Skip to content
 

Darmstadt 2012

Vor zwei Wochen endeten die diesjährigen Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, ich war die ganze Zeit über dabei.

Zwei Tendenzen haben sich für mich gezeigt:
1. Demokratisierung. Der „Open Space“ ist eine wunderbare Angelegenheit und tatsächlich eine Revolution in Darmstadt: Es stehen viele Räumlichkeiten mitsamt Technik, in einem Raum sogar mit einem Flügel, großen Lautsprechern, Mikrofonen und Lichtanlage zur Verfügung, in denen jede(r) seine eigene Präsentation, Lecture, sein kleines Konzert veranstalten kann. Heißt aber auch: Nie wieder wird es in Darmstadt die „großen“ Diskussionen geben, stattdessen Ausdifferenzierung: Jede(r) geht eben zu der Veranstaltung, die ihn/sie interessiert. Ich habe dort viele interessante Sachen erlebt (zB hat einer eine gute Idee vorgestellt, wie man am Laptop die Verteilung von Musikern im Raum darstellen kann) – und leider viele verpasst, von denen mir andere nachher erzählt haben. Und es heißt: Die Darmstadt-Besucher haben es zu einem Gutteil selber in der Hand, Darmstadt attraktiv zu machen (also: Alle Kritiker von außen mögen einfach kommen und es besser machen, die Räume stehen offen).
2. Technisierung. Die Neue Musik wird immer mehr zur Medienkunst; einige Konzerte vor allem der jüngeren Ensemble-Generation setzten auffällig diesen Akzent. Zu nennen wären das Nadar-Konzert, das Besides-Konzert, das Ictus-Konzert, das Exaudi-Konzert, das Konzert von Oslo Sinfonietta und vom Zwerm Quartet. Es wird selbstverständlich bei der neuen Ensemble-Generation und bei den Komponisten, dass anspruchsvollste Technik beherrscht und eingesetzt wird. Schon räumlich war der Unterschied prägnant: die „klassischen“ Konzerte fanden in der barocken Orangerie statt, die „neuen“ (wenn ich so sagen darf) in der modernen Mehrzweckhalle (Centralstation) und im Club (603qm). Ich bin irgendwann gar nicht mehr zu den klassischen Konzerten gegangen, den Berichten nach hat mich mein Bauchgefühl nicht getäuscht.
Auch die Konzertform selbst wandelt sich: Konzerte werden ohne Applausunterbrechungen durchgespielt und dramaturgisch gestaltet; Ictus hat die Stücktitel auf eine Leinwand projiziert (super, ich mochte Programmhefte noch nie). Auch sehr witzig das Konzept von Besides: In den Umbaupausen zwischen den Stücken lief leise Muzak – eine schöne Irritation, das habe ich so noch nie gehört (<- da ist es, das NEUE!!!). Was mir in guter Erinnerung bleibt: Endlich ist Matthew Shlomowitz' Musik auch in Deutschland angekommen, von Joanna Bailie gab es ein schönes Stück und eine schöne Lecture, die Vorträge von Martin Schüttler, Michael Maierhof und Michael Rebhahn setzten Impulse, "Park" von Shila Anaraki und Stefan Prins habe ich leider nicht live gesehen, aber im Open Space die Aufnahme, wo auf jeden Fall zu sehen war, dass es ein frisches Projekt ist, Stücke von Alexander Schubert, Simon Steen-Andersen, Niklas Seidl, Bryn Harrison, Jorge Sanchez-Chiong und Eva Reiter; die Anwesenheit von Jennifer Walshe war inspirierend, die Performances von Matmos waren prima. Ein besonderes Ereignis waren die Orchesterimproviationskonzepte "doppelt bejaht" von Mathias Spahlinger mit einem Berlin Musikerkollektiv. Aber auch die Präsentationen im Open Space vom Decoder-Ensemble oder von Mathias Monrad Møller sind haften geblieben. Leider habe ich auch vom Ictus-Konzert nicht alles mitgekriegt, bin nach der Preisverleihung an der Bar hängengeblieben. Allgemein wurden die Matineekonzerte, in denen drei junge Komponisten einen Alt-Meister interviewten, gelobt (was die NZZ dazu schreibt, ist eine dreiste Unverschämtheit). Ich denke, die Generationenunterschiede sind deutlich geworden, vor allem bei den Diskussionen mit Brian Ferneyhough und Wolfgang Rihm. DeutschlandRadio Kultur wird sie im September ausstrahlen, ich werde darauf hinweisen.

Dann gab es natürlich noch unzählige weitere Veranstaltungen, vor allem im Open Space, die ich nicht mitgekriegt habe – also ist meine Sicht nur einigermaßen ausschnitthaft. Wie immer fanden die interessantesten Gespräche in Darmstadt aber wohl in der Hotelbar nachts zwischen 1 und 5 Uhr statt; ich finde, daran zeigt sich, dass Musik für die Darmstadt-Besucher eine existenzielle Erfahrung ist. In der Nacht vor meinem Vortrag habe ich gar nicht erst versucht, noch zu schlafen – that’s Darmstadt.

Was noch besser sein könnte bei den Kursen, ist die Internetpräsenz; es gibt einige Leute, die nicht vor Ort sind, aber zeitnah gerne etwas erfahren würden. Immer mehr Kongresse und Symposien stellen ihre Vorträge und Veranstaltungen als Video online, das wäre nicht allzu großer Aufwand auch für die Kurse (kann man die Rechtefrage entweder mit der GEMA aushandeln oder, nunja, informell handhaben?). Und wozu gibt es denn die „Schreibwerkstatt“, wenn nicht, um einen Ferienkursblog zu schreiben? Sowieso, da man auch als Kursbesucher zwangsläufig viel verpasst, wäre nachträgliche öffentliche Archivierung wünschenswert (zu dem Thema habe ich mich in der GNM-Diskussion mit Martin Zenck bezüglich der Basler Sacher-Stiftung ordentlich gezofft). Ich hoffe, das wird in Zukunft optimiert. Aber zugegeben ist man während der Kurse so sehr mit Kursbesuch beschäftigt, dass für Internetpublikation kaum Zeit und Ruhe bleibt.

Noch ein Kritikpunkt ist, dass in Darmstadt zwar der Diskurs über „die Neue Musik“ geführt wird, aber gerade die, die institutionell wichtige Entscheidungen fällen, zum Beispiel welche Stücke gespielt werden, also Veranstalter und Ensembles, sich diesem Diskurs nahezu vollständig entziehen, so dass man sich manchmal fragen muss, wozu man eigentlich im Klein-klein der Noten diskutiert, wenn die großen Entscheidungen unbesprochen bleiben. Ich habe das am Ende der Diskussion mit Wolfgang Rihm angesprochen (und darüber früher schon mal hier gebloggt). Mehr Transparenz halte ich für ein Gebot der Stunde.

Soweit meine diesjährigen Darmstadt-Eindrücke. 2014 werde ich wieder dort sein.

Darmstadt: hitzige Auseinandersetzung um den Materialstand (nachgestellt)