Skip to content
 

Sätze zur Guantánamo-Playlist

Im Jahr 2008 wurde dank der Menschenrechtsorganisation Reprieve der Weltöffentlichkeit bekannt, dass die USA im Gefangenenlager in Guantánamo Bay, einem Stützpunkt auf Kuba, außerhalb des US-Staatsgebietes und daher außerhalb der eigenen Justiz, Häftlinge unter anderem mit dem unablässig wiederholten Abpielen lauter Musik folterten. Die Liste der verwendeten Stücke findet sich online.

Die Guantánamo-DJs haben den Neuen Konzeptualismus verstanden.

Die Guantánamo-Disko ist die ästhetische Antwort auf die Ästhetik der brennenden Türme.

Die Guantánamo-Playlist vollendet Bernhard Langs Differenz/Wiederholung-Reihe und Ravels Bolero.

Die Guantánamo-Musik macht Unhörbares hörbar.

Die Guantánamo-Playlist ist neben Punk-Gebet von Pussy Riot das einzige relevante Musikstück der Neuen Musik der letzten Jahre.

Die Guantánamo-Disko steht in der Reihe der klassisch-modernen Ballettmusiken; das Frühlingsopfer des 21. Jahrhunderts.

Das einzige Musikstück, das nicht auf der Guantánamo-Liste steht, ist 4‘33“.

Die Guantánamo-Playlist ist das Komplement zu 4‘33“.

Spiele die Guantánamo-Playlist so leise wie möglich ab, dass du sie gerade noch hörst.

Die Kategorien Dissonanz, Geräusch, Struktur, Material sind beinahe obsolet.

Der wichtigste Parameter des Neuen Konzeptualismus ist die Lautstärke.

Spiele die Playlist ab, mit der Lautstärke 0.

Es bräuchte einen Mitschnitt des Guantánamo-Konzerts. Er sollte auf CD, Schallplatte und als Mp3 käuflich erworben werden können.

Alle außer den Gefolterten kennen die Guantánamo-Musik nur als Konzept. Ihre Unhörbarkeit für uns ist das Komplement ihrer Lautstärke im Lager.

Der Rahmen / die Form der Guantánamo-Musik ist das Gefängnis und die Insel.

Inversion der Sirenen, deren Musik lockt – die Folterer binden die Gefolterteten an, damit sie die Musik nicht fliehn; ihnen soll etwas entlockt werden.

Das Geständnis ist der Applaus samt Bravo-Rufe. „Er hat gesungen.“

Diese Sätze sind der Versuch, das Bekanntwerden der Guantánamo-Playlist zu konzeptualisieren.

 

Johannes Kreidler Januar 2015