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John Cage. Der totale Avantgardist

Heute wäre John Cage 4 Minuten und 33 Sekunden alt geworden.

Fürs Feuilleton einer bekannten Berliner Zeitung sollte (u.a.) ich einen Text darüber schreiben, was Cage einem Komponisten heute bedeutet. Das Projekt wurde leider kurzfristig von der Redaktionskonferenz abgesägt, aber egal, dann kommt er eben hier.

 

Der totale Avantgardist

Ausgerechnet zum lapidaren hundertsten Geburtstag wird er gefeiert, er, dessen Werke Titel wie 34’46.776″, 31’57.9864“, 26’1.1499″ oder auch 0’00“ tragen. Was für ein schlechtes Stück wäre sein berühmtestes, wenn es nicht 4 Minuten und 33 Sekunden, sondern 5 Minuten hieße! Wie dem auch sei, die meisten Aufführungen kann man sich gar nicht anhören, die Musik klingt schrecklich staubig und dauert quälend lang. Dabei ist er einer der Größten, auch für mich.

Er war Performer, Konzeptkünstler und Multimediakünstler, als diese Begriffe noch lange nicht existierten. Er war der unschönbergischste Schönbergschüler, überhaupt hatte er praktisch keine musikalischen Vorbilder. Darin ist er mir ein Vorbild. Es ist richtig so, dass seine Musik nicht anhörbar ist, ich bin ihm dankbar für diese Unerträglichkeit, denn trotzdem merke ich: Ich bin eben zu schwach. Sich dumm fühlen ist auch ein Erhabenheitsgefühl. Zufall, Cages Prinzip, kann ja aufgefasst werden als Undurchschaubarkeit aller beteiligten Kräfte. Wären wir nur viel aufmerksamer und viel intelligenter, wir könnten voraussagen, wie der Würfel fällt; wären wir viel geschickter im Wurf, wir könnten ihn beherrschen. Aber so kommt es, dass erst nach Jahren Dieter Schnebel entdeckt, welche Summe die 4 Minuten und 33 Sekunden, die einst als Dauer für das Nicht-Stück erwürfelt wurden, ergeben: 273 Sekunden, just wie der absolute Temperaturnullpunkt bei -273 Grad Celsius. Der Nullpunkt der Musikgeschichte, er hat sich selbst den besten Namen gegeben.

Cage hat das Denken über Musik revolutioniert, als Macher durch und durch, als Bastler, Aufführender und Vortragender. Wahrscheinlich sind es bei aller Radikalität doch die Mischungen, die funktionieren: Er quälte das Publikum und war zugleich der freundlichste Mensch, er war Anarchist und forderte diszipliniertestes Musizieren, das Hauptinstrument des Revolutionärs war, wie bei den Alten, das Klavier, selbst wenn es nicht gespielt wurde – 4’33“ ist ein Klavierstück.

Mittlerweile gibt es von dem stillen Stück über tausend Mitschnitte auf YouTube, von der Blockflötenversion bis zum großen Orchester; Harald Schmidt und Helge Schneider haben es aufgeführt, eine vielbeachtete Facebook-Initiative versuchte, das Werk zu Weihnachten auf Platz eins der Charts zu hieven. Er ist in der Popkultur angekommen. Sein Stück Organ²/ASLSP (as slow as possible) wird seit dem Jahr 2001 in der Halberstadter Sankt-Buchardi-Kirche mit der Dauer von 639 Jahren aufgeführt. Das totale Largo, bei dem jeder Tonwechsel ein Partyanlass ist (auf YouTube zu sehen). Da feiert das Denken ein Fest – nur anhören kann man sich die Musik nicht wirklich.

Originale kann man kopieren, Originalität nicht. Wollte man Cage fortsetzen, hieße das, alles anders zu machen als er, denn noch stiller, noch zufälliger, noch inklusivierender und noch länger zu-lange kann man nicht komponieren. Oder man muss konsequent die neuesten Medien nutzen, so wie Nam June Paik über den anderen Übervater sagte: Das einzige, was Duchamp nicht gemacht hat, waren Videos, darum mache ich Videokunst. Jetzt wäre es also Zeit, das Klavier zu ersetzen.

Ein Kommentar

  1. Huflaikhan sagt:

    Schön gesagt. Prima Text.