Skip to content
 

Kleine Weltreise – Tagebuch #04

Ausschlaf. Morgens Gott sei Dank (oder wem auch immer man das verdankt) einige Klarheit, nach der teilweise scheußlichen Katerstimmung gestern.

„Das ganze Bad ist eine Pesthöhle.“ (Ibsen, Ein Volksfeind)

Wenn man in Island ist, MUSS man in eines der Bäder gehen. Das letzte mal freiwillig in einer öffentlichen Badeanstalt war ich, als wir als Jugendliche im Sommer nachts in Freibäder einbrachen.

Ich bin natürlich oberschlau Insider-gebrieft und gehe nicht in diesen teuren Wellness-Nepp am Flughafen, an dem alle Jetsetter von/nach New York Zwischenstopp machen, sondern in ein Bad für umgerechnet 4€ Eintritt, das fast leer ist. Nur der 40°-Pool mit den besten (weil: stärksten) Düsen ist dann doch von lauter sehr dicken älteren Männern okkupiert. Übergewicht gehört progressiv besteuert. So wie Skandinavien dem Alkoholismus mit Steuern begegnet. Und warum ist eigentlich aus dem Diskurs völlig verschwunden, dass so viele Probleme auf zu wenig guten Sex zurückzuführen sind? Bio boomt, Genderprofessuren überziehen die akademische Landschaft, aber in all den Diskussionen, wie denn den unzähligen sexuellen Schattierungen nun Recht getan werden kann, schweigt man sich, soweit ich das sehe, über die Frage aus, wie sich aber die Menschen gegenseitig auch am besten beglücken könnten. Dabei würde da ein Fortschritt doch ziemlich zuverlässig Gewalt und Depressionen weltweit eindämmen. Diesbezüglich versteh ich die Alt-68er, die sagen, es wäre heute furchtbar prüde. In Audioguide gab’s zwei Stellen mit Hardcore-Videos. Vielleicht sollte ich beim nächsten Musiktheater (Uraufführung am 5.6.2015 in Hannover) Hemmungsabbau- und Sexualerziehungsfilme zeigen. Das kann man verbinden mit Musik, das sind ja auch Fragen von Rhythmus, Dramaturgie, Ästhetik, Schönheit. Und in Donaueschingen dann eröffnen wir ein ganzes Tantrazentrum. Aber im Kontext von Neuer Musik wirkt das natürlich extrem ironisch („Zwölfton-Kamasutra“). Man bräuchte erst mal zwei Stunden, um der Situation die Komik zu nehmen und noch mal eine Stunde, bis auch klar ist, dass das kein Volkshochschulkurs ist und Esoterik auch nicht, sondern Schiller. Nun, es kommt ja, vom Komponisten Jeppe Ernst wurde unlängst ein Stück uraufgeführt, bei dem drei Frauen auf einem nackten Mann als Instrument spielen. Ich hab’s selber nicht gehört, aber mir wurde davon verschiedentlich erzählt.

Jeppe Ernst: Rekviem

 

Ich gehe dann in ein flaches Becken, bei dem man am besten nur eine Körperhälfte (egal welche) im Wasser hält, um den schönen Kontrast von 7° Luft- und 38° Wassertemperatur simultan zu erleben. Noch schöner wären jetzt -7° draußen. Nebenan bringt ein Vater einem Kleinkind erste Schwimmbewegungen bei. Meine Güte, wie deprimierend ist das. Mit jedem Neugeborenen geht die Arbeit wieder von vorne los. Wann kommen endlich die Schnittstellen für Menschenhirne? Es ist wirklich keine digitale Revolution, das geht alles schneckenlangsam.
Island hat die höchste Geburtenrate Europas (2012: 2.2 Kinder/Frau).

Ich verlasse diese Pesthöhle mit lauter Ideen. Unpraktisch, dass man sich beim Baden keine Notizen machen kann.

Ein Kommentar

  1. Leowee sagt:

    Du vergisst, dass Erwachsene an kleinen Kindern am meisten ihre Naivität schätzen, durch die sie selbst die Welt noch einmal wahrnehmen lernen wie neu. Selbstverständlich ist das Gör schneller in alle Raster gestanzt, als mensch staunen kann. Insofern wäre ich eher für eine flächendeckende Löschfunktion für all den Blödsinn, den die Menschheit verzapft hat.