erschienen in: Positionen 100 (September 2014)
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Mein tägliches Festival
Der Tag beginnt natürlich mit dem Einschalten des Computers, entweder das Smartphone im Bett, das Tablet oder der eReader auf der Couch, der große Rechner am Schreibtisch mit vier Monitoren oder für lange Videos das Heimkino – ein Laptop, angeschlossen an Beamer und Lautsprecheranlage. Jeden Morgen lese ich zur Information und Inspiration das halbe Internet durch.
Für mich, der ich als Jugendlicher noch auf Neue Musik im Radionachtprogramm warten musste, war es eine Sensation, als die ersten reinen Neue-Musik-Sender im Internet aufkamen, etwa sfradio aus San Francisco oder das Webradio der Deutschen Gesellschaft für Elektroakustische Musik (DEGEM). Mittlerweile gibt es Neue-Musik-Sender in vielen ästhetischen Schattierungen, das Arnold-Schönberg-Center beispielsweise betreibt ein Schönberg-Radio, und jeder Einzelne könnte heute seinen eigenen Radiosender auf laut.fm aufmachen – ließen sich nur die leidigen Rechtefragen klären.
Mittlerweile bin ich es nicht mehr gewohnt, das Radio nach der Uhr einzuschalten, und auch das Aufnehmen fühlt sich immer lästiger an. Wenn ich mir überhaupt etwas aus dem Fernsehen zu Gemüte führe, dann rufe ich es aus der sendereigenen Mediathek ab, zu einem selbstbestimmten Zeitpunkt. Dass die Sendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aber nur sieben Tage lang online nachzuhören bzw. -sehen sind, obwohl wir alle dafür bezahlt haben, ist ein Skandal. Noch schlimmer ist es bei den Neue-Musik-Sendungen: Von allen ARD-Anstalten stellt nur der SWR sein wöchentliches Neue-Musik-Feature überhaupt eine Woche lang ins Netz, bei allen anderen verschwindet es sogleich wieder – von den Schätzen, die seit eh und je im Archiv vergammeln, ganz zu schweigen. Könnten nicht 5% all der „Vermittlungs“-Anstrengungen für Neue Musik darauf verwendet werden, diesen offenkundigen Mißstand zu ändern?
Früher hatte ich noch Tausende CDs besessen, dann war es eine Festplatte mit tausenden Soundfiles, bald brauche ich hoffentlich gar nichts dergleichen mehr, denn all das ist online vorhanden. Es gibt beispielsweise den YouTube-Kanal stachinsky mit Hunderten an Stücken der Neuen Musik oder den Kanal Score Follower, bei dem auch die Partituren zeitgleich mitanzusehen sind (man kann YouTube-Videos aber auch herunterladen, zB bei offliberty.com, auch die in Deutschland gesperrten). Und so höre und sehe ich täglich im Netz beispielsweise Performances aus Russland, Experimentalfilme aus Japan, Dokumentationen über die Undergroundmusikszene in Kanada, usw. Ein E-Book aus einem Archiv in Kalifornien ist näher als das Bücherregal an meiner Zimmerwand. Kennt nicht jeder den beglückenden Moment, wenn er eine vor fünfundzwanzig Jahren im dritten Programm halb gesehene und seither nie wieder ausgestrahlte, hochinteressante Sendung nun vollständig auf YouTube entdeckt? Schaffen es schon die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nicht, ihrem Bildungsauftrag nachzukommen, sollte es erste Bürgerpflicht sein, dass jeder seine alten VHS-Kassetten digitalisiert und der Menschheit auf YouTube übergibt. (Da bin ich froh, dass YouTube kommerziell erfolgreich ist, wenigstens hier ist die Kultur einmal nicht notorisch von Kürzungen bedroht.)
Sucht man auf YouTube nach Klassikern, dann finden sich von John Cages 4’33’’ beispielsweise über tausend Videos. Cage ist in der Popkultur angekommen! Fantastisch!
Ebenso sensationell ist die Website Ubu.com: Das ist das wichtigste Museum für Medienkunst, ein riesiges Archiv des 20. und 21. Jahrhunderts. Der Kurator, Kenneth Goldsmith, schert sich nicht ums Urheberrecht, immer in der Hoffnung, dass man einsieht, dass der kulturelle Wert und Nutzen dieses Archivs wichtiger ist, als die Ansprüche eines Einzelnen – und hat damit Erfolg.[1]
Für mich ist all das eine Revolution, eben, weil ich noch kannte, wie man in Telefonzellen mit Münzen oder Telefonkarten bezahlte, Tonbänder gespult oder in Bibliotheken Karteikarten benutzt hat, Kameras hatten vor fünfzehn Jahren noch einen Film, den man anschließend zum Entwickeln bringen musste – mittlerweile unvorstellbar. Für die heutige Jugend ist das wahrscheinlich überhaupt keine Revolution, sondern Selbstverständlichkeit. Nun habe ich schon manchmal ältere Leute sagen hören: Aber durch diese leichte Verfügbarkeit verliert die Musik doch an Wert. Die gespannte Erwartung auf die nächtliche Sendung, der Aufwand des Mitschneidens, die teuer erstandene CD, macht es das nicht viel wertvoller? Dazu kann ich nur sagen: Unsinn. Johann Sebastian Bach ging noch zu Fuß nach Lübeck, um Buxtehude Orgel spielen zu hören. Das ist schön, das ist romantisch, und Bach schrieb die beste Musik. Aber dennoch würde heute niemand auf die Idee kommen, den Erlebniswert der Donaueschinger Aufführungen dadurch zu steigern, dass er zu Fuß dorthin pilgert. Keiner wird Aspirin, die Heizung, den Computer oder motorisierte Fortbewegungsmittel wieder ersatzlos aus seinem Leben streichen, selbst wenn man mutmaßen könnte, die Menschen seien vor zweitausend Jahren glücklicher gewesen. Zwar haben wir durch das Delegieren an Maschinen Fähigkeiten wie das Korbflechten, das Beackern mit Ochs und Egge oder das Stopfen eines Strumpfs verlernt; aber bislang sind die freigewordenen Kapazitäten immer wieder neu belegt worden. Schließlich gibt es hienieden noch genügend Aufgaben, so dass wir über jede Entlastung froh sein können – ja, froh sein müssen. Und für wen Beethoven durch Äußerlichkeiten erst Wert zuwächst, der kann nicht hören.
Alle möglichen Tutorials lassen sich im Netz finden, die immer besser werdende Wikipedia sowieso, und ebenso Vorträge zu allen möglichen Themen (wie zB die TED-Reihe) – nur leider finde ich zur Neuen Musik noch fast nichts. Wenigstens der Hamburger Verband für aktuelle Musik (VAMH) lädt regelmäßig Komponisten zu Vorträgen ein und stellt Mitschnitte davon dann auch online (vimeo.com/vamhpresentations/videos); ich bin überzeugt, durch diese einfache Maßnahme wird die üblicherweise geringe Besucherzahl vor Ort um ein Beträchtliches ergänzt. Ich habe sämtliche Vortragsvideos mit Gewinn gesehen. Die Darmstädter Frühjahrstagung für Neue Musik wurde dieses Jahr endlich auch live gestreamt und anschließend im Netz archiviert, dank der Plattform voicerepublic.com, die sich als Dienstleister für solche Aufgaben versteht – gegründet neben anderen vom Komponisten Patrick Frank.[2] Ich möchte allen Organisatoren von Symposien sehr ans Herz legen, diese zu nutzen, wenn sie wirklich wollen, dass ihre Veranstaltung nachhaltige Wirkung hat.
Was Blogs betrifft, gibt es englischsprachige Seiten wie createdigitalmusic.com, wo über technische Audio-Neuerungen berichtet wird. Es scheint ohnehin so zu sein, dass die Blogkultur in Ländern wie den USA und Russland weiter gediehen ist; das liegt vielleicht daran, dass die Entfernungen dort viel größer sind, also die Fernkommunikation notwendiger ist. In Deutschland gibt es nur sehr wenige Blogs zur Neuen Musik, die regelmäßig Inhalte veröffentlichen: das Bad Blog of Music, das Blog Weltsicht aus der Nische von Stefan Hetzel und mein Blog – ja, das war’s auch schon, kaum zu glauben. Sonst wäre noch Lukas Hellermann von der Musikfabrik zu nennen, der auf Twitter fleißig zur Neuen Musik verlinkt. International hingegen gibt es neben vielen anderen atonality.net, renewable music, new music box, I care if you listen, the rambler, the rest is noise, sequenza21, sound morphology, networked new music review. Die Facebook-Diskussionen des Pianisten Ian Pace erfreuen sich bei der englischsprachigen Community regelmäßig einer immensen Beteiligung. Immerhin, das Portal der Neuen Musikzeitung ist eine Art Spiegel Online für Musik, und mittlerweile sind die Positionen und die Neue Zeitschrift für Musik online als ePaper zu erstehen. Bei mir haben sie dadurch einen neuen Käufer gewonnen, denn ich will schon lange nicht noch mehr Papier zu Hause haben.
In meinem Blog Kulturtechno bringe ich jeden Tag einen Beitrag mit einem Fundstück aus dem Netz, das sich mit Musik und Kunst, neuer Technologie und ihrer Politik beschäftigt, manchmal auch zu thematischen Specials, beispielsweise über Augenmusik oder Neuen Konzeptualismus. Mein eigenes, selbstkuratiertes Internetfestival, das man sich jeden Tag, das heißt im Alltag an seinen Computer holen kann. Dinge, die ich interessant finde, möchte ich gerne teilen („teilen“ im Sinne des englischen „to share“, nicht im Sinne von „to divide“). Das Blog hat täglich eine dreistellige Besucherzahl, das muss ein herkömmliches Festival erst mal schaffen. Man könnte es ein „Vermittlungsprojekt“ nennen; ich weiß, dass da auch viele Nicht-Insider vorbeischauen. So kann ich natürlich auch meine eigenen Werke dort veröffentlichen und habe gleich schon ein Publikum. Das führt dazu, dass Leute zu mir sagen: Ich komme nicht zum deinem Konzert, ich weiß ja, du wirst es später ins Netz stellen. Nun, das ist dann eben die Abwanderung ins Netz.
Es ist ja durchaus ärgerlich, dass es von wunderbaren Theatervorstellungen keine Videodokus auf YouTube gibt. Das soll nicht heißen, dass Theater stattdessen Film werden soll. Aber Bühnenaufführungen sollen auch dokumentiert werden. Es braucht filmische Ansichtsformen fürs Theater auf YouTube, genauso für Konzerte, die schließlich einen großen Aufwand bedeuten. Der normale Konzertsaal bietet zwischen 50 und 500 Sitze, Internetzugang haben derzeit rund 3.000.000.000 Menschen. Das Wesen von »flüchtiger Kunst« ist nicht mehr zu akzeptieren, schon gar nicht besteht darin eine eigene Qualität (– auch die Theatervorstellung wird mehrmals gegeben). Ein Mitschnitt ist besser als keiner, Aura hin oder her.
Des Weiteren wäre eine aktive Kunstkritik im Netz ein Desiderat. Es gibt so dermaßen viel weltweit, dass es Filter braucht, die finden, auswählen und zusammenstellen. Eine unabhängige Website mit Links zu aktuellen Neue-Musik-Sendungen ebenso wie zu ausgewählten Konzertmitschnitten, vielleicht mit Kommentar, für eine solche Initiative wäre es an der Zeit. Ein Fall für aufstrebende Musikwissenschaftler und die Siemens-Stiftung?
Nun weiß ich, dass manche Leute so viel Enthusiasmus, wie ich ihn hier verströme, nicht ertragen. Sie setzen derlei Begeisterung mit Naivität und ihren Skeptizismus mit überlegener Intelligenz gleich. Keine Frage, die digitale Massenüberwachung muss gestoppt, das Google-Monopol und die Apple-Abschottung beobachtet und die Ausbeutung von Bergwerksarbeitern in Afrika, die die für die Chipherstellung notwendigen Rohstoffe abbauen, ein Ende haben. Aber der Musikindustrie und den Notenverlagen weine ich keine Träne nach. Auch ich muss meine Miete bezahlen – es gibt Dinge, mit denen sich Geld verdienen lässt, und andere, mit denen kein Cent zu machen ist; Tonträger und Noten gehören heute eben zu letzteren. Neue Musik, die sowieso wesentlich von sogenannten Subventionen lebt, kann da nur gewinnen. Alles, was von der öffentlichen Hand oder Stiftungen finanziert wurde, jede Aufnahme, jedes Buch, jede Hochschulvorlesung, auch jede bedeutende Kompositionsskizze, sollte logischerweise umsonst im Netz zugänglich sein.
Das tägliche Festival des Internets wird immer mehr zu einer Größe in der Neue-Musik-Landschaft, und man darf gespannt sein, wie es sich weiterentwickelt, inwieweit sich auch hier Strukturen ausbilden werden und welche Relevanz ihm der Diskurs gibt. Für mich jedenfalls ist es eine beglückende Realität.
[1] Vgl. »Als das British Film Institute in den 90er Jahren begann, die englische Bevölkerung in die systematische Suche nach historischen Fernsehsendungen einzubeziehen (die Originalbänder waren, um Geld zu sparen, einfach überspielt worden), mussten die Sender zunächst ausdrücklich erklären, nachträglich keine rechtlichen Schritte gegen das illegale Mitschneiden ihrer Programme einzuleiten.« (Andreas Busche, Jäger der vorhandenen Schätze, in: taz vom 25.8.2011, http://bit.ly/pPiU1o.)
[2] Patrick Frank: Der Komponist als Entrepreneur, in: NZfM 01/2014, S. 36.