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Ästhetik der großen Zahl 1

Die Moderne wird gerne als das „Zeitalter der Extreme“ bezeichnet. Ein Beispiel dafür veranschaulicht das Gordon-Theorem, wonach sich die Leistung von Computerprozessoren alle 18 Monate verdoppelt. Dem ist ja beispielsweise mein Stück, das in 33 Sekunden 70.200 Zitate unterbringt, zu verdanken. Vor 10 Jahren wäre das noch nicht möglich gewesen. Die digitale Revolution bringt ein neues Gefühl der Extreme, und ich bin überzeugt, dass sie die Welt noch extrem verändern wird; technologisch leben wir in der Steinzeit.

Natürlich sind die Extreme relativ, und in der Zeit relativ zum früher dagewesenen. Der GEMA-Anmeldebogen rechnet noch mit Sampling in Form von Coverversionen oder von „Thema mit Variationen“.

Sammlung:

Johann Sebastian Bach, Goldbergvariationen: 32 Variationen
Ludwig van Beethoven, Diabellivariationen: 33 Variationen
Enno Poppe: Thema mit 840 Variationen

Gerhard Richter: 4096 Farben

Brian Eno: 77 Million Paintings

Damien Hirst: Totenkopf aus Diamanten, Wert 75 Millionen Euro.

Der Komplexismus Ferneyhoughs.

Als einfache Theorie gesprochen: Masse ist eine starke sinnliche Erfahrung. Die Cheopspyramide wirkt nicht durch sonderliche Schönheit, sondern durch Riesenhaftigkeit. Wusste die Nazi-Architektur allerdings auch zu nutzen.
Als Wahrnehmungspsychologie steckt die Teilbarkeit bzw. Unteilbarkeit dahinter. Sehen wir 4 Äpfel vor uns, denken wir unmittelbar: 4 Äpfel. Sind es aber 7 Äpfel, erfasst man sie nicht mehr auf einen Schlag, sondern in Gruppen, wahrscheinlich 4+3. Ab einer bestimmten Größe geht einem aber jede Möglichkeit einer Unterteilung verloren, und man ordnet die Sache einfach als „sehr groß“ ein. Es gibt ja einige Sprachen, die nur ein paar Zahlen kennen und für alles was darüber liegt „viele“ sagen (ein Indianerstamm in Südamerika anscheinend nur 1, 2 und „viele“). Die Zahl 70.200 habe ich derart konzipiert, dass ich erst mal als technische Möglichkeit bis ca. 100.000 Samples zur Verfügung hatte, den Aufwand für die Formularherstellung bis zu ca. 70.000 als machbar hielt. Eine ganz runde Zahl wäre mir aber zu einfach gewesen, eine ganz komplizierte Zahl hätte man sich wiederum nicht merken können und hätte nach irgend einer Bedeutung ausgesehen; darum der kleine Offset von 200.

Was drücken nun die großen Zahlen aus? Die Erfahrung der Komplexität. Luhmann spricht gerne davon, dass Kommunikation „Komplexität reduziert“. Die Kunst dagegen steigert sie gerne, als Konträrform der Kommunikation. Und die Erfahrung machen wir ständig und immer noch stärker. Eine der wichtigsten Erfahrungen und zugleich die, an der ich am meisten zu knabbern habe, ist die riesige Bibliothek, die Verfügung von massenhafter Information. Diese Bibliothek gab’s schon früher, aber nun durch das Internet erst ist es eine kollektive Erfahrung, und Nietzsches „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ wird wieder aktuell, in der Frage ob die Vergangenheit nicht zum „Totengräber der Gegenwart“ wird. (Der Extremfall wäre, dass in der Gegenwart Vergangenheit generiert würde; manchmal denke ich, der Vietnamkrieg wurde von der Filmindustrie initiiert. Demnach was sie daran an Stoff gewann ist sie, womöglich vor der Waffenindustrie, der größte Kriegsgewinnler. )