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Showtime – Essay #1 zu Feeds

Es geht doch nichts über eine gediegene Theorielastigkeit! Während der Entstehungs- und Probenzeit von „Feeds. Hören TV“ habe ich drei Essays geschrieben, die hier in den nächsten Tagen gepostet werden, den Anfang macht:

Showtime

Zum Musiktheater Feeds. Hören TV.

1.

Ich habe mir angewöhnt, das Gewicht aufs Medium zu legen. Ein Komponist mag heute mit Meisterschaft eine Fuge schreiben, es interessiert aber nicht, weil die Grundidee, die Fuge, hinfällig ist (manches stirbt eben doch praktisch aus, Postmoderne hin oder her). Desgleichen: Streichquartett, Flötensolo, Klarinettensolo, Liederzyklus, Oper, Violinkonzert u.v.m. Das ist natürlich alles nur die ganz ganz subjektive, momentane Meinung von mir. Wobei ich mir wirklich nicht vorstellen kann, dass das Clavichord jemals wieder bedeutend wird.

2.

2004 wurde in einem Programmheft Brian Ferneyhoughs Oper „Showtime“ angekündigt. Donnerwetter, dachte ich, jetzt springt der Alte über seinen Schatten! Aber der Schatten war doch größer, im Programmheft der Fehlerteufel: Ferneyhoughs Oper hieß natürlich Shadowtime.

3.

Grundfehler im zeitgenössischen Musiktheater:

-dass immer Musik laufen muss. Als ob die Gleichzeitigkeit von Theater und Musik definitorisch sei! So kommt es, dass Dokumentartheater und Theorie auf der Bühne dem Musiktheater noch fast unbekannt sind.

-dass es literarische Vorlagen sein müssen. Nein, in Feeds ist nicht alles ästhetisch. Wenn Musiktheater der Ort der Integration ist, dann auch von Ästhetischem und Nicht-Ästhetischem, Sinnlichem und Begrifflichem.

-dass Musiktheater der Ort ist, an dem verschiedene Künste zusammenwirken. Fördergremien suchen noch immer das Team aus genialem Librettisten, genialem Komponisten, genialem Bühnenbildner und genialem Regisseur, so viel Geld soll ja sozial werden, und dann kriegen wir das 400prozentige Gesamtkunstwerk!! – Akzeptiert es endlich: Zu viele Köche verderben den Brei. Zunächst ist Musiktheater einfach der Ort, an dem verschiedene Medien zusammenwirken.

(Ich kenne in der ganzen Operngeschichte ohnehin nur einen einzigen Fall kongenialer Text-Musik-Verbindung: den Wozzeck. Und auch da war der Librettist schon lange tot und musste sich dem Komponisten unterordnen. Nicht dass Komponisten per se die Kompetentesten wären, aber es braucht einfach einen Chef. Nichts ist weniger kommunistisch als Kunst. Wo bleibt der Autorenfilm im Musiktheater?)

4.

Neue Musik ist ausdifferenziert in Konzerte, Lehre und Wissenschaft. Das Musiktheater als die integrative Gattung ist der Ort, die Teildisziplinen wieder in das Kunstwerk hereinzuholen. Insbesondere der theoretische und diskursive Bereich eröffnet noch einen großen, erweitert-theatralen Spielraum – und die neu entstandenen Themen rund um Musik und Klang in der Digitalen Revolution bieten inhaltlich eine Menge Stoff.

5.

Dies performativ darzustellen, heißt, selbst die Digitale Revolution zu verkörpern. Nie war es so einfach und so billig wie jetzt, Video-Formate zu produzieren und zu publizieren: Digitalkameras und das Internet bringen eine enorme Demokratisierung der Medien mit sich. Auch hier ist das Musiktheater als dezidiert experimentelle Form prädestiniert, das für sich zu nutzen und neue Formen, „Formate“ zu definieren.

6.

Feeds ist eine Neue-Musik-Talkshow, ohne jede Verhohnepiepelung, aber mit viel Oberfläche als Widerstand. Schließlich bedarf das Einfache der Interpretation. Pop ist ein Code, eine Verschlüsselung – eine Ästhetisierung. (Die BILD ist ästhetischer, insofern komplexer als die FAZ und besser für die Kunst geeignet. Ein Schuhladen muss ästhetische Fragen lösen, nicht die Philosophie; Apple hat das Bauhaus verstanden.)

Talkshow als Format – aber was ist das für eine Form? –Eine Nummernoper. Es geht dabei auch um ein Problem des musikalischen Konzeptualismus: dass ein Konzept schwer auf eine Dauer gebracht werden kann. Konzepte sind von Natur aus in der Regel kurz. Das wird hier kompensiert durch Menge: „Petersburger Hängung“.

Ich kenne hierfür keine direkten Vorbilder. Das ist experimentelles Musiktheater!

7.

Warum moderiert der Komponist, und nicht ein Schauspieler? – dann wäre ja alles Spiel und harmlos glatt. Es leben die Performer, peinlich sind Schauspieler!

8.

Feeds bezieht sich in Vielem auf die klassische Avantgarde. Es wird nicht nur äußerlich technisiert mit neuen Medien, sondern auch die Errungenschaften der historisch gewordenen Avantgarde zu Techniken funktioniert (angewendet auf Gesellschaftliches, Heutiges, Diesseitiges, Körperliches):

-Zufall (Cage), in Feeds als klangliches Ergebnis von Fragerunden;

-Hirnstom-Klangkunst (Lucier), in Feeds als Messung der Zuhöreraufmerksamkeit;

-Instrumentenpräparation (Cage), in Feeds werden Instrumente mit Geld präpariert (Bemerkung: Diese Idee war leider nicht realisierbar), und allgemein das Hören durch sprachliche Vor-Informationen;

-Algorithmische Komposition / statistische Musik (Xenakis), in Feeds als Umrechnung von Einkommensstatistiken und Börsenkursen in Musik;

-Klangrecherche (Nono), in Feeds als aggressiver Akt des Eindringens in Instrumente;

-Raummusik, in Feeds als ausgewiesene psychologische Manipulation;

-Stille (Cage), in Feeds als Medium des Tinnitus;

-Geräuschmusik (Lachenmann); in Feeds mit Pop als Mediengeräusch;

und aus der traditionellen Musik:

-Architektur in musikalischer Proportionen umgesetzt (Renaissance), in Feeds ein Bordell

-Zahlensymbolik (zB Bach), in Feeds steht die Anzahl der Noten für Löhne in Euro

Das wären Beispiele für eine Wende zur Gehaltsorientierung; gleichsam wird die Avantgarde historisiert. Aufbruch!

9.

Feeds. Hören TV ist Konzertsaal und Hörsaal, Studio und Umerziehungslager. Eine Show – es werden gezeigt: Medien.

Ist das alles Neue Musik? Ich wüsste nicht, was es sonst sein könnte.

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