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Kreidler @ZKM & @Huddersfield

Heute abend findet am Zentrum für Kunst- und Medientechnologie Karlsruhe im Rahmen des piano+-Festivals die Uraufführung meiner „Studie für Klavier, Audio- und Videozuspielung“ statt, daneben Xenakis und Iddon. Es spielt Rei Nakamura.

21 Uhr im ZKM_Kubus
»Xenakis heute« Piano+ IV
Iannis Xenakis »À.r.(Hommage à Ravel)« für Klavier (1987)
»Herma« für Klavier (1960/61)
Martin Iddon (*1975) »Neues Werk« mit Midi-Flügel und Elektronik (UA, 2011)
Johannes Kreidler (*1980) Studie für Klavier und Video (UA, 2011)
Klavier: Rei Nakamura, NN

http://on1.zkm.de/zkm/stories/storyReader$7786

Außerdem spielt heute abend Mark Knoop beim Huddersfield Contemporary Music Festival das Klavierstück 5, Werke von Stefan Prins und Peter Ablinger sowie das gesamte Klavierwerk von Iannis Xenakis!

Iannis Xenakis Herma
Johannes Kreidler Klavierstück 5
Iannis Xenakis Mists
Stefan Prins Piano Hero #1
Stefan Prins Piano Hero #2
Peter Ablinger 6 Linien
Iannis Xenakis à R. (Hommage à Ravel)

N.B.: Es ist schon mehr als auffällig, wie oft zur Zeit Xenakis allerorten gespielt wird. Marxistische Vermutung: Weil die Menschen heute mehr denn je ihr Leben mit Algorithmen verbringen, wird die algorithmische Musik Xenakis‘ als so aktuell empfunden. Seine musikalischen Strukturen kehren in Google und Facebook wieder.

Das totale Archiv (11): Kunst des totalen Archivs

Zur Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der zehnte Teil beleuchtete Designformen des totalen Archivs, der elfte nun Kunst.

 

11. Kunst des totalen Archivs

In der Kunst war der Fortschritt des 20. Jahrhunderts zuerst weniger ein technologischer als ein ideeller. Von den technischen Mitteln her hätte man schon in Höhlen kubistisch malen und auf der Viola da Gamba atonal spielen können – sie bedurften aber noch so mancher „Immaterialien“ (Friedrich Kittler), die erst in der Moderne errungen wurden. Die großen ideellen Schranken sind seitdem in der westlichen Welt gänzlich gefallen. Man kann zwar immer noch Leute mit atonaler Musik ärgern, dass das aber ein historisches Stelldichein darstellt, dessen Fronten stehengeblieben sind, hat sich herumgesprochen.

Im 20. Jahrhundert wurden, nach dem Wegfall der alten Eingrenzungen wie der Tonalität, der Zentralperspektive oder des Reimschemas, praktisch alle existenten ästhetischen Bereiche der menschlichen Wahrnehmung ausgelotet. Ein weiterer Fortschritt hängt darum sicher zu einem Gutteil am materiellen, technischen Fortschritt, der weiteres Terrain eröffnet. Es gibt eine neue Musik nur in einer neuen Gesellschaft, so das Diktum Hanns Eislers; heute können wir feststellen, dass die bewegendste Innovationskraft der Gesellschaft Technik ist. Man überlege einmal, wieviel Lebenszeit man an einem neuen technischen Gerät wie dem Computer verbringt. Marx korrigierend ist nicht nur die ökonomische, sondern auch die technologische Situation zuhöchst normativ, denn heutige Technologie kann auch von ökonomisch Schwachen besessen werden. Technologie wird für die Kunst des 21. Jahrhunderts – auch wenn in der Kunst schwer etwas verallgemeinerbar ist – von eminenter Bedeutung sein. Man kann beispielsweise beobachten, wie allmählich Computerspiele im Feuilleton Einzug halten, wie überhaupt das allgemeine Interesse an künstlerischer Verarbeitung der medialen Umbrüche groß ist. Aber auch ganz allgemein ist die Technologie der aussichtsreichste Ausweg aus dem Ende der Geschichte. Vielleicht wird man einmal, dank Gentechnik oder cognitive computing, einen IQ von 150 als ‚geistig behindert’ einstufen und unsere Zeit noch der Steinzeit zurechnen.

Die neuen Technologien bringen ein Gefühl der unendlichen Fülle. Diplomatische Enthüllungen gibt es, seit es Diplomatie gibt; die bei Wikileaks erschienenen 251.287 diplomatischen Depeschen, die 76.911 Dokumente über den Afghanistankrieg oder die 391.832 Dokumente aus dem Irak markieren jedoch eine andere Größenordnung. Eine sehr große Zahl an Sinneswahrnehmungen, 3.300 Klänge in zwölf Minuten abgespielt, ist eine Erfahrung unzählbarer, sinnlich so gut wie unendlicher Quantität. Auf das mutmaßliche Ende der großen Erzählungen folgen große Zählungen.

Die großen Quantitäten, die riesige materiale Steigerung, können in der Kunstgeschichte verfolgt werden.[1] Die Goldbergvariationen von Bach umfassen 32 Variationen, Beethoven setzte mit den Diabellivariationen eine drauf (33), Enno Poppe schrieb 1997 Thema mit 840 Variationen. Die historische Avantgarde spürte das Potenzial der Zahl, Messiaen schrieb ein Orgelstück mit dem Titel 64 Durées, Andy Warhol titelte: Thirty are better than one, gemeint war die Vervielfältigung der Mona Lisa. Karlheinz Stockhausen vollbrachte den technisch-avantgardistischen Superlativ, indem er ein Streichquartett in Helikoptern spielen ließ; Christoph Schlingensief titelte in großen Quantitäten: Talk 2000, U 3000. Mit der offenen Form eröffneten sich gigantische Kombinationsmöglichkeiten, etwa bei Raymond Queneaus Hunderttausend Milliarden Gedichten (1961). Die Gegenwart nun erstrahlt in kolossalen Ansammlungen, Gerhard Richter bestückt den Kölner Dom mit 11.500 Farbquadraten, Thomas Hirschhorn gestaltet Räume mit hypertrophen Installationen aus, Kim Asendorf generiert Bilder aus 100.000.000 stolen pixels, Ai Weiwei stellt Millionen Sonnenblumenkerne aus oder veröffentlicht auf seinem Blog Hunderttausende Fotos, Spencer Turick fotografiert riesige nackte Menschenmassen, ich habe 2008 ein Stück mit 70.200 Fremdzitaten komponiert und mit ebensovielen Formularen bei der GEMA angemeldet; Arno Lücker hat sämtliche Trompetenstellen aus Brucknersymphonien kompiliert; Wolfgang Rihms Riesenoeuvre, Brian Ferneyhoughs Komplexismus, Damien Hirsts Superpreise – es ist das „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm), der überbordenden Möglichkeiten durch heutige Produktionsmittel (und freilich ist es auch das Zeitalter des Turbokapitalismus). Die sinnliche Qualität einer großen Zahl wie 11.500 Farbquadraten ist qualitativ kaum überbietbar; ein Musikstück mit 80.200 Zitaten wäre keine ästhetische Steigerung mehr.

Man könnte diese Tendenz „Hypermoderne“ nennen, einen letzten Akt des Materialfortschritts. Der Begriff kursiert sporadisch. Braucht es überhaupt ein neues Wort? Es soll hier keine neue Epoche ausgerufen werden. „Hypermoderne“ ist eher ein Gattungsbegriff; die Postmoderne gilt, wie gesagt, in Aspekten schonungslos weiter. „Hyper-„ ist eine der Ableitungsvokabeln, wie „post-“, „trans-“, „cyber-„ oder „meta-“, die die Zeit nach der Moderne kennzeichnen. Die Dinge wachsen technikbedingt über sich hinaus, man gewärtigt ihre Größe in Bezug aufs vorherige.

Eine zweite, typische Tendenz in der Kunst ist die der technischen Aktualisierungen alter Werke, namentlich der historischen Avantgarde. Es wird dezidiert auf ein bestehendes Werk Bezug genommen, pointilistisch eine Tradition selektiert und in das neue Sehen und Hören der neuen Zeit übersetzt; die „Postmodernisierung moderner Kunst“ (Lyotard). Auch ist es das ehrliche Eingeständnis, dass mehr an Innovation als diese Updates nicht möglich ist. Wenn es neue Technik gibt, muss es logischerweise auch eine neue Avantgarde geben – aber davon spricht niemand, denn in gleichem oder größerem Maße ist auch die Präsenz der Vergangenheit gewachsen. Immerhin wird aber gerade an dem Rückgriff ein Grad von Neuheit ablesbar.

Shawn Feeny hat Cornelius Cardews Klassiker der grafischen Notation, Treatise von 1967, mit Sinustönen in einem rasanten Video ausgelesen; Giorgio Sancristoforo programmierte Franco Evangelistis Incontri di fasce sonore von 1957 neu, ebenso Thomas Hummel John Cages Variations I von 1958 oder Karlheinz Essel Cages Fontana Mix von ’58. Eva und Franco Mattes stellten in „Second Life“ Performance-Klassiker wie Marina Abramovićs Imponderabilia (1977), Valie Exports Tast- und Tappkino (1968) oder gar Joseph Beuys’ 7000 Eichen (1982) nach, Sascha Lobo hat auf Facebook Molly Blooms Stream of Consciousness aus James Joyce’ Ulysses von 1922 in einen Online-Nachrichtenstream gesetzt; Cory Arcangel schnitt eine große Menge an YouTube-Videos, in den Katzen über Klaviertasten stolzieren, zu Schönbergs Klavierstücken Op.11 von 1908 zusammen; George Manak hat aus dem Schnipsel eines Hollywood-Films Steve Reichs Clapping Music von 1972 re-arrangiert; Patrick Liddell realisierte Alvin Luciers I am sitting in a Room von 1969 mithilfe der Kompressionsalgorithmen von YouTube, wo er die Aufnahme tausend mal hochlud und wieder rippte. Nick Collins hat Iannis Xenakis’ Gendyn-Synthesizer aus den 80ern auf das iPhone übertragen, Piet Mondrians oder Jackson Pollocks Stil werden mittlerweile von Dutzenden Programmen algorithmisch beherrscht. Changha Whang malt supermondrianeske Bilder, das Berliner Laptoporchester spielt regelmäßig Terry Rileys Minimalklassiker von 1964 In C, Trond Reynholdtsen inszenierte 2010 in Darmstadt John Cages Darmstadt-Lecture von 1954 nach, ich habe Brian Ferneyhoughs Zweites Streichquartett von 1982 in die Popkompositionssoftware „Band in a Box“ eingespeist und Schönbergs Pierrot Lunaire (1913) von einem Autonavigationsgerät sprechen lassen oder Ravels Bolero (1928) als Prinzip auf eine Szene aus dem Film Der Untergang angewandt; Manuel Schmalstieg und Kim Xupei sind die Autofahrt aus Andrej Tarkowskijs Solaris (1972) auf Google Street View nachgefahren. John Cages Klassiker von 1952 4’33’’ erfuhr bereits etliche Re-enactments: Dick Whyte mixte etliche vorhande Aufführungen des Stückes, die als Video auf YouTube verfügbar sind, zu einem Stille-Mashup zusammen, Matthew Reid hat eine Stille-Aufnahme durch die Intonationskorrektur von „AutoTune“ gejagt; ich habe via Splitscreen das Stück in sechzehn simultane Teile dividiert. Diese Liste, mit Werken allesamt aus den letzten Jahren, wird in Zukunft wachsen.

Die Beispiele zeigen: Innovation bringt Retrospektion. Das Rad wird ja nicht neu erfunden, wir leben im Zeitalter der regenerativen Energien. Immer wird man sich auf Pioniere wie Galilei berufen, wenn man etwa ein neues Navigationssystem „Galileo“ tauft. Elementare atonal-ästhetische Strategien wie Stille, Rekursion oder Phasenverschiebung sind da, aber erfahren im Digitalen neue Anwendungsmöglichkeiten, anhand neu verfügbarer Materialien in großer Menge. Das Suffix „2.0“ ist der Zeitgeist.

In vielen der genannten Beispiele stecken die zwei Aspekte, der Hybrid aus altem Werk und neuer Darstellung, und die großen Quantitäten, collagiert. Die Stücke sind „Hyper-Hybride“.[2]

 


[1] Vgl. Johannes Kreidler, Kunst im Netz: große Quantitäten, Vortrag im Rahmen von Der Kongress bloggt am 12.2.2011. http://youtu.be/ySu-Au0SF_M, recherchiert am 30.8.2011.

[2] Auch in der Popmusik zeichnet sich das Phänomen ab: „Vor allem aber ist das zurückliegende Jahrzehnt durch eine ungeheure Ausbreitung der musikalischen Archive gekennzeichnet gewesen. Spätestens seit dem Siegeszug von YouTube in den letzten fünf Jahren mit den Myriaden der dort hochgeladenen Videos und Songs ist jedwede Musik aus jedweder Epoche jederzeit für jeden verfügbar geworden. So hat sich der gesamte Pop aus dem Kontinuum der historischen Entwicklung gelöst und ist in eine universelle Gegenwart getreten: eine Gegenwart freilich, die nicht mehr in freudiger Erwartung zukünftiger Innovationen erzittert, sondern die sich ganz an der Vergegenwärtigung von Vergangenem erfreut.“ Jens Balzer, Zurück in die Zukunft, in: Frankfurter Rundschau vom 4.7.2011, http://bit.ly/rpjfck, recherchiert am 30.8.2011. Vgl. Dazu auch: Simon Reynolds, Retromania. Pop Culture’s Addiction to Its Own Past, London/New York 2011.

Kreidler @ Wozu Musik? Dresden

Heute findet ab 10h an der Musikhochschule Dresden das Symposium „Wozu Musik? Über Daseinsformen (und die Daseinsberechtigung) des heutigen Komponierens“ des Instituts für Neue Musik der Hochschule für Musik Dresden und der Sächsischen Akademie der Künste, im Rahmen von KlangNetz Dresden statt. Ich werde dort den Vortrag „Motivisch-thematische Arbeit. Über Motivation von Komponisten“ halten.

Wer mit Musik intensiv zu tun hat, weiß um deren Unverzichtbarkeit. Andererseits deutet im heutigen Kulturbetrieb manches darauf hin, dass es eher um die (kommerziell nutzbare) Wiederholung des Immergleichen und weniger um die Entdeckung des Ungewohnten geht. Wird die Musik dadurch die Musik, auch die „klassische“, weithin zu dem degradiert, was schon Richard Wagner seinen Zeitgenossen kritisch vorhielt: zur bloßen Unterhaltung der Gelangweilten? Das Symposion will nicht in erster Linie eine „Klagemauer“ errichten, sondern eher danach fragen, worin die Faszinationskraft und die Entfaltungswege jener Erfahrungen und Ausdrucksmöglichkeiten liegen können, die wir mit heute komponierter Musik (unterschiedlichster stilistischer Ausrichtung) verbinden.

10:00 Begrüßung
Peter Gülke Präsident der Sächsischen Akademie der
Künste/Ehrendoktor der Hochschule für Musik Dresden
Einführung
Musik wozu? Und warum sich diese Frage
überhaupt stellt.
Jörn Peter Hiekel Dresden
10:30 Vom Verschwinden der Musik und anderer
Habseligkeiten. Ein diagnostischer Versuch über
gesellschaftliches Wohlbefinden.
Referent: Wilfried Krätzschmar Dresden
11:15 Pause
11:30 Ideologie als „Reduplikation dessen, was
ohnehin ist“ (Adorno). Auseinandersetzungen um
Neue Musik und was wir (nicht nur in Portugal)
daraus lernen können.
Referent: Mario Viera de Cavalho Lissabon
12:15 Wozu Musik wozu!? Von den Bedingungen der
Aufführung und den Bedingungen der Bedingungen
Referent: Manos Tsangaris Dresden
13:00 Mittagspause
14:30 57 Jahre danach. John Cage und die Folgen
Referent: Max Nyffeler München
15:15 Motivisch-thematische Arbeit. Über Motivation von
Komponisten
Referent: Johannes Kreidler Berlin
16:15-17:30
Musik wozu? Ein Roundtable
Mit Paul-Heinz Dittrich Zeuthen, Brigitta Muntendorf Köln,
Anette Schlünz Kehl und Sergej Newski Moskau

Mittwoch, 23.11.2011, 10-18 Uhr,

Hochschule für Musik Dresden, Wettiner Platz 13, 01067 Dresden, www.hfmdd.de

Kleiner Saal (Eingang: Haupteingang HfM Wettiner Platz)

Fläche = Einwohner

Witzige / interessante Grafik: Wenn die Länder dieser Erde entsprechend ihrer Flächengröße mit Völkern bewohnt wären. Hier in groß.

Studenten stellen berühmte Gemälde nach

Das Blog BOOOOOOOM! ruft zum Re-Enactment von Klassikern der Kunstgeschichte auf.

Kurz vor seinem Tod hat Martin Kippenberger Szenen des Bildes Das Floß der Medusa von Géricault sehr ergreifend nachgestellt und die Fotos dann wiederum gemalt. Das Schicksal der Ertrinkenden ereilte ihn bald darauf: Er starb an seinem Alkoholismus.

Früher habe ich in der Nähe des Straßenstrichs von Berlin gewohnt. Da hat man manchmal im Vorbeigehen einen leibhaftigen Otto Dix sehen können.

Kreidler @FH Furtwangen

Heute um 14h mache ich eine Präsentation eigener Arbeiten an der FH Furtwangen, Abteilung Medien. Anwesenheitspflicht für alle südschwarzwälder Kulturtechnoleser!

Occupy: Demonstrationsroboter

Letztes Jahr habe ich in Esslingen eine Roboterdemonstration durchgeführt (siehe unten) – die Maschinen werden Zukunft nicht nur die Arbeit übernehmen, sondern auch den Arbeitskampf.
Ähnlich das Konzept des OCCU(PI) Bot von Randy Sarafan, der aus aktuellem Anlass über die Wall Street rollt.

Learning from the lessons of the 1%, I set forth to outsource our occupy-related labor to a robotic workforce. Robots obviously have many advantages over their human counterparts. For instance, robots never get tired, they don’t get cold, they don’t sleep, nor eat, don’t require tents, and when armed insurrection becomes necessary, robots are much more morally ambivalent. Additionally, we had a discussion with an unnamed member of the San Francisco police force and they confided in us that the police currently do not have any plan for dealing with robotic occupiers.

For all of those reasons and more, I present to you Occu(pi) Bot; the first in a promising line of tireless, unstoppable, robotic class warriors.

(via F.A.T.)

Das totale Archiv (10): Designformen des totalen Archivs

Zur Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der neunte Teil ging dem Umstand nach, dass die Collage, jetzt erst Recht, die Form der Gegenwart und Zukunft ist. Ehe der elfte Teil Kunst des totalen Archivs benennt, besprechen wir jetzt Designformen des totalen Archivs.

 

10. Designformen des totalen Archivs

Die Informationsfülle braucht in den verschiedenen Bereichen designerische Lösungen. Es ist aufschlussreich, einmal dort zu schauen, wo am meisten Geld für Designer ausgegeben wird – bei den Technologieriesen. Firmen wie Apple oder Google haben Antworten auf die informatorische Komplexität gefunden. Das Erfolgsgeheimnis von Apple war und ist es, komplizierte Hard- und Software in blitzblankes Design und genial-intuitive Bedienbarkeit zu packen,[1] ebenso wie Google mit seinem einfachen Suchschlitz.

Wenn auch das totale Archiv erdrücken mag, materiell schafft es riesigen Freiraum. Die Bibliotheken können geräumt werden, weil ihre Bücher auf Datenträger einmagnetisiert sind. Merkwürdig leer steht die Eingangshalle der Berliner Staatsbibliothek da – der Architekt Hans Scharoun sah sie für die heute entbehrlichen Karteikästen vor. Die Oberflächen werden sauber.

David Shields hat es vorexerziert: Sein Buch Reality Hunger ist gespickt mit Zitaten, aber  keines ist im Fließtext gekennzeichnet, jedes Zitat ist sein Zitat, er hat es gefunden und platziert, wozu gehört, dass er nach Gutdünken umformuliert, kürzt und addiert. Es braucht kaum noch gesagt zu werden: Die Urheber ließen sich ja bei Interesse googeln. Auf dem E-Reader befindet man sich mit einem Klick neben dem Text in den Untiefen des totalen Archivs; aber darum lässt man’s oben besser aufgeräumt. Das ist Google-Design;  Minimalismus ist das designerische Gebot der Stunde. Und in der Musik weicht das zelebröse Schallplatten- und CD-Album der lieblosen Anhäufung tausender Musikstücke auf einem mikroskopischen Datenträger; dem begegnet Apple mit der polierten Oberfläche des iPods und seinem coolem Markenimage.

Man kann durchaus bedauern, dass statt dem ganzen Album einzelne Musiktitel ausgewählt werden. Ein großer Wert der Kunst ist, dass sich Erfahrungen erzwingen lassen, überhaupt Qualitäten der Zeitgestaltung möglich werden, wenn der Zuschauer im Theater quasi eingesperrt ist. Die Technologien der Individualzeit machen es time-based-media schwer. Links müssen ferngehalten werden, für einen Moment gilt es, einen harten Rahmen zu schaffen – YouTube auf Vollbild und Stuhl einen Meter weg von Maus und Tastatur! Die Fernsehpassivität war besser als ihr Ruf, wie sich im Nachhinein zeigt. Aber die Zunahme von Interaktivität und Optionalität ist nicht aufzuhalten. Im Einzelfall erfordert es gewiss Strategien der Abgrenzung, doch ist andererseits Durchlässigkeit Pflicht.

Ein Modell für Interaktivität wäre, dass der Grad der Komplexität frei zu wählen ist (aber das eine auf das andere neugierig macht). Die Collage verläuft vertikal: Man kann sich mit der Oberfläche des Betriebssystems zufrieden geben, eigene Icons wählen oder bis tief in den Code sich alles nach eigenen Wünschen modifizieren. So ist heute auch ein Buch umgeben von Videos, Zusammenfassungen, Interviews mit dem Autor, selbstverständlich dem Hörbuch, es gibt Lesungen und Sekundärtexte. Nur ein Polywerk ist noch ein Werk. Der Komponist Patrick Frank gruppiert zu seinen musikalischen Arbeiten Annoncen, Filme, Texte, Websites und ganze Bücher und Symposien. Der Pluralismus muss sich nicht in ein und demselben Werk realisieren, sondern geht heute eher in einem Medienbündel von mehreren Einheiten auf; nicht Multimedia, sondern Polymedia. Vielleicht verschwimmt dann sogar der Punkt, von dem aus die Kreise zu ziehen begannen. Statt eines evidenten Zentrums transzendiert ein Konzept heraus, und der Trailer ist schon der Film. Entsprechend teilt sich die Rezeption: Jonathan Meese schreibt zu jedem Werk ein Manifest, und manche schätzen diese oder den Performer Meese mehr als die bildnerischen Objekte, andere just umgekehrt.

Logischerweise ist die Gegenbewegung, ein umso fein säuberlicher abgegrenztes Werk in Einzelmedium dann ebenso denkbar, und tritt prompt bei Apple auf: die App, das vehement nach außen abgedichtete Einzelprogramm. Aber den Charakter des Überheblichen oder Solipsistischen, und in Apples Fall des Proprietär-Gewaltsamen, bekommt es unweigerlich, so wie ein reiner Textvortrag ohne PowerPoint heute halbgar anmutet, bestenfalls ausgewiesen insulär. Die Subtexte des totalen Archivs liegen immer dicht darunter. Eine bare Authentizität und konzentrierte Monomedialität mag man sich zwar zuweilen wünschen, aber wir leben irreversibel im Zeitalter der digitalen Auffächerung. Dort ist Virginität wohl Sünde.

 


[1] Dazu: Falk Lüke, Der mit dem Apfel, in: taz vom 26.8.2011, http://bit.ly/ovBWJr, recherchiert am 30.8.2011.

Laptop als Instrument? @SWR2

Heute Nacht sendet SWR 2 die „Lange Nacht des Experimentalstudios“. Darin um 2h die Übertragung der Podiumsdiskussion „Laptop als Instrument?“ vom 31.5.2011 (Kulturtechno berichtete). Die Nachteulen erwartet eine lebhafte Diskussion („Der Kreidler wollte mich erschießen!!“ soll André Richard später gesagt haben. – Wollte ich gewiss nicht.).

SWR2 Die lange Nacht des Experimentalstudios

40 Jahre Experimentalstudio des SWR

02:00 – 03:00

„Laptop als Instrument?“

matrix11 Roundtable
Mit Daniel Peter Biró, Orm Finnendahl, Johannes Kreidler und André Richard
Moderation: Björn Gottstein

http://www.swr.de/swr2/programm/-/id=661104/nid=661104/did=8711530/k3bnoi/index.html

Livestrom:
http://mp3-live.swr.de/swr2_m.m3u

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Das meint der Kulturtechno-Karikaturist dazu:

Das totale Archiv (9): Die Collage ist, jetzt erst recht, die Form der Zukunft

Zur Zeit bringe ich hier in insgesamt zwölf Teilen den Text “Das totale Archiv” als Blog-Version. Der achte Teil befasste sich mit der zunehmenden Präsenz geschichtlicher Dokumente, ergo der Geschichte. Der neunte Teil beschreibt eine der Konsequenzen daraus.

 

9. Die Collage ist, jetzt erst recht, die Form der Zukunft

Die Erdoberfläche ist begrenzt, nicht hingegen die digitalen Archive. Was sind die sieben Kontinente gegen das digitale Universum? Was ist das eigene Leben gegen das Panoptikum der Geschichte? Im Verhältnis zur Gegenwart wird die archivierte Vergangenheit immer mächtiger und immer präsenter.

Das totale Archiv ist allerdings auch die totale Amnesie, denn alles ist immer nur winziges Fragment aus einem unfassbaren Großen, so wie selbst tausend Jahre kosmologisch noch ein Winziges sind. Jede Recherche ist Glückssache, jede Geschichtskonstruktion willkürlich. Soll man da überhaupt noch das Mögliche unternehmen und sich informieren? Das totale Archiv ist auch die totale Naivität, der Horizont ist weggewischt.[1] Theoretisch war das immer so, Unendlichkeit war immer  – „Ich weiß dass ich nichts weiß“ sprach schon Sokrates, und Napoleon sekundierte: „Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat.“ Dennoch hat man seitdem viel zu wissen gemeint und mit großen Worten Geschichte geschrieben. Die Praxis arrangierte sich, pragmatische Lösungen gab es, Verdrängung funktionierte und Autoritäten schufen Gesetze. Nun aber wird die Unendlichkeit materiell und demokratisch, auf Festplatten und Displays in jeder Hosentasche, unleugbar. Und was sind wir blutjung, wie übersichtlich ist alles noch!

In Jorge Luis Borges’ Erzählung Der Kongress droht die Repräsentation der Menschheit mit der Menschheit selbst identisch zu werden. In dem Moment, in dem das erkannt wird, beraumt man die Vernichtung der Repräsentation an, eine gewaltige Verbrennung – doch die Idee ist in der Welt und somit schon unzerstörbar. In der Bibel verhindert Gott den Bau des Turms zu Babel, indem er die Sprachenvielfalt schafft, die Verwirrung der Menschen durch Komplexität. Der neue Turm ist jedoch eben diese Komplexität. Die Dystopien waren wenigstens überhaupt eine Perspektive, beide, religiöse wie säkulare Apokalypse, übten nötige Reduktionen von Komplexität. Nun bleibt die Abschaltung, ja, Zerstörung der Archive literarische Fiktion. Symbolisch wird sie aber sicher immer wieder praktiziert werden. Jedes „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ ist eine solche.

Wir wissen: Es ist irreversibel. Die Archive wuchern ins Exorbitante, jede Aktion ist, nun nachweisbar, die differente Wiederholung eines bereits Gewesenen. Auch der letzte technologische Schrei ist ein Echo. Kaum hat man einen neu erworbenen Computer aus dem Laden getragen, ist er schon veraltet – man lebt immer in der Vergangenheit. Die postmoderne Diagnose, dass wir also jetzt Re-enactmens, Re-Mixes, Aktualisierungen statt des Neuen beziehungsweise als Neues produzieren, sie gilt weiterhin, sie gilt mehr denn je, sie gilt für immer. Wie sollte dies auch überwunden werden? Die Unschuld ist verloren. Was auch immer für neue Epochen kommen, ein wesentliches Moment der Postmoderne, ob ironisch oder nicht, wird in ihnen bestehen bleiben.

2010 erschien David Shields Buch Reality Hunger,[2] ein Manifest der Collage. Shields zerlegt den Realitätsbegriff, kritisiert die Romanform und plädiert für ein freizügigeres Urheberrecht. Über 600 kurze Abschnitte, oft Zitate, montiert der Autor. (Nur zähneknirschend führt er auf Druck des Verlags hinten Quellennachweise an.[3]) Ein Werk ist heute vor allem die gigantische Lektüreleistung, die ihm vorausgeht. Das Feuilleton war gespalten: Verwundert fragte ein Schweizer Rezensent, ob es denn in Amerika keine Postmoderne gegeben hätte. Natürlich hat sie das, aber sowenig man fragen kann, was denn nach Monarchie und Demokratie als nächstes kommt, kann man mit Blick auf den Kalender nun erwarten, dass die Postmoderne vorüber sein müsse. Auch wenn es die oben genannten Ermüdungserscheinungen und Gegenströmungen gibt, zeigt sich bei der Digitalisierung, dass sie zwar eine Medienrevolution darstellt, aber bislang nicht so sehr eine neue Epoche begründet, als dass sie postmoderne Phänomene, voran den Pluralismus, noch potenziert. So gesehen waren die 80er und 90er erst prä-postmodern. Bei allen Fachdiskussionen um Moderne, Postmoderne, reflexive Moderne oder zweite Moderne sollte man auch respektieren, dass im Alltag für die gegenwärtige Situation mittlerweile ein unprätentiöser Postmoderne-Begriff gebräuchlich ist.

Die heutigen Technologien sind immer auch Speichermedien, und sie speichern nie einfach nur den einen Vorgang, den man eingibt, sondern auch Kontext und Geschichte, so wie praktisch jedes Foto auch ein Zitat von Dingen beinhaltet. Die Datei hat nicht nur einen Inhalt, sondern auch eine Form, die der benutzten Software; und in Zeiten der digitalen Vernetzung ist jedes Zeichen ein potentieller Link ins totale Archiv, jede Datei ist ‚soft’. Man ist heute sensibilisiert genug, im Speichervorgang schon einen Remix zu erkennen. Und da heute also Paneklektizismus ist, ist es müßig, noch von Eklektizismus zu sprechen. Die postmodernen Techniken werden Standard, darum braucht es dafür eigentlich kein Manifest mehr. So ist die Collage nicht mehr nur Kunstform, sondern ein ubiquitäres Prinzip, seien es Wikipedia-Artikel, Schönheitsoperationen und Genderattribute, modulare Möbel, die Mischkalkulation prekärer Arbeitsverhältnisse, Patchwork-Familien, die Multikulti-Gesellschaft oder Lebensphilosophien.

Collage, Assemblage, Musique concrète, Bricolage, Pastiche, Cover-Version, Intertextualität, Remix, Sampling, Appropriation Art, Bastard Pop, Patch-Work, Mash-Up – man kann die Idee als alten Hut abtun (wie man ja auch immer mehr in alten Werken, zum Beispiel der Zauberflöte, eine Collage erkennt), und doch, ob man will oder nicht, ist sie das Signum des Internetzeitalters, seine typischste Form. Gottfried Benns Aussage, „Die Kunst der Zukunft wird die Collage sein“, war weitsichtiger, als man dachte.

 


[1] Chris Anderson vom Wired Magazine spricht vom „Petabyte Age“, dessen Datenmassen nur noch mit sehr selbständig arbeitenden (und nicht mehr durchschaubaren) Algorithmen bewältigt werden können. Er kündet daher das Ende der Wissenschaft in der uns bekannten Form an. Chris Anderson, The End of Theory – Will the Data Deluge Makes the Scientific Method Obsolete? In: Edge vom 30.6.2008, http://bit.ly/S0Xq, recherchiert am 30.8.2011.

[2] David Shields, Reality Hunger, München 2011.

[3] Was vielleicht aber auch nur von Shields so dargestellt wird.