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Der Low-Tech- und Retro-Eskapismus

Letzte Woche besuchte ich ein typisches Underground-Konzert der Berliner freien Szene. In einem leeren Ladenlokal in Friedrichshain fand man sich ein, zuerst eine Noise-Improv-Nummer, dann ein Performer, der auf einem Super-8-Projektor ‚spielte’.

Schon zu Beginn des Konzerts stand dieses kleine Monstrum von Filmprojektor ehrwürdig da, mit seinen Spulen, Schaltern und eingespannten Bändern. Die Performance bestand dann darin, dass die Maschine ständig an- und ausgeschaltet wurde, dabei permanent in der Geschwindigkeit von 1 Bild pro Sekunde bis 25 Bilder pro Sekunde variiert und das ausgegebene Bild mit Filterfolien und Linsen manipuliert wurde, dass ein kleiner Schirm die Projektion in verstellbaren Winkeln einfing, etc.pp., immer wieder wurde noch ein neues Register gezogen, eine kurzweilige halbe Stunde lang. Es war alles schön anzusehen, die Maschine ratterte, zuckelte und stockte expressiv, es ergaben sich immer wieder reizvolle Farben und Formen, der Rhythmus der Aktionen hätte etwas entschlossener sein können, aber egal.

Mich hat währenddessen etwas Grundsätzliches angefangen zu beschäftigen: Was würde der Performer wohl anstellen, wenn er statt dieser 40 Jahre alten Super-8-Maschine einen Beamer von 2012 vor sich hätte – wo es nicht dankbar 100 Orte am Gerät gibt, an denen man irgendwas mit einfachen Handgriffen manipulieren kann, sondern er nur diese aseptische Oberfläche hätte und sich mit der Fernbedienung durch die Menüs und Untermenüs hangeln müsste. Tja, das wäre eine Herausforderung. Eine ästhetische, performative Herausforderung der heutigen, noch ein bisschen mehr entzauberten Welt.

Es gibt eine regelrechte Low-Tech- und Retroanalog-Bewegung in der Neuen Musik. Da wird mit Kassetten, Megaphonen, Effektgeräten und Kinderkeyboards fröhlich hantiert, manchmal im Resultat ganz hübsch, im Einzelnen kein Problem, und man kann mit den Geräten durchaus Sachen machen, die nur mit ihnen möglich sind – also gut, dass sie gemacht werden! Aber bei der Häufigkeit, in der mir das seit einigen Jahren begegnet, frage ich mich dann doch, ob das nicht tiefere Gründe hat und was das eigentlich ausdrückt. Und ich finde diesen Ansatz dann doch im Grunde total unbefriedigend. Es beschleicht mich der Verdacht: Hier manifestiert sich ein Eskapismus. Es gibt das Bedürfnis in dieser Welt 2012, sich mit den (sehr monströsen) Strukturen von Google, Amazon, Smartphones und Überwachungskameras auseinanderzusetzen; das spüren viele Komponisten, fühlen irgendwie eine Notwendigkeit, Elektronik einzusetzen. Aber im nächsten Moment kommt der Rückzieher und sie flüchten sich wieder weg in die harmloseste, banalste Form von Elektronik, in die Welt von Spielzeug und analogem Kleinkram von vor 30 Jahren. Man macht es sich schnell wieder einfach. Sowohl die Komponisten, die was zum Rumfummeln haben und nicht lernen müssen, was ein Algorithmus ist (obwohl sie täglich die Sklaven von Google-Algorithmen sind), als auch die Interpreten, die keine teuren Interfaces besorgen und keinen Programmabsturz fürchten müssen. Es wird da eine Aura abgegriffen, eine gewisse Exotik des Vergangenen hereingeholt und der Nostalgie oder gar der „Infantilgesellschaft“ (Jelinek) gefrönt, das ist alles billig zu haben.

Ist man einfach logistisch überfordert, ist man ästhetisch der hypermodernen Welt nicht mehr gewachsen? Mit seinen eigenen Mitteln kommt kein Künstlerchen gegen diese Weltkonzerne an, fürwahr. Man kann sich Hilfe von Experten heranholen, dafür muss man wiederum das Geld haben. Es ist sehr viel Arbeit. Beispielsweise Stefan Prins‘ Generation Kill, das bei den diesjährigen Donaueschinger Musiktagen viel Beachtung erfahren hat, war in der Tat ein Overkill an Arbeit am Medium – 4 Laptops je mit Interfaces, 4 Beamer, 8 Webcams, die Spieler mussten Joysticks genau nach Partitur bedienen, eigens gebaute halbtransparente Paravans, Found Footage und Live-Videoremix, spezielle Beleuchtung, Choreographie, Live-Audioelektronik sowieso, ein gigantischer Max/Msp+Jitter-Patch. Aber hey, Kunst ist halt viel Arbeit. Ich wünsche mir, dass dieser Anspruch und dieses Ethos (ganz grundsätzlich, nicht nur bezogen auf Elektronik) präsenter werden.

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Aphorismen des Tages:

Sanfte Textartikulation Ordnung

Kulturreise Verdopplung

Spitznamen begannen Postulate

Metier wird ernst

Tote Rezipienten

Mischpult Brahms

Abstehende Situationen Buchstaben

2 Kommentare

  1. Timm sagt:

    spannendes Thema! Aber anstatt einen Eskapismus vorzuwerfen oder das Bedürfnis nach ‚irgendeiner Elektronik‘ in anderen Köpfen zu verorten (was sicherlich manchmal der Fall ist!), denke ich steht eine bestimmte Art der Ästhetik im Vordergrund. Gerade das mit-den-Händen-manipulieren statt irgendwelche idiotischen Kinect-Hüpforgien aufzuführen, die letzten Endes nur aus dem Grund bestehen „weil man es machen kann und irgendwie ja mehr ist als nur vor nem Laptop zu sitzen“ übt auf viele einen Reiz aus. Hinzu kommen Elemente des Circuit Bendings etc.
    Hier also nur auf eine Nostalgie zu verweisen weil man keine algorithmischen Prozesse nutzt halte ich für zu kurz gedacht und übertrieben progressiv.
    Außerdem macht es ja einen klanglichen UND performativen Unterschied ob man einen Sinuston aus einem alten analogen Sinus-Generator holt oder ihn digital erzeugt. Es ist eben eine Frage der Ästhetik.
    Und nein, ich möchte hier trotzdem keinen Relativismus betreiben.

    Viele Grüße
    Timm

  2. Google „komponieren“ – das wäre in der Tat eine reizvolle Aufgabe, keine Ahnung, wie man sie angehen sollte. Jedenfalls spielte „Reduktion von Komplexität“ wohl eine Hauptrolle. Vielleicht besteht das Hauptproblem der Ästhetik heute in der Suche nach einer befriedigenden Art von Komplexitätsreduktion (womit wir wieder beim Problem des „Minimalismus“ wären). Die Postmoderne startete mit der Diagnose: „Die Welt ist unlesbar!“ und entwickelte daraus ihre erfolgreichen Strategien: Dekonstruktion, Ironie, Apotheose der Pluralität. Die heutige Diagnose lautet: „Die Welt ist undarstellbar!“ Aber welcher „ästhetische Kompressionsalgorithmus“ wäre der richtige, um hieraus Kapital zu schlagen? „Minimalismus“, wie ich ihn versuche, birgt ja immer die Gefahr, tendenziös, steril oder gar läppisch zu werden – er macht es sich, im schlechtesten Fall, viel zu einfach und fällt dann zurecht unter dein Eskapismusverdikt. „Hyperkomplexität“ (Prins? Kreidler?) dagegen bildet ja evtl. reale Komplexität durchaus angemessen ab – mehr aber auch nicht. „Komprimiert“ im obenstehenden Sinn wird hier nicht, stattdessen wird Unübersichtlichkeit als Wert an sich gefeiert (oder etwa nicht?). So entkommt man aber der Postmoderne, sollte man ihrer denn überdrüssig sein (wie ich), nicht.