[…] In der Elektronik bezeichnet man mit Glitch [glɪtʃ] eine kurzzeitige Falschaussage in logischen Schaltungen. Diese tritt auf, weil die Signallaufzeiten in den einzelnen Gattern niemals vollkommen gleich sind. Die Anfälligkeit für Glitches steigt mit der Komplexität der Schaltungen, kann aber auch bereits bei sehr einfachen Schaltungen vorhanden sein. Sie stellen ein wesentliches Problem bei der Entwicklung moderner elektronischer Schaltungen und schneller Mikroprozessoren dar.
[…] Als Glitch [glɪtʃ] wird in der Fernseh- und Videotechnik eine kurzzeitige Falschausgabe von Bild- oder Toninhalten bezeichnet, ähnlich den Glitches in der Elektronik.
Diese Fehler treten häufig beim Spulen innerhalb eines Filmes bzw. beim Wiedereinsetzen des Filmes nach einem Spulvorgang auf, wenn die benötigten Daten nicht schnell genug zwischengespeichert und wiedergegeben werden können.
Ebenfalls entstehen Glitche(s) beim Interpolieren von einzelnen Datenbestandteilen des Signals, welche bei einem Kopier- oder Übertragungsvorgang verfälscht oder ausgelassen wurden.
Im Bild wirkt sich das durch vemehrte Artefaktbildung oder gar andersfarbige Klötzchenbildung aus. Beim Ton kann es zu störenden Verzerrungen der Frequenz oder Nebengeräuschen kommen.
Fehlerästhetik #2: visuelle Artefakte / Glitches
Fehlerästhetik #1: Glitches, Clicks & Cuts
Heute beginnt eine zwölfteilige Reihe, die über die nächste Zeit verteilt hier erscheint. Thema ist die ‚Fehlerästhetik‘ in Musik und visueller Kunst. Das Thema ist interessant und reichhaltig, aber Ziel der Abhandlung ist eine Kritik. Los geht’s erst mal mit Materialsammlung. Heute: Glitches, Clicks & Cuts in der Musik. Gemeint sind typische Fehler in der Produktion von elektronischer Musik – Klickgeräusche, gegenmetrische Schnitte und andere Störelemente wie zB ein Hänger in der CD (siehe auch Wikipedia). Die Ästhetik wurde in den letzten beiden Jahrzehnten exzessiv durchgeführt, hier nur ein paar wenige Beispiele:
http://hoteldiscipline.net/wp-content/uploads/2008/10/careless-semantics-12-reasons-to-live.mp3
Glitch music caused by a Game Genie. The code used actually affects all the music in the game, but most of the music in this video is in World 1. It also makes some of the sound effects sound more Atari 2600 like.
Kreidler @Witten
Morgen findet an der Universität Witten das Symposium „Musik als Material – Bearbeitung, Sampling, Bricolage“ statt. Dort werde ich den Vortrag „Paneklektizismus“ halten.
Abstract:
Paneklektizismus
Außer dem nur noch selten gelingenden Kunststück, einen nie gehörten Klang hervorzuzaubern, bedienen sich die Komponisten heute zwangsläufig des Bestehenden. Das betrifft nicht nur musikalische Grundelemente, wie die 88 Tasten des Klaviers, sondern auch deren Kombinationen. Instrumentale Gesten, standardisierte Satztechniken und expressive Topoi sind allgegenwärtig und können nach 100 Jahren Neue Musik und 30 Jahren ihrer institutionellen Durchorganisierung kaum noch umgangen oder umgedeutet werden (ähnlich gilt das auch für die Popmusik); endgültig wird durch das Internet, das „totale Archiv“, das Vergessen der Kunstgeschichte nahezu unmöglich. Darum setzt ein Kategorienwechsel ein: Die Frage ist immer weniger, ob ein Komponist zitiert, sondern was, wie und wofür.
Musik als Material – Bearbeitung, Sampling, Bricolage
Eine Tagung des Lehrstuhls für Phänomenologie der Musik findet in Kooperation mit den „Wittener Tagen für Neue Kammermusik“ am Freitag, 27. April 2012, im Haus Witten statt.
Mit Vorträgen und Diskussionen von und mit:
Roger Behrens – Philosoph, Sozialwissenschaftler
Christian Grüny – Philosoph
Jörn-Peter Hiekel – Musikwissenschaftler
Rainer Nonnenmann – Musikwissenschaftler
Marc Andre – Komponist
Johannes Kreidler – Komponist
Elmar Lampson – Komponist
Ingo Ernst Reihl – DirigentDie Frage nach dem musikalischen Material ist alles andere als neutral. Die grundsätzliche Frage, was im Falle der Musik als ihr Material gelten kann, wird von vornherein von derjenigen überlagert, welches Material überhaupt zu einer gegebenen Zeit zur Verfügung steht. Wenn es eine neutrale Bestimmung musikalischen Materials nicht geben kann, ist die Frage nach dem Material immer historisch gesättigt und normativ aufgeladen – auch wenn man nicht mehr Adorno folgend von einem „Stand des Materials“ sprechen mag.
Hinzu kommt die Heterogenität dessen, was überhaupt als musikalisches Material angesprochen werden kann: Töne, Tonsysteme, Wendungen, überkommene Formen, Geräusche, instrumentale Konstellationen etc. Abgesehen von dem Fall, in dem außermusikalisches Klangmaterial musikalisiert wird, liegen alle diese Materialien nur in der Musik oder besser als Musik vor. Das Material von Stücken sind Dimensionen anderer Stücke.
Ein besonderer Fall tritt dann ein, wenn Musikstücke als solche den Ausgangspunkt einer Komposition bilden. Klassisch ist die Bearbeitung eines anderen Stücks, die sich mehr oder weniger weit von diesem entfernen kann, um möglicherweise zu einem neuen Stück eigenen Rechts zu werden. Zu diesem traditionell „erlaubten“ Fall treten im 20. Jahrhundert Verfahren, die mit Versatzstücken anderer Kompositionen arbeiten, sie montieren, sie verfremden, nebeneinander stehen lassen, in neue Zusammenhänge stellen, als Fremdkörper in eigenen Gestaltungen auftauchen lassen und anderes mehr. Das organische Kunstwerk wird zur Bricolage. Das mittlerweile für jedermann erreichbare technische Verfahren des Samplings erweitert die Möglichkeiten hier unabsehbar – verglichen etwa mit John Cages monatelanger Arbeit an den vier Minuten von Williams Mix, einer Art analogem Sampling avant la lettre.
Die Tagung stellt die Frage nach Möglichkeiten und Legitimität dieser Art von Bearbeitung, die bei aller Kritik an der Vorstellung eines Materialstandes doch immer wieder als einzig angemessene Form des Umgangs mit der Tradition affirmiert oder als Regression verfemt wird.
Termin: Freitag, 27. April 2012 (10 Uhr – 17.30 Uhr, Haus Witten, Ruhrstr. 86, Otto-Schott-Saal). Der Eintritt ist frei.
10:00 Uhr Christian Grüny (Witten) : Einführung
10:30 Uhr Jörn Peter Hiekel (Dresden) : Provokation oder Selbst-
verständlichkeit? Kreative Neudeutung vorhandenen
Materials als Konstante (nicht nur) der Musik des
20./21. Jahrhunderts11:30 Uhr Johannes Kreidler (Berlin) : Paneklektizismus
12:30 – 13:30 Uhr Mittagspause
13:30 Uhr Rainer Nonnenmann (Köln) : Mediale Unschärferelation.
Zur Produktion von Musik durch ihre Reproduktion14:30 Uhr Roger Behrens (Hamburg) : Kritik, Material, Ästhetik.
Einige Überlegungen angesichts der aktuellen gesell-
schaftlichen Lage der Musik15:30 – 16:00 Pause
16:00 Uhr Podium mit den Komponisten Marc Andre (Berlin), Johannes Kreidler (Berlin), Elmar Lampson (Hamburg)
Moderation: Ingo Ernst Reihl (Witten)17:30 Uhr Ende der Tagung
Eine Veranstaltung der Fakultät für Kulturreflexion
– Studium fundamentale –
Sekretariat: Tel. 02302-926815Weitere Informationen:
Hier finden Sie den Flyer zur Tagung.
Hier finden Sie Informationen zu den Wittener Tagen für neue Kammermusik.
Komponieren heute (Langversion)
Ich habe längst aufgehört, alleine zu komponieren.
Meine Ansprüche an das Kunstwerk sind derart gestiegen, und die Welt heute ist so komplex, dass ich auf einige Hilfe angewiesen bin. Man sollte sich ja keiner technischen und menschlichen Hilfsmittel enthalten, denn sonste würde das ja nur bedeuten, sich künstliche Probleme zu schaffen. So wie ich ein Instrumentalensemble zur Aufführung brauche, nehme ich eben auch eine Legion an Arbeitskräften für die Komposition in Dienst. Es gibt viel zu viel, was ich nicht kann und mich sonst einschränken würde. Erst dieses Arsenal an Möglichkeiten ermöglicht mir die heute gebotene Materialbeherrschung und Flexibilität.
1. Marktforschung. Mein Recherche-Team besucht Festivals, hört Radiosendungen, außerdem geht es auf Kunstausstellungen und zu Theaterpremieren, aber vor allem durchforstet es das ganze Internet, also Podcasts und Musikblogs weltweit, nach neuesten Trends und Techniken, sprich: nach dem Zeitgeist. Des weiteren werden Facebook-Umfragen durchgeführt, Ideen an Probanden getestet, Hochleistungscomputer ermitteln statistische Trends und evaluieren Ästhetiken.
Es geht hierbei nicht darum, die Formel für das „perfekte“ Stück zu ermitteln, sondern schlichtweg um Weltaneignung.
2. Ein Kreativteam entwickelt Ideen – Originalität ist Pflicht!; alle erdenklichen Kreativitätstechniken (Brainwriting, Edison-Prinzip, Kopfstandtechnik, Mind Mapping, Galeriemethode, KJ-Methode, Bisoziation, Zufallstechniken, Tilmag-Methode usw.) kommen zum Einsatz. Ein eigenes Büro ist allein für Titelfindung und Programmtext zuständig. Die Hintergrundphilosophien werden in einem Think Tank in Connecticut entwickelt, von dort bekomme ich auch meine Vorträge geschrieben.
3. Ein Subunternehmen von Soft- und Hardwareentwicklern bleibt auf dem aktuellen Stand der Audio-Technik, besorgt Lizenzen von Fremdtechnologie (vielleicht betreiben sie auch Industriespionage, ich überlasse das ihnen) und entwickelt selber Software und Geräte.
4. Die Ausarbeitungsfirma schreibt die Partitur und erstellt die Elektronik. Ich bin dabei fast nie zugegen, was auch besser so ist, bzw. will man mich da auch gar nicht sehen; ich würde das Produkt eher verschlechtern. Ein Detektiv macht aber Stichproben. Ich höre das Stück meistens erst im Konzert.
Den Großteil übernimmt ohnehin maschinelle Intelligenz. Längst wäre all das nur von Menschenhand und -hirn nicht mehr umsetzbar.
5. Die „Special-Effects“-Abteilung optimiert die ganze Partitur und löst klanglich schwere Aufgaben. Wir haben hierfür Spitzenkräfte aus aller Welt gewinnen können. Abwerbungen – man spricht nicht gerne darüber – kommen natürlich auch vor. Die Politik hingegen freut sich sehr darüber, dass wir nächstes Jahr eine eigene Akademie für Nachwuchs gründen.
6. Ich bin bei all dem der Chef, der das Ganze koordiniert, am Ende die Verantwortung übernimmt und die „Marke“ bildet. Ich bin die öffentliche Person des Ganzen, stehe für Interviews zur Verfügung, repräsentiere in Konzerten und bin auf den Partys. Machen wir uns nichts vor: Die Kunstproduktion ist diktatorisch. Es gibt „Schwarmintelligenz“, aber keinen Kunstkommunismus. In der Kunst braucht es viele Hände und Hirne, jedoch einen Mastermind, der alles zusammenhält, der den Produktionsgeist wach hält, der bezahlt und der überhaupt die richtigen Leute findet und versammelt.
Ich beschreibe dies, weil es darum geht, möglichst bewusst zu praktizieren, was subkutan als Prinzip eh immer mehr waltet. Das alles soll ins Werk gesetzt werden. Sowieso ist solche Arbeitsteilung in der Bildenden Kunst Jahrhunderte alt (Rubens’ Atelier war bereits eine Fabrik).
Es geht überhaupt nicht darum, Geld zu erwirtschaften – das ist in der Neuen Musik ja fast nicht möglich. Tatsächlich sind die Produktionskosten ungleich höher als die Einnahmen aus dem Kunstwerk. Akquise, Fundraising und Lobbyarbeit gehören darum gleich an den Beginn des Produktionsplans.
Es geht darum, ein hypermodernes Kunstwerk zu schaffen.
Ganz gelegentlich verspüre ich den sentimentalen Wunsch, einmal selbst Hand anzulegen. Dann heuere ich bei einer anderen Komponistenfirma als einfacher Arbeiter an. Ich weiß meist gar nicht, für wen ich dann arbeite; einmal habe ich, Jahre später, im Konzert zufällig ein Stück wiedererkannt, an dem ich einen bescheidenen Anteil habe. Ein anderes Mal offenbarte sich irgendwann, dass es ein Zulieferbetrieb meines eigenen Konzerns ist, in dem ich tätig bin. Ich merkte es daran, dass so eine typische Skandal-Sache inszeniert wurde, die mir einigermaßen zuwider war. Ich kündigte. (Später las ich in der Zeitung, dass das Stück ein großer Erfolg wurde.)
Mittlerweile ist der Weltmarkt für Kunstmusik zwischen vier Konzernen aufgeteilt – einem eher nach der klassischen Musik orientierten, einem eher spielerischen, einem eher konzeptuellen und einem eher abstrakten Programm angehörigen –, von dem immerhin einer meinen Namen trägt. Unschöne Patentprozesse und Kartellverfahren überschatten allerdings die Kunstwelt. Ich bin derweil vereinsamt und lasse mich gar nicht mehr blicken. Einmal juckte es mich tatsächlich, mal wieder auf ein Notenblatt zu schreiben, was reichlich lächerlich ist. Das wäre wie wenn ich von Hand ein Auto bauen wollte, mit dem ich dann mit Mercedes und Porsche konkurrieren wollte.
Mein Konzern verbreitet zur Zeit einen Text, in dem man mich zur mythologischen Gestalt machen will. Man erhebt mich zu einer unbekannten Größe im ganzen Prozess, niemand weiß, was ich, der ja firmiert, eigentlich für einen Anteil an den Kunstwerken habe, wer ich überhaupt bin, ja ob es mich überhaupt gibt. Ich fühle mich außerstande, dem etwas dagegenzuhalten.
Wozu Fiktion?
In der (print-) Süddeutschen Zeitung vom 12.3.2012 steht ein interessanter Artikel von Burkhard Müller, worin dieser moniert, dass die (deutschen) Schriftsteller heute nur noch recherchierten und ihre eigene Biographie ausbeuteten, statt auch mal etwas zu erfinden (und auch die FAz widmet sich aktuell dem Thema).
Ich fühle mich da direkt angesprochen, habe ja schon oft postuliert, dass man das Rad nicht neu zu erfinden bräuchte („Komponieren heißt, ein Instrument klauen“), dass es ethischer sei, auf dem Vorhandenen aufzubauen statt sich selbst etwas vermeintlich Eigenes aus den Fingern zu saugen, dass Phantasmagorien solipsistisch seien und referenzlose Texte überheblich, dass man ja schon in eine existierende Welt hineingeboren würde usw.
Wenn ich etwa in den aktuellen Musik-Konzepten über Mathias Spahlinger davon lese, dass es Spahlinger um die Zersetzung von Ordnungen zu tun ist, was zB derart geschieht, dass zu Beginn des 4. Satzes der „farben der frühe“ eine Skala c’-h-a-gis gesetzt ist, die dann aufgelöst wird (Seite 34ff), dann kommt mir gleich in den Sinn: Warum so eine abstrakte Selbst-Setzung zer-setzen? In diesem Medium (atonale chromatische Tonhöhen) ist es ja kein Kunststück, kein Stein auf dem anderen zu lassen. Warum dekonstruiert er keinen kapitalistischen Pop-Song? Und ebenso lese ich lieber literarische Tagebücher und Essays als Romane, mag Dokumentationen oft lieber als Spielfilme und finde Malerei meist langweilig, weil willkürlich – die Leinwand ist ja für die Farbe gar kein Widerstand.
In der Musik nennt man diese Ästhetik „Autonome Musik“ – Musik, befreit von einer Funktion, Musik, die sich ein Medium geschaffen hat, das in sich keinen vorgegebenen, ewig-gültigen Gesetzen unterworfen ist, wo keine vorgegebenen Zwänge herrschen und alles frei kombinierbar ist. Spahlinger sagt gerne, dass wir ja im Alltag nicht ständig zB an der Bedeutung der Wörter zweifeln, sondern sie einfach verwenden – „nur sonntags sozusagen, als kunst und philosophie wird der autoreflexive charakter der sprache inhaltlich.“ (aus einem Vortrag 2001). Und genau das möchte ich und wohl eine ganze Generation nicht (mehr). Das Konzert ist nicht Sonntag, nicht Ausnahmezustand, nicht abgesichertes Labor, nicht Spielwiese, wo man sich mal ganz der Autoreflexion zuwenden kann. Die Trennung wird gefährlich, wenn Autoreflexion nur noch in der Abschottung, im keimfreien Raum möglich wird.
Und so kommt es: Man darf zwar, Moderne und Postmoderne sei Dank, so unendlich Vieles in der Kunst heute unbescholten – ob tonal oder atonal, C-Dur ohne Ende oder Kratzen hinterm Geigensteg bis zum Exzess, c’h-a-gis und danach c’-h-ais-gis, man darf in den zentralen Parametern der Musik praktisch alles, aber stattdessen suchen Komponisten ausgerechnet die Bereiche auf, in denen ihre Freiheit doch wieder begrenzt ist, wo der schützende Rahmen wiederum Limit ist, wo erneut die Nicht-Autonomie diktiert, wo man Sachzwängen ausgesetzt ist: Feldaufnahmen werden transkribiert, Samples bestehender Musik werden geremixt, Low-Tech Hardware und billig-kommerzielle Software verwendet, so wie vergleichbar auf Theaterbühnen unbeholfene Laien statt der ausdruckssouveränen Schauspieler stehen und Schriftsteller sich an Gegebenes halten, statt sich in den freien Weiten der Imagination zu bewegen.
In der SZ veranschaulicht Burkhard Müller diesen – seines Erachtens – Mißstand anhand eines Vergleichs mit dem 19. Jahrhundert:
Heute wäre es ganz undenkbar, dass eine Neuerscheinung „Anna Karenina“, „Madame Bovary“ oder „Effie Briest“ hieße; man würde sofort der Namensgebung mißtrauen und sie für eine ohnmächtige Anmaßung der Willkür halten.
Erstaunt stellt Müller fest, dass gerade im 19. Jahrhundert das Subjekt doch unfrei gewesen wäre, von Klasse, Weltanschauung, Region, Erziehung usw. eingeengt, während heute dagegen die große Zeit des Individuums sein müsste, wo all das nicht mehr so dominant das Leben bestimmt.
Dieses Paradox ist aber just der Grund. Karl May erfand seine Wildwest-Geschichten im Gefängnis, während die heutige Freiheit der autonomen Musik (c‘-h-a-gis!) eher eine „leere fröhliche Fahrt“ (Kafka) zu sein scheint. Und darum sucht man lieber Halt im Materialismus, an realen Grenzen, an den Normen des Faktischen, statt dass man die unendlich vielen Möglichkeiten mit Tonhöhen nutzt und genießt.
Die Freiheit („Autonomie“), die die Kunst hat, ist heute doch nur dann ein Wert, wenn damit an den realen Unfreiheiten gearbeitet wird. Eine schöne Empfehlung spricht der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich aus:
Der Künstler sollte lieber darüber nachdenken, wie er Sujets, die auch ein Wissenschaftler, Dienstleister oder Designer verfolgen mag, auf seine Art und Weise in Szene setzen kann. nur dann ist ihm die Freiheit, die ihm auferlegt ist, eine Chance.
(in: Gesucht – Kunst!, S. 64)
Wenn man Altes einfach nicht ausstehen kann
Es gibt den menschlichen Zug, Altes nicht zu mögen, und zwar nicht, weil es an Qualität verloren hätte, sondern schlicht und einfach: weil es alt ist. Stichwort Mode – Kleidung, Frisuren oder Vornamen unterliegen stark dem Wandel, und ich kann ziemlich sicher davon ausgehen, dass der/die LeserIn im Jahr 2012 folgende Person – nennen wir sie Hans-Rüdiger – nicht gerne küssen möchte:
(Ich hätte auch Theodor mit Vollbart und Zylinder oder Johann Gotthold mit Allonge-Perücke aufführen können. Selbst das Hitlerbärtchen war einfach eine Mode der 20er-Jahre.)
Auch Kunstwerke enthalten Dinge, die in ihrer Zeit verortet sind: Kleidung, Namen, Technologien, bis hin zur ganzen Gesellschaftsordnung. Hegel in seinen Vorlesungen über Ästhetik:
Man könnte zwar sagen, das eigentlich Vortreffliche müsse für alle Zeiten vortrefflich sein, aber das Kunstwerk hat auch eine zeitliche, sterbliche Seite.
Und daran kann man sich durchaus stören. Rainald Goetz benennt es öfter:
Ich kann auch beim besten Willen Jimi Hendrix nicht hören, es geht nicht, wie Kleist: ich merke wie es abgeht, aber ich halte es nicht aus, weil es so ALT ist. Ich glaube, Bücher, die älter als drei Jahre sind, haben Vergangenheitsgrippe. Das ist hochgiftig und total ansteckend – wie drei Jahre alte Butter essen oder jemanden küssen, der sich vor drei Jahren das letzte Mal gewaschen und die Zähne geputzt hat. Das geht doch nicht, das ist doch ekelhaft.
(Kronos)
Ich kann nicht was lesen, wo ein Mensch vorkommt, der der Kurfürst von Sachsen heißt, oder Graf Kellheim. Das macht mich einfach todtraurig.
(Abfall für Alle)
Das ist etwas anderes als die radikalen Antitraditionalisten. Hier wird nicht im Geringsten die Qualität Kleists angezweifelt oder sein Erfolg geschmäht. Es geht um eine persönliche Aversion (oder soll man sagen Empfindlichkeit? oder Ignoranz?) gegen die „zeitliche Seite“ des Kunstwerks, denn was hat man schon zu schaffen mit Grafen und Marquisen? Wer identifiziert sich gerne mit einer Zeit, in der es kein fließendes Wasser gab? Wer mag sich in das mittelalterliche Weltbild einarbeiten, um die göttliche Komödie zu verstehen? Oder wer mag von so gewaltig viel abstrahieren, um die „zeitlose“, moderne Seite von Dante herausgeschält zu haben?
Es gibt diese Leute freilich. „So wie es Neugier gibt, gibt es auch Altgier.“ (Heiner Müller). Aber es gibt eben auch den menschlichen Zug, Altes nicht zu mögen, und ich denke nicht, dass das nur Ignoranz ist (sorry Hans-Rüdiger, man will dich 2012 einfach nicht küssen!). Praktisch jeder erinnert sich heute mit Grausen an den Deutschunterricht, in dem den Heranwachsenden jedes literarische Interesse mit Pflichtlektüren wie der „Iphigenie auf Tauris“ ausgetrieben wurde.
Mir geht es zum Beispiel mit alten Aufnahmen so. So toll Casals Bach spielt, ich ertrage das Rauschen und Knacken einfach nicht; oder Stummfilme von vor 1914 – ich möchte nicht diese Welt sehen mit ihrer Mode und Wohnungseinrichtungen und ihren komischen Bewegungen. Oder ich kenne einige Leute, die die alten Instrumente, eine Geige oder ein Fagott einfach für völlig altmodisch halten und schlicht nicht hören wollen.
Adorno begrüßt – erstaunlicherweise – die Vergänglichkeit bei Kunstwerken:
Denkbar, heute vielleicht gefordert sind Werke, die durch ihren Zeitkern sich selbst verbrennen, ihr eigenes Leben dem Augenblick der Erscheinung von Wahrheit drangeben und spurlos untergehen, ohne dass sie das im geringsten minderte. Die Noblesse einer solchen Verhaltensweise wäre der Kunst nicht unwürdig, nachdem ihr Edles zur Attitude und zur Ideologie verkam.
(Ästhetische Theorie)
Man kann das nachgerade als Aufforderung verstehen: Modisch sein! Was Hans-Rüdiger in Achtzigern war, das musst Du für die Jetztzeit sein! Oder mit Hegel: das Fließende, Reißende des Strömens der Zeit verstehen. Und damit sind wir bereits in einer Meta-Position, wo es wieder ruhiger zugeht.
Ansonsten ist eigentlich nur dem Hegel’schen Rat beizupflichten:
Werden daher fremde [gemeint sind ältere] dramatische Werke in Szene gesetzt, so hat jedes Volk ein Recht, Umarbeitungen zu verlangen. Auch das Vortrefflichste bedarf in dieser Rücksicht einer Umarbeitung. Man könnte zwar sagen, das eigentlich Vortreffliche müsse für alle Zeiten vortrefflich sein, aber das Kunstwerk hat auch eine zeitliche, sterbliche Seite, und diese ist es, mit welcher eine Änderung vorzunehmen ist.
Ein Plädoyer für’s Regietheater. Und so wird denn auch in Bayreuth auf der Bühne geschissen, Hasen verfaulen und Video kommt zum Einsatz; nur: die Musik bleibt hingegen bis auf ein paar Winzigkeiten (Phrasierungen, Tempi und Dynamiken) völlig unangetastet, also: heilig.
Darum sei die bekannte Marx’sche Sentenz leicht abgewandelt anbeigestellt:
Die Musik wird immer nur verschieden interpretiert; es käme aber darauf an sie zu verändern.
Wieso gibt es kein Regietheater in der Musik? Wieso wird Hans-Rüdiger in der Musik nicht neu frisiert, sondern bestenfalls etwas gekämmt? Doch, es gibt das Regietheater in der Musik, aber ganz woanders: im Remix.
Musik für Schreibmaschine / Computertastatur
Diesen Freitag wird in Oslo eine gänzlich neue Version meiner untitled performance #3 uraufgeführt, ein Auftrag von Ny Musikk, mit dem Ning Ensemble. Wie schon in #1 spielen die Musiker auf einer Computertastatur. Am Vormittag werde ich im Goethe-Institut eine Einführung in das Stück machen und dafür etwas in die Geschichte zurückgehen, was die Benutzung von Schreibmaschine und Computertastatur in der Musik angeht.
Basislektüre für alle medientheoretisch Interessierten ist hier natürlich das „Typewriter“-Kapitel aus Friedrich Kittlers Buch Grammophon, Film, Typewriter. Kittler holt weit aus und zeigt die Genese des technischen Mediums auf – unter anderem referiert er Nietzsche, der sich kurze Zeit mit einer Schreibmaschine versuchte, was ihn vielleicht zu dem berühmten Satz veranlasste: „Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.“
Was meine Recherchen in der Musik erbrachten (vielen Dank an alle Informanten auf Facebook und Twitter!):
-Der Futurist Luigi Russolo imitierte auf dem Klavier die Schreibmaschine
-Erik Satie verwendete 1917 in dem Ballett Parade, möglicherweise von den italienischen Futuristen angeregt, eine Schreibmaschine
-Paul Hindemith gebraucht in einer Szene der Oper „Neues vom Tage“ eine Schreibmaschine
-Krysztof Penderecki: Fluorescences
-Mason Bates: B-Sides
-Leroy Anderson’s The Typewriter ist natürlich DER Klassiker, vor allem dank Jerry Lewis
-In John Cages „Songbook“ gibt es eine grafische Partitur für verstärkte Schreibmaschine
-Es gibt von John Cage ein Typewriter Piece
-Robert Nasveld: Preparation for Coma von 1974 für Bassklarinette und Schreibmaschine
-Olga Bochikhina: SIGNature
-Sergej Newski: Bastelmusik II
-Moritz Eggert: Melodie 1.0 (Schreibmaschinentrio)
-Jan Trützschler von Falkenstein: Apparaat 3
-Das Boston Typewriter Orchestra
Auf Platz zwei steht Moritz Eggerts „Symphone 1.0 (Concerto Grosso)“ für 12 Schreibmaschinen, die Spitzenposition hat Rolf Liebermann mit Les Echanges für 156 Schreibmaschinen inne!
Und aus dem Pop:
-Cornelius: Typewriter Lesson
-Bo Katzman Gang: I’m in Love with my Typewriter
Die Schreibmaschine ist heute natürlich vom Computer überholt. Nun wäre also Musik für Computertastatur dran. Viel habe ich allerdings nicht gefunden. Die Tastatur ist insofern etwas anderes, als sie nicht derart sonore Klänge erzeugt wie die alte mechanische Schreibmaschine; dafür kann sie als Controller alle nur erdenklichen Computerklänge ansteuern. Natürlich könnte man jetzt all die Laptop-Musicians nennen, aber ich meine doch den Gebrauch der Computertastatur in expressiverer Weise.
Außer meinen eigenen Arbeiten konnte ich nur in Erfahrung bringen:
-Nan Zhang hat 2003 eine Performance mit verstärkter Computertastatur gemacht
-Francesco Filidei hat 2007 mit dem Ensemble Recherche bei den Donaueschinger Musiktagen u.a. auch eine Computertastatur verwendet
-Niklas Seidl gebraucht in „Bottichkulturen“ eine Computertastatur
-Ewan Stefani hat eine Installation mit einer Computertastatur gemacht (Fotos)
Die filmische Bemächtigung der Thematik ist als Film-im-Film bereits 1970 dieser indischen Produktion gelungen:
Hegel über Regietheater
Werden daher fremde [gemeint sind ältere] dramatische Werke in Szene gesetzt, so hat jedes Volk ein Recht, Umarbeitungen zu verlangen. Auch das Vortrefflichste bedarf in dieser Rücksicht einer Umarbeitung. Man könnte zwar sagen, das eigentlich Vortreffliche müsse für alle Zeiten vortrefflich sein, aber das Kunstwerk hat auch eine zeitliche, sterbliche Seite, und diese ist es, mit welcher eine Änderung vorzunehmen ist.






