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Wenn man Altes einfach nicht ausstehen kann

Es gibt den menschlichen Zug, Altes nicht zu mögen, und zwar nicht, weil es an Qualität verloren hätte, sondern schlicht und einfach: weil es alt ist. Stichwort Mode – Kleidung, Frisuren oder Vornamen unterliegen stark dem Wandel, und ich kann ziemlich sicher davon ausgehen, dass der/die LeserIn im Jahr 2012 folgende Person – nennen wir sie Hans-Rüdiger – nicht gerne küssen möchte:

(Ich hätte auch Theodor mit Vollbart und Zylinder oder Johann Gotthold mit Allonge-Perücke aufführen können. Selbst das Hitlerbärtchen war einfach eine Mode der 20er-Jahre.)

Auch Kunstwerke enthalten Dinge, die in ihrer Zeit verortet sind: Kleidung, Namen, Technologien, bis hin zur ganzen Gesellschaftsordnung. Hegel in seinen Vorlesungen über Ästhetik:

Man könnte zwar sagen, das eigentlich Vortreffliche müsse für alle Zeiten vortrefflich sein, aber das Kunstwerk hat auch eine zeitliche, sterbliche Seite.

Und daran kann man sich durchaus stören. Rainald Goetz benennt es öfter:

Ich kann auch beim besten Willen Jimi Hendrix nicht hören, es geht nicht, wie Kleist: ich merke wie es abgeht, aber ich halte es nicht aus, weil es so ALT ist. Ich glaube, Bücher, die älter als drei Jahre sind, haben Vergangenheitsgrippe. Das ist hochgiftig und total ansteckend – wie drei Jahre alte Butter essen oder jemanden küssen, der sich vor drei Jahren das letzte Mal gewaschen und die Zähne geputzt hat. Das geht doch nicht, das ist doch ekelhaft.

(Kronos)

Ich kann nicht was lesen, wo ein Mensch vorkommt, der der Kurfürst von Sachsen heißt, oder Graf Kellheim. Das macht mich einfach todtraurig.

(Abfall für Alle)

Das ist etwas anderes als die radikalen Antitraditionalisten. Hier wird nicht im Geringsten die Qualität Kleists angezweifelt oder sein Erfolg geschmäht. Es geht um eine persönliche Aversion (oder soll man sagen Empfindlichkeit? oder Ignoranz?) gegen die „zeitliche Seite“ des Kunstwerks, denn was hat man schon zu schaffen mit Grafen und Marquisen? Wer identifiziert sich gerne mit einer Zeit, in der es kein fließendes Wasser gab? Wer mag sich in das mittelalterliche Weltbild einarbeiten, um die göttliche Komödie zu verstehen? Oder wer mag von so gewaltig viel abstrahieren, um die „zeitlose“, moderne Seite von Dante herausgeschält zu haben?
Es gibt diese Leute freilich. „So wie es Neugier gibt, gibt es auch Altgier.“ (Heiner Müller). Aber es gibt eben auch den menschlichen Zug, Altes nicht zu mögen, und ich denke nicht, dass das nur Ignoranz ist (sorry Hans-Rüdiger, man will dich 2012 einfach nicht küssen!). Praktisch jeder erinnert sich heute mit Grausen an den Deutschunterricht, in dem den Heranwachsenden jedes literarische Interesse mit Pflichtlektüren wie der „Iphigenie auf Tauris“ ausgetrieben wurde.

Mir geht es zum Beispiel mit alten Aufnahmen so. So toll Casals Bach spielt, ich ertrage das Rauschen und Knacken einfach nicht; oder Stummfilme von vor 1914 – ich möchte nicht diese Welt sehen mit ihrer Mode und Wohnungseinrichtungen und ihren komischen Bewegungen. Oder ich kenne einige Leute, die die alten Instrumente, eine Geige oder ein Fagott einfach für völlig altmodisch halten und schlicht nicht hören wollen.

Adorno begrüßt – erstaunlicherweise – die Vergänglichkeit bei Kunstwerken:

Denkbar, heute vielleicht gefordert sind Werke, die durch ihren Zeitkern sich selbst verbrennen, ihr eigenes Leben dem Augenblick der Erscheinung von Wahrheit drangeben und spurlos untergehen, ohne dass sie das im geringsten minderte. Die Noblesse einer solchen Verhaltensweise wäre der Kunst nicht unwürdig, nachdem ihr Edles zur Attitude und zur Ideologie verkam.

(Ästhetische Theorie)

Man kann das nachgerade als Aufforderung verstehen: Modisch sein! Was Hans-Rüdiger in Achtzigern war, das musst Du für die Jetztzeit sein! Oder mit Hegel: das Fließende, Reißende des Strömens der Zeit verstehen. Und damit sind wir bereits in einer Meta-Position, wo es wieder ruhiger zugeht.

Ansonsten ist eigentlich nur dem Hegel’schen Rat beizupflichten:

Werden daher fremde [gemeint sind ältere] dramatische Werke in Szene gesetzt, so hat jedes Volk ein Recht, Umarbeitungen zu verlangen. Auch das Vortrefflichste bedarf in dieser Rücksicht einer Umarbeitung. Man könnte zwar sagen, das eigentlich Vortreffliche müsse für alle Zeiten vortrefflich sein, aber das Kunstwerk hat auch eine zeitliche, sterbliche Seite, und diese ist es, mit welcher eine Änderung vorzunehmen ist.

Ein Plädoyer für’s Regietheater. Und so wird denn auch in Bayreuth auf der Bühne geschissen, Hasen verfaulen und Video kommt zum Einsatz; nur: die Musik bleibt hingegen bis auf ein paar Winzigkeiten (Phrasierungen, Tempi und Dynamiken) völlig unangetastet, also: heilig.

Darum sei die bekannte Marx’sche Sentenz leicht abgewandelt anbeigestellt:

Die Musik wird immer nur verschieden interpretiert; es käme aber darauf an sie zu verändern.

Wieso gibt es kein Regietheater in der Musik? Wieso wird Hans-Rüdiger in der Musik nicht neu frisiert, sondern bestenfalls etwas gekämmt? Doch, es gibt das Regietheater in der Musik, aber ganz woanders: im Remix.

9 Kommentare

  1. flummi sagt:

    Oh ja, darüber mach ich mir grade auch so meine Gedanken. Die Musik hängt in der Entwiklung irgendwie fest. (mal ganz allgemein gesprochen) Ich persönl. hab zur Neuen Musik noch nicht so den Zugang, bzw. ich würde gerne meine eigene neue Musik machen, wenn ich es nur könnte. Ich hab das alles im Kopf aber noch viel zu viel Sorgen u. Probleme und anderen scheiss zu tun um mcih darum zu kümmern. Es gibt nicht viel der Musik mit der ich aufgewachsen bin, die mir immer noch was bedeutet – (wenn ich es mir genau überlege war das allerdings damals auch schon so -)) das sind bei mir dann so ganz spezielle seelsiche Verknüpfungssachen, auf einer speziellen Ebene die irgendwas mit mir u. meiner Weiterentwicklung zu tun haben. Ich hasse z.b. auch das Kiffen. irgendwie ist Kiffen ein Entwicklungshemmer. So hab ich zumindest das Gefühl, auch wenn ich mir Leute ansehe die das (immer noch u. seit Jahrzehnten!) regelmäßig zelebrieren – u. ich kann auch keine E-Gitarren Orgien ertragen und auf mittelalterliche Märkte braucht mich auch keiner zu schleppen. Andererseits ist die Balinesische Gamelanmusik, die ja auch uralt ist, mein sErweckungsgong. Daraus würde ich gerne was schaffen. Schlimm finde ich, wenn die dann in so Wellness-Weltmusikgeplätscher eingewoben wird, das kann ich nicht ertragen. Da gehts dann aber gar nich so um alt und neu das sind so ganz spezifische Punkte wo dann entweder eine erneuende Kraft einsetzt, oder der Untergang der Titanic, oder Atlantis etc. zelebriert wird.

    Mal am Beispiel Gamelan

    http://gruenegummizelle.blogspot.com/2012/02/heutige-ich-mir-selbstverordnete.html

    Das Stück Gambangan im ersten vido inspiriert mich so dermaßen, es wird auf einem nach indonesischen Tonleitern gestimmten Klavier gespielt, ich könnte das Stundenlang immer wieder abspielen u. innerlich darin aufgehen, ich könnte mich da reinlegen u. das Stücke weiterspielen, könnte da noch technische Klänge etc einweben und und und…. bei den beiden anderen Sücken im 2. video (das erste u. letzte) kommt aber ein Element dazu, das mich zutiefst deprimiert, das erinnert mich dann an diese alten Hollywood-kolonialfilme

    Es geht also nicht einfach nur um alt u. neu, ich kann das schlecht beschreiben, mir fehlt da die Sprache u. die musikalische Grundbildung um das richtig erörtern zu können. Es geht irgendwie um Element die etwas freisetzen oder um solche, die etwas festsetzen. Hoffe ich hab mich einigermaßen verständl. ausgedrückt

    So mal ganz aus meiner subjektiven, unprofessionellen Sicht gesprochen. Danke jedenfalls für deine Ausführungen, treffen grade was, das mich sehr beschäftigt

    Gruß von Flummi

  2. flummi sagt:

    ps. vermutlich gibt es alte Musik,die moderner ist als neue und umgekehrt

  3. flummi sagt:

    alle guten Dinge sind 3
    und so gibt es
    da Sein, (das ewig Seiende)
    das Werden (und Streben)
    und das Vergehen (sich Auflösende)

    problematisch ist, wenn sich das Vergehende, das Vergängliche auf den Thron des Seins setzt

    oder das Werdende, Strebende in Ketten gelegt wird

    und das Sein, das ewig Seiende verleugnet und verleumdet

  4. Muti sagt:

    Bei Goetz ist das auch Pose. Er gefällt sich sichtlich in der Rolle des Popjunkies, der diese komischen alten Namen für behindert hält. Wahrscheinlich stört Leute wie ihn mehr als die alten Namen die bürgerliche Kulturszene, mit der die Klassiker assoziiert werden.

  5. Dave sagt:

    Hmm, der Umkehrschluss – und dieser wäre hier zulässig – würde allerdings bedeuten, dass man Neues nich mag, weil es gut ist, sondern nur, weil es neu ist.

    Und wer Altes nur deshalb nicht mag, weil es nicht neu ist, ist mir höchst suspekt …

    Im obigen Artikel werden Dogmen verbraten – substantielle Argumente lese ich keine.

  6. Kreidler sagt:

    Hi Dave,
    mit substantiellen Argumenten ist es hier schwer, es geht erst mal um die Feststellung, dass Leute manches Alte wegen des Alters nicht mögen. Man müsste jetzt vielleicht mit Psychoanalyse oder so kommen, aber jedenfalls ist die Feststellung nicht frei erfunden. Vielleicht hast Du ja eine Erklärung?

  7. Mathias sagt:

    Hallo Johannes,
    zur Frage nach dem Regietheater in der Musik:
    könnte man z. B. Zenders „komponierte Interpretation“ der Winterreise dazu zählen? Oder vergleichbare Sachen von Haas (Schubert, Skrjabin)oder Hidalgo(Beethoven)? Was meinst du?
    Na ja, vielleicht kann man diese Beispiele nicht alle über denselben Kamm scheren – um mal bei der Friseurmetapher zu bleiben. ;)

  8. Kreidler sagt:

    Hi Mathias, ja, das sind durchaus Ansätze, wenn auch für meinen Geschmack noch zu sehr in „Hommage“-Haltung.

  9. Felsenstein sagt:

    Hans-Rüdigers „Frisur“ ist wirklich Geschmackssache und bietet unbestreitbar Stoff für lange, winterliche Diskussionsabende. Aber wenn man affin oder eben nicht gegenüber zeitlich geprägten Dingen ist, liegt es wohl auch daran, wie man sie selbst sehen WILL. Wir vergessen über dem offensichtlichen Ja und Nein so überaus gern unsere ambivalente Natur, die eben heute noch zu süß neigt, morgen wieder zu sauer. Wobei dieses Morgen auch Jahre später an die Tür klopfen mag. Das richtige Maß an dem, was uns liegt/was nicht, rüttelt sich wohl erst über Dekaden zurecht. Manchmal…