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Die Ex-negativo-Krankheit

Das ist ein Appell an die Musikpublizistik.

Sehr oft lese ich (oder höre ich in Radiosendungen) die Ex-negativo-Rhetorik. Als nur ein Beispiel (es findet sich aber wirklich in SEHR VIELEN journalistischen Texten über Musik derlei) in der De:Bug, worin das Klangkunstprojekt „Tweetscapes“ beschrieben wird:

Es sind sonische Artefakte, die sich nicht in selbstgefälliger Esoterik an Traditionen der Verfeinerung und Zerebralisierung abendländischer Großkunst laben. Das Oberlehrerhafte geht dieser Klangkunst völlig ab.

Wovon will sich der Autor (Holger Schulze) hier abgrenzen? Wer ist es denn, der sich in selbstgefälliger Esoterik an Traditionen der Verfeinerung und Zerebralisierung labt, wo ist die oberlehrerhafte Klangkunst, von der der Autor klarstellen möchte, dass sein besprochenes Werk sie auf jeden Fall NICHT ist? Wieso nennt er keine Namen?
Wahrscheinlich, weil es diesen Pappkameraden, diesen esoterischen Oberlehrerdeppen in Natura gar nicht gibt, sondern nur in der Imagination von Herrn Schulze. Herr Schulze leidet an der (sehr verbreiteten) Ex-negativo-Krankheit, genauer gesagt an der Phantom-Ex-negativo-Krankheit.

Zugegeben litt auch ich früher bisweilen an der Krankheit, eine Erbkrankheit. Aber ich sehe, dass es unproduktiv ist und verklemmt – Kritik, aber bloß nicht jemandem zu nahe treten. Doch irgendwann ist es überwunden mit Abgrenzung und Formulierung von lapidaren Gegensätzen, bei denen auf der einen Seite ein idealtypisches jämmerliches, anonymes Scheißding steht und auf der anderen Seite das konkrete, glänzende Gute. Jeder kann komponieren, was er will, kritisiert werden können nur die, die öffentliches Geld dafür ausgeben. Das ist aber eine eigene Baustelle.

Ich kann mir schon denken, wen Herr Schulze meint: Die Neue Musik bzw. manche ihrer prominenten Vertreter. Aber eine namentliche Auseinandersetzung wagt er dann doch nicht, haut lieber auf den Pappkameraden ein. Nur da funktioniert das Ex-negativo-Prinzip nämlich.

Ihr Musikjournalisten, die ihr Besprechungen schreibt und Radiosendungen macht: Hört, wenigstens mal versuchsweise, auf, mit der Ex-negativo-Rhetorik Zeilen zu füllen und Sendeminuten zu verheizen. Der Erklärungswert dieser Aussagen ist sehr gering und die Methode lässt Niveau vermissen, sie ist einfach nicht zeitgemäß dem postmodernen Pluralisms. Differenzen statt Gegensätze – aber das ist eben viel aufwändiger. Und wenn schon Opposition (bedenkt: „Wenige sind wert, dass man ihnen widerspricht“), dann immer konkret Namen nennen. Aber ihr werdet sehen, wie gut man darauf verzichten kann.

Kreidler @belgisches Radio

Im belgischen Radiosender Musiq3 kommt heute eine Sendung über die „belgische Welle“ in Darmstadt. Die Sendung ist auf französisch und kann noch ein Monat lang online gehört werden.

Une vague belge à Darmstadt !

Reportage aux 46e „Internationale Ferienkurze für Neue Musik Darmstadt“

Laboratoire de l’Avant-Garde musicale de l’après guerre, les cours d’été de Darmstadt fondés en 1946 ne sont pas qu’une référence historique! La 46e édition qui s’est tenue en juillet dernier confirme même l’intérêt renouvelé de ces rencontres internationales des professionnels de la musique contemporaine depuis l’arrivée de Thomas Schäfer à la direction artistique en 2009. Parmi les 400 participants, de nombreux jeunes interprètes et compositeurs venus d’horizons divers, et parmi eux, une belle brochette de musiciens de chez nous. Thomas Schäfer le reconnaît volontiers: on peut parler d’une „belgian wave“ à Darmstadt“!

John CAGE / David TUDOR – ‚Indeterminacy‘: extrait. John Cage – David Tudor. Smithsonian Folkways.

John Zorn / John Cage – ‚Caged / Uncaged‘: extraits. Cramps.

Tristan MURAIL – Tellur: extraits. Marc-Olivier Lamontagne, guitare. enr. livre „open space Darmstadt“.

Raphaël CENDO – Faction: extraits. Jona Kesteleyn, guitare – Elisa Medinilla, piano – Rie Watanabe, percussion. enr. livre „open space Darmstadt“.

Georges APERGHIS – Volte-face: extrait. Geneviève Strosser, alto. Kairos.

Georges APERGHIS – La Nuit en Tête: extraits. DissonArt ensemble. Dissonance.

Dimitri PAPAGEORGIOU – Effluences . DissonArt ensemble. enr. répétition – Darmstadt „Ensemble 2012“.

Panayiotis KOKORAS – Braided Fractures: extraits. DissonArt ensemble. Dissonance.

Stefan PRINS – Fremdkörper #1: extraits. Nadar Ensemble. Sub Rosa.

Johannes KREIDLER – Die „sich sammelnde Erfahrung“ (Benn): der Ton: extraits. Nadar Ensemble. http://www.youtube.com/watch?v=89WAOif_WEc.

Stefan PRINS – Fremdkörper #2: extrait. Nikel Ensemble. Sub Rosa.

Stefan PRINS – Infiltrationen: extrait. Zwerm. Sub Rosa.

Bernd Alois ZIMMERMANN – Présence: extrait. Ensemble Recherche.

Production et présentation : Anne MATTHEEUWS

Réalisation : Bastien HIDALGO-RUIZ

http://www.rtbf.be/musiq3/emissions_big-bang?emissionId=2301&date=2012-08-20

Danke für den Tipp, Stefan!

Japanische Großlautsprecher

Diatone war eine auf Lautsprecher spezialisierte Abteilung von Mitsubishi Electric. Die ersten Lautsprecher wurden im Herbst 1945 für den japanischen Radiosender NHK gebaut. Die Abteilung wurde 1999 geschlossen.

(via Glaserei)

Der Fukushima-Sound (demnächst in den Charts?)

US-Wissenschaftler haben die seismischen Daten des Erdbebens in Japan 2011 in den hörbaren Bereich geholt. Hier ist das ganze dokumentiert und anhörbar. Fehlt nur noch das Songsmith-Arrangement.

Tafel: Geschichte der Elektronischen Musik

Wieder mal hat jemand eine Zeittafel mit der Geschichte der Elektronischen Musik erstellt. Natürlich schreibt jeder eine andere Geschichte, und in dem Fall finde ich es ziemlich ungenügend, aber schön ist, dass in einer eigenen Spalte grundsätzlich die relevanten Erfindungen der Zeit gelistet werden.

Früher auf Kulturtechno: Die Geschichte der elektronischen Musik als Facebook-Timeline

John Cage: 10 Rules for Students and Teachers

(via Facebook)

Update: Die Regeln stammen nicht von Cage. (Danke, Chris!)

Darmstadt 2012

Vor zwei Wochen endeten die diesjährigen Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, ich war die ganze Zeit über dabei.

Zwei Tendenzen haben sich für mich gezeigt:
1. Demokratisierung. Der „Open Space“ ist eine wunderbare Angelegenheit und tatsächlich eine Revolution in Darmstadt: Es stehen viele Räumlichkeiten mitsamt Technik, in einem Raum sogar mit einem Flügel, großen Lautsprechern, Mikrofonen und Lichtanlage zur Verfügung, in denen jede(r) seine eigene Präsentation, Lecture, sein kleines Konzert veranstalten kann. Heißt aber auch: Nie wieder wird es in Darmstadt die „großen“ Diskussionen geben, stattdessen Ausdifferenzierung: Jede(r) geht eben zu der Veranstaltung, die ihn/sie interessiert. Ich habe dort viele interessante Sachen erlebt (zB hat einer eine gute Idee vorgestellt, wie man am Laptop die Verteilung von Musikern im Raum darstellen kann) – und leider viele verpasst, von denen mir andere nachher erzählt haben. Und es heißt: Die Darmstadt-Besucher haben es zu einem Gutteil selber in der Hand, Darmstadt attraktiv zu machen (also: Alle Kritiker von außen mögen einfach kommen und es besser machen, die Räume stehen offen).
2. Technisierung. Die Neue Musik wird immer mehr zur Medienkunst; einige Konzerte vor allem der jüngeren Ensemble-Generation setzten auffällig diesen Akzent. Zu nennen wären das Nadar-Konzert, das Besides-Konzert, das Ictus-Konzert, das Exaudi-Konzert, das Konzert von Oslo Sinfonietta und vom Zwerm Quartet. Es wird selbstverständlich bei der neuen Ensemble-Generation und bei den Komponisten, dass anspruchsvollste Technik beherrscht und eingesetzt wird. Schon räumlich war der Unterschied prägnant: die „klassischen“ Konzerte fanden in der barocken Orangerie statt, die „neuen“ (wenn ich so sagen darf) in der modernen Mehrzweckhalle (Centralstation) und im Club (603qm). Ich bin irgendwann gar nicht mehr zu den klassischen Konzerten gegangen, den Berichten nach hat mich mein Bauchgefühl nicht getäuscht.
Auch die Konzertform selbst wandelt sich: Konzerte werden ohne Applausunterbrechungen durchgespielt und dramaturgisch gestaltet; Ictus hat die Stücktitel auf eine Leinwand projiziert (super, ich mochte Programmhefte noch nie). Auch sehr witzig das Konzept von Besides: In den Umbaupausen zwischen den Stücken lief leise Muzak – eine schöne Irritation, das habe ich so noch nie gehört (<- da ist es, das NEUE!!!). Was mir in guter Erinnerung bleibt: Endlich ist Matthew Shlomowitz' Musik auch in Deutschland angekommen, von Joanna Bailie gab es ein schönes Stück und eine schöne Lecture, die Vorträge von Martin Schüttler, Michael Maierhof und Michael Rebhahn setzten Impulse, "Park" von Shila Anaraki und Stefan Prins habe ich leider nicht live gesehen, aber im Open Space die Aufnahme, wo auf jeden Fall zu sehen war, dass es ein frisches Projekt ist, Stücke von Alexander Schubert, Simon Steen-Andersen, Niklas Seidl, Bryn Harrison, Jorge Sanchez-Chiong und Eva Reiter; die Anwesenheit von Jennifer Walshe war inspirierend, die Performances von Matmos waren prima. Ein besonderes Ereignis waren die Orchesterimproviationskonzepte "doppelt bejaht" von Mathias Spahlinger mit einem Berlin Musikerkollektiv. Aber auch die Präsentationen im Open Space vom Decoder-Ensemble oder von Mathias Monrad Møller sind haften geblieben. Leider habe ich auch vom Ictus-Konzert nicht alles mitgekriegt, bin nach der Preisverleihung an der Bar hängengeblieben. Allgemein wurden die Matineekonzerte, in denen drei junge Komponisten einen Alt-Meister interviewten, gelobt (was die NZZ dazu schreibt, ist eine dreiste Unverschämtheit). Ich denke, die Generationenunterschiede sind deutlich geworden, vor allem bei den Diskussionen mit Brian Ferneyhough und Wolfgang Rihm. DeutschlandRadio Kultur wird sie im September ausstrahlen, ich werde darauf hinweisen.

Dann gab es natürlich noch unzählige weitere Veranstaltungen, vor allem im Open Space, die ich nicht mitgekriegt habe – also ist meine Sicht nur einigermaßen ausschnitthaft. Wie immer fanden die interessantesten Gespräche in Darmstadt aber wohl in der Hotelbar nachts zwischen 1 und 5 Uhr statt; ich finde, daran zeigt sich, dass Musik für die Darmstadt-Besucher eine existenzielle Erfahrung ist. In der Nacht vor meinem Vortrag habe ich gar nicht erst versucht, noch zu schlafen – that’s Darmstadt.

Was noch besser sein könnte bei den Kursen, ist die Internetpräsenz; es gibt einige Leute, die nicht vor Ort sind, aber zeitnah gerne etwas erfahren würden. Immer mehr Kongresse und Symposien stellen ihre Vorträge und Veranstaltungen als Video online, das wäre nicht allzu großer Aufwand auch für die Kurse (kann man die Rechtefrage entweder mit der GEMA aushandeln oder, nunja, informell handhaben?). Und wozu gibt es denn die „Schreibwerkstatt“, wenn nicht, um einen Ferienkursblog zu schreiben? Sowieso, da man auch als Kursbesucher zwangsläufig viel verpasst, wäre nachträgliche öffentliche Archivierung wünschenswert (zu dem Thema habe ich mich in der GNM-Diskussion mit Martin Zenck bezüglich der Basler Sacher-Stiftung ordentlich gezofft). Ich hoffe, das wird in Zukunft optimiert. Aber zugegeben ist man während der Kurse so sehr mit Kursbesuch beschäftigt, dass für Internetpublikation kaum Zeit und Ruhe bleibt.

Noch ein Kritikpunkt ist, dass in Darmstadt zwar der Diskurs über „die Neue Musik“ geführt wird, aber gerade die, die institutionell wichtige Entscheidungen fällen, zum Beispiel welche Stücke gespielt werden, also Veranstalter und Ensembles, sich diesem Diskurs nahezu vollständig entziehen, so dass man sich manchmal fragen muss, wozu man eigentlich im Klein-klein der Noten diskutiert, wenn die großen Entscheidungen unbesprochen bleiben. Ich habe das am Ende der Diskussion mit Wolfgang Rihm angesprochen (und darüber früher schon mal hier gebloggt). Mehr Transparenz halte ich für ein Gebot der Stunde.

Soweit meine diesjährigen Darmstadt-Eindrücke. 2014 werde ich wieder dort sein.

Darmstadt: hitzige Auseinandersetzung um den Materialstand (nachgestellt)

Tageslink: Eine Polemik gegen die Institutionen der Neuen Musik

In der Wiener Zeitung steht eine Polemik gegen die Neue Musik, die ich größtenteils unterschreiben kann; vor allem die mediale Situation (alte Instrumente) und die institutionellen Strukturen, die mit Kompositionen gefüttert werden wollen, sind mehr als bedenklich (siehe auch meine Texte Membranmanifest und Institutionen komponieren).

Wie kommt es, dass Musik, deren zentrales Merkmal laut Eigendefinition ihre Neuheit ist, sich zum allergrößten Teil mit Instrumenten und in Konzertsälen des 19. Jahrhunderts ereignet? […] So zeichnet sich Neue Musik heute weniger durch besondere strukturelle Eigenschaften ihrer Werke aus, als vielmehr durch die Entschlossenheit, medientechnisch rückwärtskompatible Musik für bestehende Strukturen wie Konzert- und Opernhäuser, Orchester und Notenverlage zu sein. Um es ein wenig überhöht zu zeichnen, ist Neue Musik eine Bewegung, die sich zwar als streng revolutionär definiert, die sich aufgrund ihrer Glaubensgrundsätze und der Gegebenheiten des Betriebes aber darauf beschränken muss, ihre Revolutionäre bei den Sängerknaben zu rekrutieren, um ihre Schlachten in der Kapuzinergruft zu schlagen.

http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/klassik/479587_Angegraute-Riten-der-Neutoener.html

Eine lange Version steht auf der Website des Autors, Volkmar Klien:
http://www.volkmarklien.com/text/VolkmarKlien_NeueMusikUndDieVerteidigung.pdf

Allerdings unangenehm ist mir mittlerweile die Verallgemeinerung. DIE „Neue Musik“ gibt es nicht (mehr), es gibt unendlich viel an unendlich vielen realen und virtuellen Orten. Es wäre an der Zeit, statt der Verallgemeinerung konkret Namen zu nennen, denn nicht alle Institutionen sind gleich träge, gerade in der letzten Zeit passiert mancher Umbruch. Es soll auch nicht alles Alte abgeschafft werden, aber die Vielfalt, gekoppelt an Innovationsbereitschaft, in allen Bereichen umgesetzt werden. Denn es geht, das wird in dem Text auch deutlich, um öffentliche Gelder; hinter allen ästhetischen Diskussionen stehen Gelddiskussionen.

(via E-Mail)

King’s Size Akkordeon

(via Facebook)

Mein Vortrag „New Conceptualism“

Video des Vortrags vom 27.7.2012, gehalten bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik.

New Conceptualism

In recent years, some composers have excelled in the field of musical concept art. There was a long silence in this area, which, unlike the fine arts, only had a few representatives (mainly John Cage, Alvin Lucier and the Fluxus artists) in the avant-garde period.
There are reasions for the current appearance of the „New Conceptualists“: Firstly, because we are in a late postmodern situation, in which music is more object-like than ever, where the idea of material progress in terms of new sounds is exhausted and a new aesthetics of contents (Harry Lehmann) has been initiated. Secondly, the progress of digitization enables new forms of (multimedia) presentations corresponding with the needs of concept art. Or maybe the internet actually „forces“ conceptual strategies.
This lecture presents relevant compositions and discusses questions of aesthetics, production and reception.

In den letzten Jahren haben sich einige Komponisten im Bereich der musikalischen Konzeptkunst hervorgetan, nachdem es lange still um diese Sparte war, die ohnehin, anders als in der Bildenden Kunst, zu Avantgarde-Zeiten nur wenige Vertreter (hauptsächlich John Cage, Alvin Lucier und die Fluxus-Künstler) vorweisen konnte.
Der jetzige Auftritt der »Neuen Konzeptualisten« hat Gründe: einerseits in einer spät-postmodernen Situation, in der Musik objekthafter denn je ist, weil sich der Materialfortschritt im Sinne neuer Klänge erschöpft und eine gehaltsästhetische Wende (Harry Lehmann) einsetzt; anderseits in der technologischen Entwicklung der Digitalisierung, die andere (multimediale) Präsentationsformen ermöglicht, wie sie die Konzeptkunst braucht – oder vielleicht ›erzwingt‹ das Internet sogar konzeptuelle Strategien.
Der Vortrag gibt einen Überblick über Werke aus dieser Richtung und geht Fragen der Ästhetik, Produktion und Rezeption nach.

http://www.kreidler-net.de/theorie/conceptualism.htm