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Kleine Weltreise – Tagebuch #05

Tagebücher. Eine meiner bevorzugten Lektüren. Romane: zu lang. Gedichte: zu kurz. Aber sprachlich gekonnte Beschreibungen von Erlebnissen, Reflexionen, ohne mühsame Großform und ohne diese Mengen an Charakteren, die ich mir nicht merken kann, das ist Literatur nach meinem Geschmack. Lieber das verlogenste Tagebuch als der authentischste Roman. Besonders interessant: die Tagebücher und Autobiographien von Uralten, die große Zeitabstände aus eigenem Erleben vergleichen können. Ernst Jünger, Julian Green, Leni Riefenstahl. Green starb 1998 mit 98 Jahren, und hat von 1920 bis zuletzt Tagebuch geführt, amtierender Tagebuchschreibweltmeister unter den Literaten. In einer Zeit, in der ich schon bei vollstem Bewusstsein war (90er Jahre), hat Green in seinem Tagebuch noch das familiäre Trauma des verlorenen Bürgerkriegs 1861-64 beweint, während er zeitgleich die Folgen der deutschen Wiedervereinigung etc. registriert. Einmalig, das kann kein Historiker. Und wie Harald Schmidt bemerkt hat: Thomas Mann, Zauberberg, Buddenbrooks, Doktor Faustus, schön und gut, aber wirklich interessant sind die Tagebücher, das Verzeichnen der Animositäten, der Tablettenfresserei.

Dennoch: Ein Tagebuch verschweigt das Meiste, ist zum Verschweigen da. Verbergen durch Transparenz (Baudrillard). Text. Eigendynamik des Mediums.

Eines der besten Reisetagebücher sind übrigens die „Brasilien – Peru – Aufzeichnungen“ von Franz Xaver Kroetz.

Nach hundert Jahren ist praktisch jedes Tagebuch interessant.

Kleine Weltreise – Tagebuch #04

Ausschlaf. Morgens Gott sei Dank (oder wem auch immer man das verdankt) einige Klarheit, nach der teilweise scheußlichen Katerstimmung gestern.

„Das ganze Bad ist eine Pesthöhle.“ (Ibsen, Ein Volksfeind)

Wenn man in Island ist, MUSS man in eines der Bäder gehen. Das letzte mal freiwillig in einer öffentlichen Badeanstalt war ich, als wir als Jugendliche im Sommer nachts in Freibäder einbrachen.

Ich bin natürlich oberschlau Insider-gebrieft und gehe nicht in diesen teuren Wellness-Nepp am Flughafen, an dem alle Jetsetter von/nach New York Zwischenstopp machen, sondern in ein Bad für umgerechnet 4€ Eintritt, das fast leer ist. Nur der 40°-Pool mit den besten (weil: stärksten) Düsen ist dann doch von lauter sehr dicken älteren Männern okkupiert. Übergewicht gehört progressiv besteuert. So wie Skandinavien dem Alkoholismus mit Steuern begegnet. Und warum ist eigentlich aus dem Diskurs völlig verschwunden, dass so viele Probleme auf zu wenig guten Sex zurückzuführen sind? Bio boomt, Genderprofessuren überziehen die akademische Landschaft, aber in all den Diskussionen, wie denn den unzähligen sexuellen Schattierungen nun Recht getan werden kann, schweigt man sich, soweit ich das sehe, über die Frage aus, wie sich aber die Menschen gegenseitig auch am besten beglücken könnten. Dabei würde da ein Fortschritt doch ziemlich zuverlässig Gewalt und Depressionen weltweit eindämmen. Diesbezüglich versteh ich die Alt-68er, die sagen, es wäre heute furchtbar prüde. In Audioguide gab’s zwei Stellen mit Hardcore-Videos. Vielleicht sollte ich beim nächsten Musiktheater (Uraufführung am 5.6.2015 in Hannover) Hemmungsabbau- und Sexualerziehungsfilme zeigen. Das kann man verbinden mit Musik, das sind ja auch Fragen von Rhythmus, Dramaturgie, Ästhetik, Schönheit. Und in Donaueschingen dann eröffnen wir ein ganzes Tantrazentrum. Aber im Kontext von Neuer Musik wirkt das natürlich extrem ironisch („Zwölfton-Kamasutra“). Man bräuchte erst mal zwei Stunden, um der Situation die Komik zu nehmen und noch mal eine Stunde, bis auch klar ist, dass das kein Volkshochschulkurs ist und Esoterik auch nicht, sondern Schiller. Nun, es kommt ja, vom Komponisten Jeppe Ernst wurde unlängst ein Stück uraufgeführt, bei dem drei Frauen auf einem nackten Mann als Instrument spielen. Ich hab’s selber nicht gehört, aber mir wurde davon verschiedentlich erzählt.

Jeppe Ernst: Rekviem

 

Ich gehe dann in ein flaches Becken, bei dem man am besten nur eine Körperhälfte (egal welche) im Wasser hält, um den schönen Kontrast von 7° Luft- und 38° Wassertemperatur simultan zu erleben. Noch schöner wären jetzt -7° draußen. Nebenan bringt ein Vater einem Kleinkind erste Schwimmbewegungen bei. Meine Güte, wie deprimierend ist das. Mit jedem Neugeborenen geht die Arbeit wieder von vorne los. Wann kommen endlich die Schnittstellen für Menschenhirne? Es ist wirklich keine digitale Revolution, das geht alles schneckenlangsam.
Island hat die höchste Geburtenrate Europas (2012: 2.2 Kinder/Frau).

Ich verlasse diese Pesthöhle mit lauter Ideen. Unpraktisch, dass man sich beim Baden keine Notizen machen kann.

Kleine Weltreise – Tagebuch #03

Island hat eine Wetterscheide, die Osten und Westen trennt. Man sagt, wenn im einen Teil gutes Wetter ist, ist im anderen schlechtes. Die letzten zwei Jahre war im Osten gutes Wetter, der Westen hatte den Zonk. Reykjavík liegt im (Süd-)Westen. Heute ist das Wetter aber sehr schön.

Reykjavík bei schönem Wetter (Quelle: Internet)

 

Im Supermarkt gibt es nur Lettöl, Leichtbier, mit 2,25%. Wer deutsches Bier gewohnt ist (4,9%), muss folglich die 2,17fache Menge in der 2,17fachen Geschwindigkeit kaufen/saufen.

Zeitverschiebung zu Mitteleuropa: -2 Stunden. Mitte September sind Sonnenauf- und Sonnenuntergangszeiten in etwa gleich wie in Deutschland.

Rolle im Zweiten Weltkrieg: Trotz Neutralität wurde Island 1940 von Briten, später auch Amerikanern besetzt, um einer möglichen deutschen Invasion zuvorzukommen. 1944 Unabhängigkeitserklärung vom damals noch unter deutscher Besatzung stehenden Dänemark. Fun Fact: Ausgerechnet im kalten Island wurde das Ende des kalten Kriegs eingeleitet (Verständigung von Reykjavik, 1986 Gorbatschow/Reagan).

Kleine Weltreise – Tagebuch #02

Aus dem Zusammenhang reisen
vs.
Sich zusammenreisen

Am Flughafen Reykjavík dasselbe Bild wie in Oslo: Die Leute plündern den Duty Free Shop. Körbeweise deckt man sich mit Alkoholika ein, weil ‚im Land‘ die Steuern darauf exorbitant hoch sind.

Hamsterkäufe an skandinavischen Flughäfen: Wann schreitet der internationale Tierschutzbund ein?

Kleine Weltreise – Tagebuch #01

Ab heute beginne ich etwas, was ich nur alle Jubeljahre mal eine Zeitlang mache, und öffentlich habe ich es noch gar nie probiert: Tagebuch führen. Aber da ich mir nun mal vorgenommen habe, dieses Blog konsequent zu führen, ich mehrere Wochen unterwegs bin und nicht genug Material habe, um für die Zeit was vorzuprogrammieren, schreibe ich live hier rein, von unterwegs, vielleicht lohnt es sich ja: Ich mache eine kleine Weltreise. Berlin – Norwegen – Island – Australien – Argentinien – Berlin. Wobei Norwegen (Oslo) nicht zählt, in Oslo war ich schon oft und bin’s immer wieder, daran hab ich mich gewöhnt. Die eigentliche Weltreise geht mit dem Flug nach Island los, vom Flughafen Oslo, also jetzt.

Fotos mache ich nicht. Die öffentlichen Orte der Welt, zumal die Sehenswürdigkeiten, sind zur Genüge fotografiert. (Meine Radiosendung über Matthew Shlomowitz begann mit der Frage: Wären Sie in Pisa, würden Sie den Turm fotografieren, wo er doch schon tausendfach im Netz zu sehen ist?) Statt eigener bringe ich darum gegoogelte Fotos. Das Archiv ist ja wahrscheinlich auch ein Grund, warum man heute so viele Selfies macht: Alles andere ist schon fotografiert. Fehlt nur noch das sichtbar personalisierte Foto. The revolution will be selfie’d.

Flughafen Oslo (Google’d)

Yamaha pss-390, circuit bent

Schöne Circuit-Bending-Nummer von Kostia Rapoport aka Luigi Mono.

Arnold Schönbergs Klavierstück Op. 33a als Eintonstück

Gordon Kampe hat die Zwölftontechnik behutsam in den Konzeptualismus überführt, dank Melodyne.

#Audioguide – Short Cuts

Eine Art ‚best of‘ – fast forward in 37 Minuten durch sieben Stunden.

Florian Käunes Bachelorarbeit über den „Neuen Konzeptualismus“

Florian Käune hat sich in seiner Bachelorarbeit sehr eingehend mit dem Teil meiner Arbeit befasst, der sich dem „Neuen Konzeptualismus“ zuordnen lässt.

In meiner Bachelorarbeit beschäftigte ich mich ausführlich mit dem „Neuen Konzeptualismus“, einem Genre, dessen Grundlagen Johannes Kreidler sowohl mit seinen künstlerischen als auch mit seinen theoretischen Arbeiten legte. Die Arbeit soll eine Beschreibung und musikgeschichtliche Einordnung seines Ansatzes darlegen und geht dabei auf drei Werke Kreidlers genauer ein.


http://florian-kaeune.de/app/download/5798068142/Florian+K%C3%A4une+-+Studie+zum+Neuen+Konzeptualismus.pdf

Eine gekürzte/geänderte Fassung wird später in der Zeitschrift Seiltanz erscheinen.

Regentropfenprélude

Kürzlich gab’s hier Wolken, die Klavier spielen – und hier hat jemand das Auftreffen von Regentropfen auf verschiedenen Untergründen collagiert; zum Glück ohne alles nach 20 Sekunden in 4/4-Takt zu pressen, wie man das sonst meist bei diesen Netzfilmen erlebt.

(via Kraftfuttermischwerk)