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Wozu Fiktion?

In der (print-) Süddeutschen Zeitung vom 12.3.2012 steht ein interessanter Artikel von Burkhard Müller, worin dieser moniert, dass die (deutschen) Schriftsteller heute nur noch recherchierten und ihre eigene Biographie ausbeuteten, statt auch mal etwas zu erfinden (und auch die FAz widmet sich aktuell dem Thema).

Ich fühle mich da direkt angesprochen, habe ja schon oft postuliert, dass man das Rad nicht neu zu erfinden bräuchte („Komponieren heißt, ein Instrument klauen“), dass es ethischer sei, auf dem Vorhandenen aufzubauen statt sich selbst etwas vermeintlich Eigenes aus den Fingern zu saugen, dass Phantasmagorien solipsistisch seien und referenzlose Texte überheblich, dass man ja schon in eine existierende Welt hineingeboren würde usw.

Wenn ich etwa in den aktuellen Musik-Konzepten über Mathias Spahlinger davon lese, dass es Spahlinger um die Zersetzung von Ordnungen zu tun ist, was zB derart geschieht, dass zu Beginn des 4. Satzes der „farben der frühe“ eine Skala c’-h-a-gis gesetzt ist, die dann aufgelöst wird (Seite 34ff), dann kommt mir gleich in den Sinn: Warum so eine abstrakte Selbst-Setzung zer-setzen? In diesem Medium (atonale chromatische Tonhöhen) ist es ja kein Kunststück, kein Stein auf dem anderen zu lassen. Warum dekonstruiert er keinen kapitalistischen Pop-Song? Und ebenso lese ich lieber literarische Tagebücher und Essays als Romane, mag Dokumentationen oft lieber als Spielfilme und finde Malerei meist langweilig, weil willkürlich – die Leinwand ist ja für die Farbe gar kein Widerstand.

In der Musik nennt man diese Ästhetik „Autonome Musik“ – Musik, befreit von einer Funktion, Musik, die sich ein Medium geschaffen hat, das in sich keinen vorgegebenen, ewig-gültigen Gesetzen unterworfen ist, wo keine vorgegebenen Zwänge herrschen und alles frei kombinierbar ist. Spahlinger sagt gerne, dass wir ja im Alltag nicht ständig zB an der Bedeutung der Wörter zweifeln, sondern sie einfach verwenden – „nur sonntags sozusagen, als kunst und philosophie wird der autoreflexive charakter der sprache inhaltlich.“ (aus einem Vortrag 2001). Und genau das möchte ich und wohl eine ganze Generation nicht (mehr). Das Konzert ist nicht Sonntag, nicht Ausnahmezustand, nicht abgesichertes Labor, nicht Spielwiese, wo man sich mal ganz der Autoreflexion zuwenden kann. Die Trennung wird gefährlich, wenn Autoreflexion nur noch in der Abschottung, im keimfreien Raum möglich wird.

Und so kommt es: Man darf zwar, Moderne und Postmoderne sei Dank, so unendlich Vieles in der Kunst heute unbescholten – ob tonal oder atonal, C-Dur ohne Ende oder Kratzen hinterm Geigensteg bis zum Exzess, c’h-a-gis und danach c’-h-ais-gis, man darf in den zentralen Parametern der Musik praktisch alles, aber stattdessen suchen Komponisten ausgerechnet die Bereiche auf, in denen ihre Freiheit doch wieder begrenzt ist, wo der schützende Rahmen wiederum Limit ist, wo erneut die Nicht-Autonomie diktiert, wo man Sachzwängen ausgesetzt ist: Feldaufnahmen werden transkribiert, Samples bestehender Musik werden geremixt, Low-Tech Hardware und billig-kommerzielle Software verwendet, so wie vergleichbar auf Theaterbühnen unbeholfene Laien statt der ausdruckssouveränen Schauspieler stehen und Schriftsteller sich an Gegebenes halten, statt sich in den freien Weiten der Imagination zu bewegen.

In der SZ veranschaulicht Burkhard Müller diesen – seines Erachtens – Mißstand anhand eines Vergleichs mit dem 19. Jahrhundert:

Heute wäre es ganz undenkbar, dass eine Neuerscheinung „Anna Karenina“, „Madame Bovary“ oder „Effie Briest“ hieße; man würde sofort der Namensgebung mißtrauen und sie für eine ohnmächtige Anmaßung der Willkür halten.

Erstaunt stellt Müller fest, dass gerade im 19. Jahrhundert das Subjekt doch unfrei gewesen wäre, von Klasse, Weltanschauung, Region, Erziehung usw. eingeengt, während heute dagegen die große Zeit des Individuums sein müsste, wo all das nicht mehr so dominant das Leben bestimmt.

Dieses Paradox ist aber just der Grund. Karl May erfand seine Wildwest-Geschichten im Gefängnis, während die heutige Freiheit der autonomen Musik (c‘-h-a-gis!) eher eine „leere fröhliche Fahrt“ (Kafka) zu sein scheint. Und darum sucht man lieber Halt im Materialismus, an realen Grenzen, an den Normen des Faktischen, statt dass man die unendlich vielen Möglichkeiten mit Tonhöhen nutzt und genießt.

Die Freiheit („Autonomie“), die die Kunst hat, ist heute doch nur dann ein Wert, wenn damit an den realen Unfreiheiten gearbeitet wird. Eine schöne Empfehlung spricht der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich aus:

Der Künstler sollte lieber darüber nachdenken, wie er Sujets, die auch ein Wissenschaftler, Dienstleister oder Designer verfolgen mag, auf seine Art und Weise in Szene setzen kann. nur dann ist ihm die Freiheit, die ihm auferlegt ist, eine Chance.

(in: Gesucht – Kunst!, S. 64)

3 Kommentare

  1. Malte sagt:

    „Wer an langer Leine geht, nutzt seinen Spielraum selten aus“ fällt mir dazu ein. Natürlich ist der Wunsch nach dem „Erfundenen“ vollkommen legitim, aber in der Realität sieht das meistens sehr schnell sehr armselig aus. Das Not erfinderisch macht, sehe ich als anthropologische Grundkonstante, auch in der Kunst, und seien es selbst geschaffene Nöte und Grenzen. Oftmals sieht man auch erst durch die Grenzen, was dahinter liegt, bzw. das Interesse wird erst durch solche Geweckt. Wenn man „irgendwas“ tun soll, sind die meisten Menschen erschreckend unkreativ (fällt oft in Proben oder Impro-Ensembles auf!).
    Grüße
    Malte

  2. michael sagt:

    autonome kunst bedeutet, dass sie keinen extrinsischen zweck hat. das ist nicht zu verwechseln damit, dass ein künstler sich in zwänge begeben kann.

  3. Kreidler sagt:

    stimmt, das muss ich mal noch differenzieren.