Gedanken im Flugzeug über die Kritiken am Neuen Konzeptualismus.
Ganz bescheuert: moralische (Fremdarbeit). Wenn es wenigstens um Geld ginge, dann wäre es noch ehrlich, der NK ist ja nicht (mehr) nur Internetphänomen, sondern Festivalpolitik. Aber in Darmstadt wusste man auf dem Panel nicht besser zu kritisieren, als dass das ja nicht gehen würde, was in dem Stück getrieben würde. Abgesehen davon ist das Stück zwar ein wohl ganz ordentliches Beispiel, aber doch nur begrenzt repräsentativ für den NK.
Auch das Gerede, das sei keine Musik. Das hat man über die Atonalität auch gesagt. Peymann verlautbart auch immer noch, was Castorf macht sei kein Theater, weil jener Video einsetzte.
Es handelt sich um den erweiterten Musikbegriff, den man theoretisch gut herleiten kann. Es gibt natürlich auch immanentistische Musik, aber das sind dann Geschmacksfragen und Aufassungen über Innovation. Der Essay „Der erweiterte Musikbegriff“ erscheint demnächst, im Schriftenband der Donaueschinger Musiktage ’14, darin setze ich mich sehr ausführlich mit „autonomer“ und „absoluter“ Musik, sowie dem „erweiterten Musikbegriff“ auseinander.
Wer über den NK sagt, das seien harmlose Gags, übersieht, dass es eine inhaltliche und eine formale Ebene gibt, ausserdem eine historische. Manche Inhalte sind nur Folie. Charts Music definiert Neue Musik neu, das ist vielleicht der größere Beitrag als der zur Finanzkrise – wobei auch hier die Interpretation erst losgeht, wenn man mal zum Vergleich den Werbespot von Microsoft für die Software sieht, in dem just jenes traute Heim besungen wird, dass auf Pump gekauft wurde und die Krise auslöste. Songsmith ist ursächlicher Teil der Krise. Die Melodien sind mehr als sarkastisch, sie sind plastisch.
Dass das kleine Stücke sind, ja nun, es sind Miniaturen; Miniaturen sind Miniaturen sind Miniaturen. Magrittes Bilder sind auch konzeptuelle Miniaturen. Die Nähe des NK zum Surrealismus wäre eine eigene Untersuchung wert.
Was ich wesentlich ernster nehme sind zwei Kritiken: Dass hier eine zu starke Reduktion betrieben wird auf eine Idee. Nach Musil ist der Aphorismus „das kleinste mögliche Ganze“. In der Tat ist der NK eine Lösung für das Formproblem, indem dieses aus der Zeit in die Idee verlagert wird. Ein Ganzes aber kann es heute eigentlich nicht mehr geben, unsere Welterfahrung ist eine andere. Aber darum die zusammengesetzten Formen, die Sammlung vieler kleiner Stücke zu etwas Größerem, darum auch die phänomenologische Zusammenfassung zu dem Ausdruck „Neuer Konzeptualismus“, zu dem jedes einzelne Stück und noch jeder kleine Scherz auf Facebook beiträgt. Insofern ist der NK alles andere als ein Ganzes, sondern völlig offen, eine Zersetzung des angestammten Werkbegriffs und deutet die Welt mannigfach.
Die andere ernstzunehmende Kritik: der Logozentrismus des NK. Klar, es gibt Stücke, bei denen das Klingende nach tradiertem Verständnis subaltern ist. Aber dennoch geht es doch immer auch um ein Verhältnis zur Wahrnehmung, wenn auch vielleicht nur als Erinnerung; nie jedoch um baren Ersatz. Das nichtästhetische Kundtwerk gibt es nicht. Die Sprache einer Textpartitur ist keine Amtssprache, und das Konzept ist nicht identisch mit der Interpretation – manchmal geradezu im Gegenteil.
@Johannes: Danke für diese Reflexionen. Meine ursprüngliche Kritik, dein Neuer sei lediglich ein Neo-Konzeptualismus, also nur eine weitere, wenn auch subtile Form von Retro-Style, kann ich, nachdem ich große Teile von „Audioguide“ gesehen habe, so auch nicht mehr aufrecht erhalten.
Sicher, Barlows „TEXT-MUSIC“ (http://stefanhetzel.files.wordpress.com/2014/06/text-music.jpg) aus dem Jahr 1971 und einiges aus der Fluxus-Ecke der 1960er Jahre definierte auch schon Neue Musik neu, hatte aber einfach nicht die Durchschlagskraft deiner Arbeiten. Barlows Provokationen wurden damals (amüsiert oder verärgert) zur Kenntnis genommen, blieben aber komplett folgenlos (vgl. mein ausführliches Interview mit Barlow, das im Novemberheft der NZfM erscheinen wird). O-Ton Barlow (sinngemäß): „Die Leue fanden mich und meine Ideen ein bisschen seltsam – das war’s dann aber auch.“ Als dann in den 1980er Jahren H. Kohls „geistig-moralische Wende“ einsetzte, war’s endgültig vorbei mit der Empfänglichkeit für konzeptuelle Strategien in der Welt der Neuen Musik: Alles musste wieder „echt“ sein, authentisch, expressiv etc.
Man könnte also sagen, das „Neue“ am NK ist nicht die Verwendung konzeptueller Kompositionsideen, sondern sein Entschluss, diese Ideen ausschließlich gehaltsästhetisch einzusetzen. Bei Barlows TEXT-MUSIC scheint es mir da eher noch um eine (wenn auch verklausulierte) Materialästhetik in der Nachfolge von Cage zu gehen à la „Schaut mal her, mit so wenig Aufwand kann man etwas generieren, das sich wie ‚Neue Musik‘ anhört.“ Interessanterweise lässt Barlow ja offen, *welchen* Text man zum Vertonen nehmen soll – und nimmt damit seinem Konzept die (mögliche) gehaltsästhetische Pointe (die aber 1971 *auch* kaum verstanden worden wäre).