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Elitär vs. Populär

Drüben im Bad Blog of Musick macht Moritz Eggert auf das Blog The Biting Point aufmerksam, worin jemand energisch die Zeitgenössische Klassische Musik (ich hasse diesen Ausdruck wie die Pest, er ist in den USA aber üblich) auffordert, sich zu öffnen.
Hier das Manifest Towards a New Classical Music Culture. Auch Stefan Hetzel setzt sich damit auseinander.

Ich denke dazu passt ganz gut mein „Elitär vs. Populär“-Aufsatz, den ich auf Kulturtechno erstveröffentlichte, der dann in der Schweizer Zeitschrift für Neue Musik Dissonance erschienen ist und jetzt auch auf meiner Website steht:

http://www.kreidler-net.de/theorie/elitaer-populaer.htm


Die Inakzeptanz der modernen Musik ist eines der größten Desaster der Kunstgeschichte.

Jean-Luc Godard

Ich habe mit den nicht-professionellen Musikern aus meinem Freundeskreis, also vor allem mit Künstlern anderer Sparten und Akademikern, eine kleine (nicht-repräsentative, aber beispielhafte) Umfrage durchgeführt: Was für Musik hört ihr? – Anders gefragt: Wodurch zeichnet sich anspruchsvolle Popmusik aus? Denn Neue Musik hören sie kaum bis gar nicht, aber auch nicht gerade Dieter Bohlen (ich glaube, man kann das unabhängig vom funktionalen Bezug verschiedener Musiken betrachten; es geht überhaupt um’s Kennen und Wertschätzen). Ein erstes Ziel der Ausweitung des Neue-Musik-Radius wäre schließlich, neben der Jugend, diese Gruppe.

(Wenn man Poptheoretiker wie Diedrich Diederichsen liest, bekommt man das Gefühl, U sei das neue E und in House Music steckt mehr Dialektik als Adorno je bei Schönberg entdeckte.)

4 Kommentare

  1. „Aber immerhin können wir Warhol & Co als Hoffnungszeichen nehmen, dass es nicht grundsätzlich an intellektuellen Fähigkeiten mangelt. “

    Es gibt da einen gewissen ästhetischen Unterschied zwischen Warhol und Webern: Warhols Oeuvre ist *mehrfachkodiert* und gehört der Postmoderne an, Weberns Arbeiten sind immer trockener werdendere Destillate eines stets in die gleiche Richtung strebenden Abstrahierens, ein Werk sozusagen ohne Oberfläche, das nur aus „Tiefe“ und „Seriosität“ (im Sinne eidelyns) besteht. Man kann es eigentlich nur auf eine Weise „korrekt“ wahrnehmen – eben intellektuell. *Deswegen* spielen sie in der schwäbischen Kleinstadtbäckerei eben doch Dieter Bohlen und nicht einen „leicht elektronisierten Webern“ (wobei natürlich Bohlen *nicht* der Warhol der Musik ist, sondern eher ihr Plastinator).

    „Die Freiheit der Atonalität ist ein hohes Gut […].“

    Was zu beweisen wäre. Gehört eine solche Ansicht nicht genau zu den von eidelyn als „arbitrary“, d. h. beliebig und unbegründet, also letztlich tyrannisch bezeichneten kulturellen Dogmen, die es zu überwinden gilt? Warum bedeutet eigentlich Atonalität „Freiheit“? Freiheit wovon? Von den „Fesseln der Tonalität“ natürlich, wird der Avantgardist jetzt üblicherweise antworten. Nun, diese Antwort war richtig und zeitgemäß – vor ca. 100 Jahren! Ist denn „Atonalität“ an sich überhaupt ein „hohes Gut“? Gegenüber welchem „minderwertigem Gut“ denn? Na klar, gegenüber „ästhetisch unterkomplexen funktionsharmonischen Turnarounds“, wie du sagst. Was für ein Verständnis von Komplexität ist denn das? „Atonalität“ und Komplexität hängen meiner Meinung nach in keinster Weise logisch zusammen, ebensowenig wie Funktionsharmonik und ästhetische Dürftigkeit. Es gibt doch bsp.weise lupenreine, aber gewiss nicht besonders komplexe „Atonalität“ auf Zufallsbasis, auf der anderen Seite kann man die funktionsharmonischen Turnarounds von bsp.weise Billy Strayhorns „Lush Life“ wohl kaum als „unterkomplex“ bezeichnen. Oder doch?

  2. Kreidler sagt:

    „Es gibt da einen gewissen ästhetischen Unterschied zwischen Warhol und Webern“
    Das stimmt allerdings! Aber in der schwäbischen Kleinstadtbäckerei war es ein Mondrian-Muster, das auf die Brottüte gedruckt wurde. Mondrian und Webern würde ich als einigermaßen wesensverwandt ansehen.

    Die Sache mit der Atonalität ist angreifbar, ich weiß. Ich finde auch ein Problem, dass das als selbstverständlich „besser“ angesehen wird, ebenso wie das Kratzen hinterm Steg nicht selbstverständlich besser ist als das Pop-Sample. Dennoch, da werde ich halt jetzt subjektiv, empfinde ich die Tonalität als Vergröberung des Hörens, die mir meistens weh tut. Gerade dank der Vergröberung kann man auch was-auch-immer „komplexes“ schaffen, aber das höre ich nur sehr, sehr selten. Schlechterdings unvereinbar mit der Tonalität sind Mikrointervalle, Polymetrik etc.pp., Dinge, die eine auditive Komplexität zumindest ermöglichen.

    Der „arbitrary“-Vorwuf ist aber doch ein Totschlagsargument. Ohne Gott ist alles Nicht-Materielle in der Welt willkürlich, nur mehr oder weniger kollektiv-willkürlich. Dass der Tisch Tisch heißt ist kollektive Willkür.
    Tyrannisch darf die Atonalität natürlich nicht sein, ich will ja darum auch meinen, dass man Tonales ins Atonale integriert.

  3. „Mondrian und Webern würde ich als einigermaßen wesensverwandt ansehen.“

    Ok, da hast du natürlich recht.

    „Dennoch, da werde ich halt jetzt subjektiv, empfinde ich die Tonalität als Vergröberung des Hörens, die mir meistens weh tut.“

    *So* kann ich das natürlich akzeptieren, aber in deinem Originaltext klang das doch noch ein wenig mehr nach „objektiver“ Überlegenheit der Atonalität, oder?

    „Schlechterdings unvereinbar mit der Tonalität sind Mikrointervalle, Polymetrik etc.“

    Da muss ich widersprechen: Tonalität *und* Mikrointervalle gibt es bsp.weise bei Charles Ives („Three Pieces for Quarter-Tone-Piano“), bei LaMonte Young („The Well-Tuned Piano“) oder bei Clarence Barlow („Çoğluotobüsişletmesi“) und, ganz unakademisch, bei arabischer Popmusik. Und warum Polymetrik immer atonal sein muss, verstehe ich auch nicht.

    „Ohne Gott ist alles Nicht-Materielle in der Welt willkürlich …“

    Selbst wenn es Gott gäbe (was ich weder beweisen noch widerlegen kann), würde der Zufall weiter existieren. Und die Naturgesetze (z. B. die der Akustik). Außer natürlich, man ist Kreationist.

    „Dass der Tisch Tisch heißt ist kollektive Willkür.“

    Absolut richtig. Aber braucht es nicht das erlernte Gewohntsein ans Tonale, um Atonalität als „Errungenschaft“ überhaupt wahrnehmen zu können? Ich behaupte: wer in einer „atonalen“ Kultur aufgewachsen ist, würde Tonalität als Fortschritt empfinden.

    Haben wir im 21. Jahrhundert nicht die Freiheit, den Dualismus „Tonalität“ und „Atonalität“ zu überwinden und uns bsp.weise an fließenden Übergängen zwischen diesen Polen abzuarbeiten?

  4. Kreidler sagt:

    Hallo Stefan,
    ich kann in allem was Du sagst nur zustimmen!

    Mit der Unvereinbarkeit von Tonalität und den genannten atonalen Errungenschaften meinte ich, sorry, die Tonalität von 99% der hiesigen Popmusik.

    Mir ist es in meinem Text ja darum zu tun, irgendwelche Wege zu finden raus aus dem Ghetto. Will in dem Text aber auch zum Ausdruck bringen, dass ich irgendwo meine elitären Ansichten habe. Ich finde die Atonalität subjektiv als „besser“, aber ich sehe das auch besserwisserisch als kulturell wünschenswert. Gerne mit Inklusion aller tonalen Möglichkeiten, aber mit einiger Skepsis ob der Einschränkungen, die tonales Hören hat. Und interessant ist, wie Du sagst, gerade der Bezug von beidem aufeinander.