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„Neue Musik“, freie Genrewahl und die „gehaltsästhetische Wende“

Aktuell läuft im BadBlog die Diskussion darüber, wie die Dogma-Film-Regeln in der „Neuen Musik“ aussehen könnten.

Erst mal ist es ja kurios, dass ausgerechnet da, wo sonst so oft starre Dogmen (Darmstadt!!!) moniert werden, man sich nun der Dogmen erfreut. Dann wäre mal wieder zu fragen, welche „Neue Musik“ denn gemeint ist – die in Darmstadt geplante, die in Donaueschingen kuratierte, die in Bludenz oder die beim letzten Vermittlungsfestival in der schwäbischen Provinz? Die vom Schott-Verlag oder die vom Hubert-Hoche-Verlag, die, die in Köln gelehrt wird, die, die in Münschen unterrichtet wird oder die an der Hochschule für Musik und Theater Rostock? Die vom Ensemble Recherche gespielte, die vom Ensemble Mosaik oder die von den United Instruments of Lucilin?

Ich versuche tunlichst, ohne historische Vor- und Leitbilder auszukommen. Selbsterfundene Dogmen, ok, dann aber wirklich selbsterfundene, und nicht sich an denen der dänischen Filmemacher aus den 1990ern anlehnen, ja, wenn dann es nicht wieder „Dogma“ nennen, sondern eine neue, eigene Formulierung finden und eine aktuelle innere Notwendigkeit benennen.

Zurück zum „Neue Musik“-Begriff: Wie schon angedeutet, für die plurale Gegenwart wird es immer schwerer, eine derartige Bewegung auf eine Definition zu bringen. Historisch, also im 20. Jahrhundert, war die Definition ziemlich klar: „Neue Musik“ war die atonale Musik; aus der Tradition der „klassischen Musik“ kommend hauptsächlich auf traditionellen Instrumenten im Konzertsaal gespielt. Ich habe früher in einem Text über Popmusik diese Unterscheidung dargestellt. Ich bleibe im Folgenden erst mal bei dieser Definition: Neue Musik = atonale Musik (harmonisch, metrisch, formal).

Das alles zur Einleitung. Worauf ich hinaus will: Moritz beschreibt eine Sache, die ich interessant finde, das produktive Dogma:

„Keine Genres!“

Zunächst sehe ich da kein Problem, im Gegenteil finde ich ja, dass es in der atonalen Musik tatsächlich fast keine Genres gibt, vielleicht die Tape-Musik, das Streichquartett und das Instrumentalkonzert; es mögen sich Konventionen und institutionelle Zwänge einschleichen, aber jedenfalls ist das viel schwächer ausgeprägt im Vergleich zur Etikettierungswut im Pop, etwa die Genre-Manie in der Metal-Musik!

Nebenbei: Immer wieder in der Kunst die Begriffe ausdehnen ist prima, aber die Beschwerde über Genres („Schubladendenken!“) ist niveaulos. Wer sich darüber mokiert, soll sich erst mal bei Hegel über begriffliches Denken informieren.

Die Popmusik ist voll von Genres, man könnte sich einmal fragen, woran das liegt; vielleicht daran, dass es von ihr so viel mehr gibt und sie sich entsprechend ausdifferenziert; und, weil sie formal und klanglich weitaus festgelegter ist, etwa auf rhythmische Schemata, Tempi und Band-Formationen – und weil das Volk die Orientierung braucht?!

Die „Keine Genres“-Definition halte ich dagegen gerade für DEN Ansatz der atonalen Musik schlechthin und bedarf insofern keines neuzuformulierenden Dogmas. Wenn sich aber die Definition der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts (Atonalität) auflöst, dann wäre das zB daran zu sehen, dass sie in diese Bereiche vordringt, also: sich dieser Genres bedient. Spaßeshalber, wem also die Dogma-Bewegung imponiert oder wer das Sendungsbewusstsein verspürt, möge es denn ausrufen:

„Bedient euch der Genres, statt endlos indifferenten Neue-Musik-Sound zu produzieren!“

Dann wären da zB:

Ein „Neue Musik“-Jazzstück (Bebop)
Ein „Neue Musik“-Popsong
Ein „Neue Musik“-Metalgitarrensolo
Ein „Neue Musik“-Schlager
Ein „Neue Musik“-Volkslied
Ein „Neue Musik“-Clubsound
Ein „Neue Musik“-Bossa Nova
Ein „Neue Musik“-Dubstep-Track
usw.

Das erscheint mir als Aufgabenstellung spannend, sich zu überlegen, wie solche Musik sich anhören könnte. Was unterscheidet sie dann von herkömmlichem Bossa Nova? Oder kann es ununterscheidbar für Bossa Nova-Fans ein Bossa Nova sein und für die „Neue Musik“-Eingeweihten auch noch „Neue Musik“ (sogenannte postmoderne Doppelkodierung)? Und dann als Musiktheater eine Neue-Musik-Talkshow..!

Es gibt freilich Ansätze und eine Tradition. Im 20. Jahrhundert wurde oft auf die vorangegangene klassische Musik rekurriert, gerade bei Webern (Variationen für Klavier, Symphonie, Konzert) oder Schönberg (Walzer, Suite) und die italienischen Spielanweisungen als Titel sind nach Lachenmann (Allegro sostenuto, Echo Andante) und Spahlinger (morendo, furioso, sotto voce) zu einem Topos der „Neuen Musik“ geworden. Immer war da der Witz, dass auf Aspekte der eigenen Tradition mit atonalen Mitteln dialektisch Bezug genommen wurde („Hä, wo ist denn da der Walzer?“)

Nun könnte man sich aber auch allen anderen Musiken zuwenden, die originär nicht der „Neuen Musik“ angehören. Strawinsky hat zum Beispiel einen schönen Tango komponiert, oder einen genialen dekonstruierten Ragtime. „Dekonstruktion“ ist ohnehin ein Verfahren, dass hier naheliegt.

Man könnte einmal die klassischen Verfahren der „Neuen Musik“ des 20. Jahrhunderts sammeln:

Bruitismus
Spetraklismus
Komplexismus
Serialismus
Neue Einfachheit
Fragmentästhetik
Massenphänomene
Klangflächenkomposition
Geräuschmusik
Akusmatik
Sampling
Dekonstruktion
Phasenverschiebung
Minimalismus
etc.

Und nun querverbinden (nicht unbedingt als wilde Collage, sondern konzentiert):

Spektral-Schlager
Serielle Metalgitarrensoli
Dixieland-Fragmente
Volkslied-Klangflächenkomposition
Dubstep-Neue Einfachheit
Komplexistischer Popsong
Punk-Massenkomposition
usw.

Bei mir fing das an mit Popmusiksamples, die ich in atonal-strukturelle Satztechniken eingebaut habe. Aber ein Stück wie Charts Music ist dann tatsächlich NUR Popmusik an der Oberfläche, durchgehend 4/4 Takt, durchgehend tonale Harmonien; allein die Form ist eine Reihenform (also ein atonales Formmodell). Aber: Das Stück ist im Ganzen meines Erachtens „Neue Musik“, denn kein Popmusiker würde so ein Stück komponieren.

Der Grund ist nicht, weil ich eben aus der „Neuen Musik“ komme, oder weil ich es in der Szene präsentieren würde (hab ich ja gar nicht, sondern im Netz). Es gibt immer wieder Leute, die aus reiner Provokation tonale Musik an einem Szeneort der „Neuen Musik“ auftischen, als eine Art Ready-Made. Ich denke da an Richard Ayres, der in Donaueschingen mal eine etwas durchgeknallte Marschmusik brachte. Das ist halt eine momentane Provokation, aber lebt allein von dieser Um-Kontextualisierung, der schieren Behauptung, das jetzt mal als „Neue Musik“ zu hören.

Ein Stück wie Charts Music ist darum „Neue Musik“, nun ja, weil es halt „Kunst“ ist und keine Unterhaltungsmusik! (Gleichwohl es bei der GEMA natürlich als U-Musik gehandhabt wird, da sind wir auch noch im 20. Jahrhundert.) Darum gebrauche ich hin und wieder auch die Bezeichnungen „Kunstmusik“ oder „Musikkunst“. Jedoch finde ich immer noch, dass „Neue Musik“ insofern der beste Begriff ist, weil Kunst den Anspruch haben MUSS, irgendwie etwas Neues in die Welt zu setzen; alles andere ist der Mühe und die Subventionssgelder einfach nicht wert.

Was ist an meinem Stück „Kunst“? Harry Lehmann hat die Idee der „gehaltsästhetischen Wende“ ins Spiel gebracht: weg von einer Material-Definition (wenn man darunter die Definition von Atonalität versteht), hin zu einer Definition, die sich am Niveau von Gehalten orientiert. Charts Music ist darum „Neue Musik“, weil es einen Widerspruch zwischen absteigenden Melodien in seichten Pop-Arrangements und ihrer Herleitung, dem ökonomischen Desaster der Finanzkrise 2009, ausdrückt.

Nach der „gehaltsästhetischen Wende“ kann jedes Genre, jede Instrumentalbesetzung, jeder Musikkontext „Neue Musik“ sein, ob tonal oder atonal, ob Kratzen hinterm Geigensteg oder die vier Akkorde einer Punkband. Es geht vielmehr um ihre semantische Konstellation, um die Relation von Gehalten.

Hört sich nach einer großen Befreiung an; jedoch steckt darin auch die Gefahr der Restauration: Es gibt einige Komponisten, denen das die willkommene Legitimation ist, wieder ihre üblichen Klavierkonzerte und Flötensolostücke zu produzieren. Ich will meinen: Mit der „gehaltsästhetischen Wende“ kann es nur ernst sein, wenn wirklich eine umfassende freie Genrewahl stattfindet: wenn ein Komponist – meinetwegen! – ein Klavierkonzert schreibt, aber als nächstes dann die abgefuckteste Elektronikperformance und danach „Neue Musik“-Capoeira. Oder sagen wir: „Kunst“-Capoeira.

Kunst-Schlager
Kunst-Punk
Kunst-Dubstep
Kunst-Pop
Kunst-Blues
Kunst-Klassik
usw.

Hier kommt nun die neue Technologie ins Spiel: Früher war man eben Experte für das eine oder andere Genre und agierte an entsprechenden Institutionen. Heute aber gibt es zB Kompositions- und Abspielprogramme und Informationen im Netz, die es ermöglichen, viel weiter hinaus mit seiner Profession zu gelangen – oder man stellt Hilfskräfte an. Dann erst wird es ernst mit der freien Genrewahl und einer Neu-Definition von „Neuer Musik“.

Wenn es wie das

Wenn es analog zum „Photoshop“ einen „Soundshop“ gäbe: Das Neue-Musik-Effekte-Menü.

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Aphorismen des Tages:

Womit wurde erlebt?

Das Musikmitglied

Hegel ist transformiert

Jagen durch Denken

Zittern ist definiert

Zeit zitiert

beziehen = reduzieren. Kontext = Reduktion

Ein Kommentar

  1. […] Alexander Strauch, 19.09.2012 Wer im Badblog die letzte Zeit Moritz’ DOGMA-Diskussion oder Johannes Kreidlers Genre-Gedanken dazu verfolgte, konnte in den Kommentaren sehen, wie sich unsere Komponistenzunft um diesen Begriff […]