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Neuer Konzeptualismus und Digitalisierung in der Diskussion

Aktuell gibt es ein paar bemerkenswerte Veröffentlichungen zum Neuen Konzeptualismus und zur Digitalisierung in der Neuen Musik.

Bei Suhrkamp ist jüngst das Buch „Die Autonomie des Klangs“ von Gunnar Hindrichs erschienen. Ein paar Überlegungen des Autors zum ‚Material‘ teile ich, sie stimmen mit einigen Gedanken meines Textes „Zum ‚Materialstand‘ der Gegenwartsmusik“ überein.
Grundsätzlich muss ich mir allerdings durchweg an den Kopf greifen, wie der Autor als Kant’sches Apriori die (Werk-)Autonomie von Musik als Grundlage nimmt. Nachdem nun seit gut 40 Jahren Komponisten die mannigfachen Verflechtungen von Musik mit Gesellschaft, Ökonomie und Technologie herausarbeiten und die digitale Revolution dem erst Recht Auftrieb verschafft, behauptet der Autor dennoch ernsthaft: „Nur die Idee des autonomen Werks bildet den Idealtypus der europäischen Musik.“ (S. 228). Dieser Psalm zieht sich durch das ganze Buch, und es überrascht dann auch nicht mehr, wenn er irgendwann tatsächlich mit Bibelauslegungen argumentiert. Des weiteren räumt er auf Seite 200 ein, dass er auch atonale Musik für Tonleiter-Musik hält – damit fallen also bspw. Geräuschmusik und Collage raus, und konsequenterweise hat er für Konzepte und Multimedia erst recht nur Abfälliges übrig:

„Gegenwärtig ist es vor allem der Neue Konzeptualismus, der dem Gedanken vom Materialfortschritt abschwört. Er, dem so unterschiedliche Komponisten wie Peter Ablinger, Jennifer Walshe oder Johannes Kreidler zugerechnet werden, versteht sich als Avantgarde, aber nicht mehr vom Material her. Seine Erweiterung des Kompositionsbegriffs über den Klang hinaus zugunsten von Konzepten bekennt sich zu Gehaltsästhetik statt Materialästhetik, Kommunikation statt Werk oder Medium statt Material. Wie sein Vorbild, die Konzeptkunst der sechziger und siebziger Jahre, bindet er den Abschied vom Material mit dem Abschied vom Werk zusammen und erzwingt eine fröhliche Entdifferenzierung von Musikalischem und Außermusikalischem. Sein Schicksal ist jedoch das gleiche, das bereits John Cage erlitt: Was ihm gelingt, gelingt ihm einzig als Kontrast zum Werk.“ (S. 71f)

Cage (und den Neuen Konzeptualismus) auf ein parasitäres Anti-Kunst-Dasein zu reduzieren, kann man eigentlich nur dummdreist nennen. Da muss sich jemand schon viel Mühe gegeben haben, die riesige Cage-Rezeption außen vor zu lassen. So kann man eine wacklige Ausgangsthese natürlich durch ein ganzes Buch peitschen.
Es ist insofern schade, weil ich es nach der Erfahrung von Multimedia, Konzepten und all den herausgearbeiteten ‚diesseitigen‘ Aspekten von Musik für durchaus nachdenkenswert halte, was denn nun Musik doch an wirklicher Eigengesetzlichkeit hat – aber eben erst vor dem Hintergrund der Erfahrung all ihrer heteronomen Bezüge. Hindrichs macht es sich letztlich bzw. von vornherein in der Musik zwischen 1800 und ~1960 bequem, an der Ausgangsthese gibt es praktisch keinen Zweifel. Was er an Neuer Musik nach 1960 anführt, ist höchst selektiv, auf der Höhe der Neuen Musik von nach 2000 ist er ganz gewiss nicht. Wenn er sein Buch als eine Ontologie der tonalen Musik und ihren Vorgängern und Ausläufern bezeichnen würde, fände ich es zwar immer noch stockkonservativ (denn auch die Musik des 19. Jahrhunderts lässt sich natürlich marxistisch verstehen), aber zumindest würde es einen Sinn ergeben. Eine Ontologie der Musik schlechthin, die er hier aber postuliert, scheitert an Unkenntnis oder eher noch an Ignoranz der Neuen Musik der letzten Dekaden, oder eigentlich scheitert er an der prinzipiellen Offenheit der Neuen Musik seit dem Schritt in die Atonalität.
Mir kommt das Ganze (mal wieder) wie ein unbewusstes Rückzugsgefecht vor, der Autor spürt irgendwo dumpf, dass mittlerweile genau das Gegenteil der Fall ist oder dabei ist, sich durchzusetzen, was aber (aus ungeklärten Gründen) nicht sein soll. Schon bei anderen Texten aus der letzten Zeit, in der „Autonomie“ (ein rhetorischer Begriff) der Musik verteidigt werden sollte, hat sich mir dieser Eindruck aufgedrängt, was sich durch aktuelle Projekte, in denen nun Konzeptualismus reinsten Wassers betrieben wird, bestätigt.

Da sind wir beim nächsten – bei Wolke ist ein Aufsatzband „Fortschritt – was ist das?„, herausgegeben von Ernst Helmuth Flammer, erschienen. Das Vorwort ist online einsehbar und enthält Stellen wie:

„[…] scheint bezogen auf das Komponieren die schöne, heile Welt, die dessen digitale sogenannte Demokratisierung (Harry Lehmann) suggeriert, nicht, im Hinblick auf ein mögliches Ende der Kunst, einen verantwortungsethischen Dammbruch zu markieren? Kaum vorstellbar, wenn sich jeder Dilettant, der nicht Noten lesen kann, jeder Idiot fortan als Komponist bezeichnen könnte. Lehmanns Abstraktion der Ethik exculpiert ihn nicht davon, diesen Dammbruch billigend als Kollateralschaden in Kauf zu nehmen.“ (S. 13)

Oh Gott, da gibt es also tatsächlich nun die Möglichkeit, am Computer Musik zu machen, mit Code statt mit Noten, und das kann dann auch noch im Internet publiziert werden!! (Ich nehme an, das meint Flammer mit ’sich als Komponisten bezeichnen‘) Nehmt den Kids die Laptops weg! Wer „anständig“ komponiert, ist kein Idiot!
Das Buch ist nach Eigenaussage der Auftakt einer auf 4 Bände geplanten Reihe, die den Entwurf einer Philosophie der Musik des 21. Jahrhunderts bilden soll. Flammer selbst hat den Großteil der herausgegebenen Texte verfasst. Das Buch hat 528 Seiten.

Darin findet sich auch ein Text von Claus-Steffen Mahnkopf, der parallel in der aktuellen „Musik & Ästhetik“ erschienen ist: „Nochmals Materialfortschritt“. Bis auf eine kritische Erörterung, was denn nun Fortschritt in der Musik sein soll (ich spreche auch lieber von „Klangrecherche“ als von „Materialfortschritt“) steht darin keine Erkenntnis zu dem Thema, die ich nicht auch schon formuliert hätte (wieder: „Zum ‚Materialstand‘ der Gegenwartsmusik„), nur adressiert Mahnkopf seinen Text an einen nicht genannten Widerpart – man darf vermuten, dass mit dem „Meisterphilosophen“ Lehmann gemeint ist und mit den „Digitaleuphorikern“, die sich dem „totalen Archiv“ bedienen, ich. Diesem hier aber anonym gehaltenen Opponenten kann Mahnkopf auf diese Weise die billigsten Meinungen andichten, die er dann altklug auszuräumen vermag. Ich frage mich, ob Mahnkopf wirklich glaubt, die Leser seien so dumm, derartige Rhetorik nicht zu durchschauen. Würde Mahnkopf mein Blog lesen, würden uns wenigstens Sätze wie diese endlich erspart bleiben:

„Die gesamte Neue Musik seit Beginn des 20. Jahrhunderts kann als eine systematische Erweiterung des Materials betrachtet werden. Das war logisch und unvermeidlich, ist aber kein Garant für große Musik oder überzeugende Werke.“ (S. 111)

Man beachte den Kulturtechno-Beitrag vom 3.12.2013:

(Künftig werde ich für Sätze dieser Art die goldene Garantiezitrone verleihen. Vorletztes Jahr wäre sie schon mal an Rainer „Doch die bloße Nutzung der Digitaltechnologie garantierte nicht automatisch auch künstlerisch gelungene Projekte“ Nonnenmann gegangen.)

Ob sich Mahnkopf gar nicht mehr traut, einen Gegner direkt anzusprechen und sich mit dessen tatsächlichen Gedanken zu befassen? Da monologisiert er lieber vor sich hin. So endet also ein Diskurs im Leerlauf.

Dann aber noch ein (natürlich aus meiner Sicht) erfreulicher Texthinweis, Alexander Strauch hat bemerkenswerte Parallelen zwischen Schönbergs „Überlebendem aus Warschau“ und meiner „Fremdarbeit“ gezogen:

http://blogs.nmz.de/badblog/2014/02/08/fremdarbeit-und-a-survivor-from-warsaw-das-moderierte-melodram/

Und mittlerweile gibt es auch einen Wikipedia-Eintrag zur Konzeptmusik:

http://de.wikipedia.org/wiki/Konzeptmusik

Soweit, schönes Wochenende.