisch begrenzten Räumen sind Nischenprodukte schwer verkäuflich, im globalen Raum des Netzes aber findet sich über kurz oder lang auch für’s Abseitigste ein Käufer. Tatsächlich ist es aber ein „Infinite Tail“, denn im Digitalen geht eigentlich nichts verloren.[1]

Da alle Medien heute Speichermedien sind, wird das, was wir später die Vergangenheit nennen, in ungekannter Detailliertheit abzurufen sein. Jede Twittermeldung, jede Facebook-Statusaktualisierung, jeder Bucheinkauf bleibt im Digitalen hängen; das Leben wird immer umfassender aufgezeichnet. Die derart angehäuften Relikte können zum virtuellen Abbild der Vergangenheit synthetisiert werden – Zeitreisen zurück sehen immer realistischer aus. (Man muss an Jorge Luis Borges Erzählung von den Kartographen denken, die eine Landkarte im Maßstab 1:1, genauso groß wie das Land selbst, erstellen,[2] oder von dem Kongress, der die Menschheit vertreten soll, und bald mit ihr identisch wird.[3])

Das totale Archiv ist riesig, und es ist ziemlich ungeordnet und anarchisch, ein „Anarchiv“ (Simon Reynolds). Jürgen Habermas prägte in den 80ern das geflügelte Wort der „neuen Unübersichtlichkeit“, aber man wird die 1980er im Vergleich zu heute als noch ziemlich übersichtlich belächeln. (Ähnlich wurde das Adjektiv „modern“ im 19. Jahrhundert gerne gebraucht, aber die sogenannte Moderne überbot das dann extrem.) Pluralismus ist das Schlagwort der Postmoderne, aber erst das Internet ist das postmodernste Ding überhaupt,[4] und es wird immer ‚schlimmer’. Wenn unendlicher Speicherplatz vorhanden ist, ist die Entropie, die Steigerung des Chaos, unendlich. Licht wird der Wärme, dem Teilchengewusel weichen. Die Bibliothek von Babel,[5] in der sich sämtliche möglichen Bücher befinden, das heißt sämtliche möglichen Buchstabenkombinationen, würde in diesem Universum materialiter keinen Platz haben. Im Digitalen aber zeichnet sich die Vision ab. Analog zum Mooreschen Gesetz, wonach Prozessoren alle achtzehn Monate ihre Leistung verdoppeln, verdoppelt sich das geschätzte Wissen der Welt alle fünf bis zwölf Jahre, Tendenz beschleunigend.[6] In der Informationsgesellschaft nimmt die Menge an Daten im Verhältnis zu anderen Bereichen der Sozial- und Wirtschaftsordnung überproportional zu: Es passiert eine Informationsexplosion.

Für die Geisteswissenschaften stellt sich die Frage nach dem Neuen noch verschärft. Eine Dissertation soll per definitionem einen noch nicht bearbeiteten Gegenstand haben. Also muss am Beginn der Arbeit der aktuelle Forschungsstand aufgearbeitet werden. Doch die Masse an möglichen Quellen ist nicht zu bewältigen, jeder Gedanke könnte schon geschrieben worden sein. Das war natürlich auch früher schon der Fall, aber zu Printzeiten noch halbwegs hierarchisch und geographisch eingedämmt: die örtliche Universtitätsbibliothek, dazu das Fernleihsystem und vielleicht ein, zwei bewilligte Forschungsreisen zu entfernteren Archiven – mehr war schlechterdings nicht möglich. Wie behütet war man in den Limits der analogen Welt! Im Digitalen triumphieren die Millionen Resultate, die Google aus der ganzen Welt an den heimischen Bildschirm schwemmt, über jede Traditionslinie und jede Landesgrenze; alles passiert im Fernstudium. Wie der Archäologe, der sich durch nichts geringeres als Jahrmillionen einen Weg bahnt, schlägt der Medienmensch mit jeder Suchanfrage bei Google eine Schneise durch Millionen Dokumente – jede Recherche ist Archäologe.

Jean-Paul Sartres Held in Der Ekel begibt sich für den Rest seines Lebens in die Bibliothek und liest, angefangen beim Buchstaben A. Beim letzten Universalgelehrten, Gottfried Wilhelm Leibniz, mag das noch die ganze Bibliothek gewesen sein. Heute muss man, selbst der Forscher australischer Steppengräser, die Abertausende Ergebnisse nur eines einzigen Google-Suchbegriffs sichten. Spezialisten werden immer noch spezialisierter, es ist des Ausdifferenzierens kein Ende. Die Tendenz der zunehmenden Zahl von Fußnoten ist frappant, und 1500 Quellen ausfindig zu machen und in einen Zusammenhang zu bringen ist womöglich eine größere kulturelle Leistung, als etwas (vermeintlich) Eigenes in die Welt zu setzen. Es gibt die Faulheit des Copy&Paste, aber eine ebenso große des ignoranten Drauflosschreibens, der Autismus der Autonomie. Wenn es in der vernetzten Welt etwas nicht mehr gibt, dann tabula rasa. Techniken der Recherche, Stile der Kompilation und Zusammenfassung sind gefragt; die Welt braucht intelligente Filterung und Aggregation. Es gibt aber noch eine Alternative: Vielleicht ist die einzig adäquate Form der Wissensaneignung heute und in Zukunft die Funktion „Zufälliger Artikel“ auf Wikipedia.

Noch immer ist der Abschied von verbindlicher Geschichtsschreibung nicht vollzogen. Im Gegenteil, es ist Bedürfnis und Mode geworden, „Kanons“, der deutschen Literatur, der Musik, der Kunst aufzustellen, so wie allenthalben in der beliebigen, aber unbeliebten Postmoderne um Werte gerungen wird. Mitte der Nullerjahre sollte einmal am Freiburger Institut für Neue Musik eine Liste von Schlüsselwerken der Neuen Musik erstellt werden, die Studienanfängern, gerade aus anderen Erdteilen, Orientierung gebe. Am Ende einer endlos zu werden drohenden Sitzung musste ob der Fülle der eingehenden Vorschläge aufgegeben werden. Es sollen Werte geschaffen werden, doch scheitert das nicht daran, dass keine da sind, sondern weil zu viele da sind. Musikfestivals wollen heutzutage noch die Bandbreite der Gegenwartsmusik abbilden – diese Illusion hat die Bildende Kunst längst hinter sich gelassen und fokussiert vielmehr auf Stilistiken, engumrandete Themen und Einzelpersonen. Der Konzeptkünstler Timm Ulrichs beklagte im Alter, dass er so manche Idee schon früher gehabt hätte, die andere Künstler später, unwissend, aber mit viel größerem Erfolg umsetzten. Allen Ernstes forderte er, der wiedergeborene Morgenstern, ein Patentamt für künstlerische Konzepte.[7] Das ist ein Stück weit verständlich, aber es geht schlichtweg nicht, oder nicht mehr. Der Punkt ist erreicht, an dem es nicht mehr möglich ist, bei einer Idee erst zu prüfen, ob sie nicht jemand anderes schon hatte. Als Künstler sollte man bislang die gesamte Kunstgeschichte kennen, um wirkliche Innovation schaffen zu können. Es ist abzusehen, dass das undurchführbar wird oder schon ist.

Dennoch ist Kunst ohne irgendeinen Neuheitsanspruch keine Kunst. Niemand braucht Stilkopien. Abgesehen davon, dass man es ein Stück weit mit Nietzsche halten muss, der verkündete, ohne Naivität seien wir der Historie schutzlos ausgeliefert, und dass man darauf hoffen kann, dass Zeit stets ein Lineares (Thermodynamik!) enthält, existiert eine probate Lösung: Der technische Fortschritt kann noch ein Garant für Neuheit sein. Werke, die erst mit aktuellen technischen Mitteln realisierbar sind, können sich einer gewissen Novität sicher sein. Wenn noch Avantgarde möglich ist, dann dank neuer Technologie.

 


[1] Was leider nur theoretisch der Fall ist. De facto verschwinden viele Dokumente wieder aus dem Netz, etwa aus Urheberrechtsgründen oder wegen angeblicher Wettbewerbsverzerrung. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten mussten ihre Online-Archive auf Druck der Printindustrie geradezu leerfegen (vermutlich um circa 80 Prozent verkleinern), was zur Schöpfung des Unworts „depublizieren“ veranlasste.

[2] Jorge Luis Borges, Gesammelte Werke – Gedichte I, herausgegeben von Gosbert Haefs und Fritz Arnold, Wien 1991, S. 151-160.

[3] Jorge Luis Borges, Der Kongress, in: Gesammelte Werke – Der Erzählungen zweiter Teil, herausgegeben von Gosbert Haefs und Fritz Arnold, Wien 1991, S. 105-124

[4] Niklas Hofmann: YouTube rettet die Postmoderne, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.9.2011, http://bit.ly/royUex, recherchiert am 24.9.2011.

[5] Eine durch Jorge Luis Borges bekannt gewordene literarische Fiktion. Vgl. Jorge Luis Borges, Von der Strenge der Wissenschaft, in: Gesammelte Werke – Der Erzählungen erster Teil, herausgegeben von Gosbert Haefs und Fritz Arnold, Wien 1991, S. 285.

[6] Peter Charles, Nathan Good, Laheem Lamar Jordan, Joyojeet Pal, How Much Information 2003? Studie der School of Information Management and Systems der University of California at Berkeley, http://bit.ly/pCIVPw, recherchiert am 30.8.2011.

[7] Kunstforum International Band 206 (Januar-Februar 2011), S. 262.

Das totale Archiv (4) – Exkurs: Der technische Fortschritt

In der nächsten Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der dritte Teil befasste sich mit dem geänderten Mediennutzungsverhalten, das die digitale Technik hervorruft. Im folgenden vierten Teil soll ein Exkurs dem Wesen des technischen Fortschritts überhaupt nachgehen.

 

4. Exkurs: Der technische Fortschritt

Warum geht der technische Fortschritt unablässig weiter? Für Ernst Jünger, der mit Der Arbeiter 1932 eine zeittypische Technikphilosophie vorlegte,[1] ist es der Krieg, der Wettstreit der Nationen, der unweigerlich alle Mittel mobilmache. Nicht Englisch, sondern Technik werde die Weltsprache sein, der „planetarische Stil“. Die Technik sei so selbstverständlich, dass sie als „Revolution sans Phrase“ voranschreite.

Zwar bemüht sich das Militär auch jetzt noch um einen technologischen Vorsprung, aber zivile Entwicklungen stehen ihm kaum nach oder überholen es sogar, wenn sie ökonomischen Nutzen versprechen (was wiederum dem Terrorismus zugute kommt). Der technische Fortschritt ist vor allem einer des Kriegs des Wettbewerbs. Konkurrierende Unternehmen wollen verkaufen, ob an Heere, Firmen oder Privatpersonen. Bedürfnisse werden (immer besser, stärker) befriedigt, ob nach Nahrung, Transport, Information, Sex, Kommunikation oder Zerstörung, was auch immer. Selbst Karl Marx und Friedrich Engels bewunderten zu Beginn des Kommunistischen Manifests, zu welchen Leistungen der Kapitalismus die Menschen gebracht hatte. Aber auch aus Neugier und Ruhmsucht forscht, entwickelt und erfindet der Mensch. Es ist ein Trieb.

Zu den bekanntesten Technikkritiken des 20. Jahrhunderts gehört Günther Anders’ Die Antiquiertheit des Menschen:[2] Die Bedürfnisse würden nicht befriedigt oder seien keine wirklichen, die Menschen gewönnen nur immer weniger an Glück, die Technik wüchse ihnen über den Kopf und regrediere sie. Gewiss läuft nicht alles linear. Das gute alte Windrad ist besser als Atomreaktoren. Die kapitalistische Aggressivität muss mindestens reguliert werden, von demokratisch legitimierten Mächten. Außerdem widerspricht unserem freiheitlichen Selbstverständnis, dass wir zwar nicht einer Partei angehören müssen, aber einem Stromanbieter. Wir sind, wenn man es so nennen will, Sklaven des Fortschritts. Man muss ihn bejahen. Aktuell geht die Meldung um, dass auf Autobahnen die Notrufsäulen abmontiert werden. Es wird davon ausgegangen, dass jeder ein Handy besitzt. Ergo, jeder hat ein Handy zu besitzen.

Dennoch: Für sieben Milliarden Menschen brauchen wir technischen Fortschritt. Es gibt kein Zurück in einen vermeintlich glücklichen Naturzustand. Im Gegenteil, angesichts der Ernährungsengpässe, Pandemien und Analphabetenraten kann man nur wünschen: Schneller, Fortschritt! Es ist charakteristisch, dass eine der jüngeren relevanten Parteien Deutschlands, die Grünen, für eine technologische Programmatik steht.

Neuerungen haben fraglos Risiken. Die Erfindung des Flugzeugs ist auch die Erfindung des Flugzeugabsturzes. Da braucht es kritische Geister, die aufmerksam beobachten und intervenieren. Doch sollte bedacht sein, dass Vorbehalte und Ängste auch oft dem Irrationalen zufallen. Das wird daran erkennbar, dass Argumentationen auftreten, die schon seit Jahrhunderten demselben Muster folgen. Immer wieder riefen Erfindungen, etwa der Buchdruck oder die Straßenlaterne, den menschlichen Abwehrreflex hervor: Man bräuchte es nicht, bisher sei es doch auch gegangen, das alte habe sich lang genug bewährt und würde sich nicht verdrängen lassen, dadurch entstünden doch ökonomische Probleme, und so weiter.[3] Man schottet sich mit Skeptizismen ab, wiewohl die geschichtliche Erfahrung zur Genüge ist, dass sich derlei durchsetzt. Nichtsdestotrotz performen Konservative immer wieder aufs Neue ihre Unflexibilität – zumindest gute Zeiten für Aktionskunst. Dabei braucht es ja Kritiker, aber solche, die dies durchschauen und sich nicht nur in Stereotypen einnisten.

Der technische Fortschritt bringt dem Menschen Entlastung. Nun gibt es auch Stimmen, die absurderweise gerade das kritisieren. Beispielsweise kursiert die Meinung, dass Speichermedien eine Auslagerung nicht nur des menschlichen Gedächtnisses, sondern überhaupt seiner Memorierungsfunktion verursachten,[4] gleichwohl fünftausend Jahre Mediengeschichte den Menschen noch nicht um seine Erinnerungsfähigkeit gebracht haben. Auch wenn das Morden durch Maschinen ebenfalls erleichtert wird, ist die maschinelle Arbeit nicht per se falsch und in Anbetracht der irdischen Mühsal erst einmal zu begrüßen.

Johann Sebastian Bach unternahm noch zu Fuß die Reise nach Lübeck, um Dietrich Buxtehude Orgel spielen zu hören. Das ist schön, das ist romantisch, und Bach schrieb die beste Musik. Aber niemand würde heute ernsthaft per Pedes zu den Donaueschinger Musiktagen pilgern. Claus-Steffen Mahnkopf beschreibt, was für eine Kostbarkeit es ihm war, sich die Walter-Benjamin-Gesamtausgabe mit hart erarbeitetem Geld zu leisten und ohne Suchfunktion zu studieren.[5] Das ist sympathisch und ehrenwert, aber im Zeitalter des E-Books anachronistisch. Niemand wird Aspirin, die Heizung, den Computer oder motorisierte Fortbewegungsmittel wieder ersatzlos aus seinem Leben streichen, selbst wenn man mutmaßen könnte, die Menschen seien vor zweitausend Jahren glücklicher gewesen. Zwar haben wir durch die Delegierung an Automaten Fähigkeiten wie das Korbflechten, das Beackern mit Ochs und Egge oder das Brotbacken verlernt[6] – aber bislang sind die freigewordenen Kapazitäten immer wieder neu belegt worden. Schließlich gibt es hienieden beileibe noch genug Aufgaben, so dass wir über jede Entlastung froh sein können. Humanismus gegen die Maschinen ins Feld zu führen, ist irrige Opposition. Die Rede von der Überlegenheit des Menschen mutet manchmal an wie die Rede von der Überlegenheit der weißen Rasse. Wer sich von der Technik narzisstisch gekränkt fühlt, dürfte auch nicht einsehen, warum er Schuhe tragen muss.[7] Der Homo Sapiens, das Mängelwesen, hat keinen anderen Ausweg: Er verschmilzt immer mehr mit Technologie, wie es etwa mit der Kleidung schon seit Menschengedenken der Fall ist. Es kommt darauf an, die großen Vorteile davon herauszuarbeiten. Dabei wird das Leben unterm Strich wohl nur bedingt leichter, aber, wie Peter Glaser bemerkt, interessanter.[8]

Der Fortschritt ist eine menschliche Konstante. Giftgas kann und soll geächtet werden, aber nicht der Stand der chemischen Forschung. Die Menschheit muss Laborkenntnisse aushalten, ohne gleich Waffen daraus zu fertigen, ebenso wie in einer freien Gesellschaft Witze über jede Minderheit möglich sein müssen.

 


[1] Ernst Jünger, Der Arbeiter, in: Gesammelte Werke, Zweite Abteilung, Essays Band 8, Stuttgart 1981.

[2] Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956.

[3] Dazu: Kathrin Passig, Standardsituationen der Technologiekritik, in: Merkur 12, Stuttgart 2009, S. 1144-1150. http://bit.ly/8Fih8h, recherchiert am 30.8.2011.

[4] Frank Schirrmacher, Die Revolution der Zeit, in: FAZ vom 18.7.2011. http://bit.ly/pFQNQI, recherchiert am 30.8.2011.

[5] Johannes Kreidler, Claus-Steffen Mahnkopf, Harry Lehmann: Musik, Ästhetik, Digitalisierung – eine Kontroverse, Hofheim 2010, S. 110f.

[6] Zur Ideologie der falschen Erleichterung: Christian Stöcker, Es lebe die Verweichlichung, in: Spiegel Online vom 22.5.2011. http://bit.ly/jP2Z0c, recherchiert am 30.8.2011.

[7] Zum Rassismus gegen Maschinen: Michael Seemann, What about us? – Die Antiquiertheit des „Humanisten“, in: ctrl+verlust vom 15.6.2011, http://bit.ly/kC5dx3, recherchiert am 30.8.2011.

[8] Peter Glaser, Digital sind alle Dichter, in: futurezone vom 20.8.2011, http://bit.ly/pFmWbD, recherchiert am 30.8.2011.

Das totale Archiv (3): Ein geändertes Mediennutzungsverhalten

In der nächsten Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Im zweiten Teil wurden die digitalen Archive als positive Innovation dargestellt. Weiter geht’s mit der Darstellung des geänderten Mediennutzungsverhaltens, das damit einhergeht.

 

3. Ein geändertes Mediennutzungsverhalten

Wer sich für eine Radiosendung interessiert, braucht heute nicht mehr die Uhr zu stellen. In der Online-Mediathek lassen sich die Sendungen nach Belieben (nur leider auf wenige Tage limitiert) anhören. Wissen heißt nicht einmal mehr „wissen, wo’s steht“ – die Antwort liegt auf der Hand, auf dem Handy, worauf Wikipedia und YouTube abrufbar sind. (Mehr denn je fordern Pädagogen statt Faktenwissen vernetztes Denken und Medienkompetenz.)

Es ist sehr ärgerlich, dass es von wunderbaren Theatervorstellungen keine Videodokus auf YouTube gibt. Das soll nicht heißen, dass Theater stattdessen Film werden soll. Aber Bühnenaufführungen sollen dokumentiert werden. Es braucht filmische Ansichtsformen fürs Theater auf YouTube, genauso für Konzerte. Das Wesen von „flüchtiger Kunst“ ist nicht mehr zu akzeptieren, sie muss einfach nicht flüchtig sein, schon gar nicht besteht darin eine eigene Qualität (schließlich wird ja auch die Theatervorstellung mehrmals gegeben). Das gilt erst recht für die klassische Musik, die sich, vergleichbar den Zoos, überlebt hat. Zoologische Gärten sind Produkte des 19. Jahrhunderts, in dem es zwar Kolonien und regen Seefahrtsverkehr, aber noch keine guten Aufzeichnungsmedien oder Fernreisemöglichkeiten gab, mit deren Hilfe Normalmenschen exotische Tiere sehen konnten. Heute aber kann eine Kamera viel näher und faszinierender an eine Giraffe in ihrer Lebenswelt heranzoomen, als wenn man sie zum Begaffen in fremdem Klima einsperrt. Flugzeug und Film machen den Zoo, der ohnehin Tierquälerei ist, obsolet. Ähnlich verhält es sich mit den Symphonien Beethovens, die man heute in tausend Interpretationen, auf Dolby Surround zu Hause anhören kann: Das genügt! Man muss sie nicht noch weiter aufführen, die Ressourcen dürfen nun gerne anderweitig eingesetzt werden, für aktuelle Musik. Ebenso kann man heute im Netz Bilder von Picasso und van Gogh hochaufgelöst betrachten, dichter (und ungestörter) als man je im Museum of Modern Art an sie herantreten dürfte. Das sollte ausreichen! Wer hat schon die Demoiselles d’Avignon in echt gesehen? Nie wird Olivier Messiaens Schlüsselwerk Mode de Valeurs et d’Intensités gespielt, trotzdem kennt es jeder Komponist, trotzdem war es musikgeschichtlich epochal.[1] (Theodor W. Adorno war der Ansicht, es reiche, Noten zu lesen; so radikal braucht man es nicht zu halten, zumal Noten heute nicht mehr die Musik adäquat abbilden. Aber klangliche Reproduktionen erfüllen den Zweck.)

Die meisten Übertragungsmedien sind heute, stattdessen oder zugleich, Speichermedien. Man kann „live“ fernsehen, kann aber auch die Sendungen in der Mediathek ansehen. In den 70er-Jahren synchronisierte das Fernsehen abends noch die halbe Nation zum gleichzeitigen Erlebnis, was heute allenfalls bei Fußballgroßereignissen passiert. Einen unabgesprochenen Telefonanruf empfinden mittlerweile viele als die Nötigung eines Egoisten, der sich den Zeitpunkt des Telefonats im Gegensatz zum Angerufenen selber aussucht.[2] Auf Emails hingegen kann man in eigener Zeiteinteilung antworten und hat alles schwarz auf weiß zum Nachlesen, für immer. Nicht nur Echtzeit ist das Wesen des Internets, sondern ebenso die Individualzeit: Online-Shops haben 24 Stunden lang geöffnet, Arbeitsplätze müssen sich nicht mehr in Fabrikgebäuden, sondern können sich in den eigenen vier Wänden befinden und bis zu einem gewissen Grad erlaubt das dem Arbeitenden, sich selber einzuteilen, wann er die Geschäfte erledigt.

So sind alle Web-Dokumentationen von Kunstwerken interaktive Installationen. Der Zuschauer kann Pausieren, Vorspulen, Wegklicken. Die Wahrnehmung fragmentiert. Ein Bekannter schrieb mir, nachdem ich ihn auf einen siebzehnminütigen YouTube-Film hingewiesen hatte, er könne zwar die ganze Nacht YouTube-Filme anschauen, aber nicht einen Web-Film, der länger als fünf Minuten dauert. Typisch für das Internet ist Twitter, das jede Nachricht in maximal 140 Zeichen zwingt. So rauscht einem von extrem kurzem extrem viel entgegen. Eine gebräuchliche Abkürzung im Netz lautet „tl;dr“. Too long; didn’t read.

Das ist gut und schlecht, man wird sich darauf einstellen und das beste daraus machen müssen.

 


[1] Stockhausen beschreibt ausdrücklich, wie er die Schallplatte mehrmals anhörte. Karlheinz Stockhausen, Texte zur Musik Band 2, herausgegeben von Dieter Schnebel, Köln 1962, S. 144.

[2] Dazu: Martin Weigert, Der Tod des Telefonats. In: Netzwertig vom 23.8.2010. http://bit.ly/agBGt1, recherchiert am 30.8.2011.